Doping in der BRD – 1970er Jahre
Brigitte Berendonk: Der Sport geht über den Rubikon 26.2.1977
Bereits 1969 erregte Brigitte Berendonk mit einem Artikel in ‚die Zeit‘ über die Gefahren des Anabolika-Dopings viel Aufmerksamkeit, erntete aber auch heftigen Widerspruch:
>>> Berendonk: Züchten wie Monstren?
1976 nach den Olympischen Spielen in Montreal mit den vielen Anabolika-Fällen und den Manipulationsversuchen in der deutschen Mannschaft sah die streitbare ehemalige Hochleistungsathletin endgültig viele ihrer Befürchtungen bestätigt. Erneut fasste sie ihre Beobachtungen und Gedanken zusammen und scheute sich nicht zu provozieren.
Am 26. 2. 1977 veröffentlichte Brigitte Berendonk in der Süddeutschen Zeitung den Beitrag
Der Sport geht über den Rubikon
Hormon-Monster statt Athleten: Der Betrug an der ehrlichen Leistung.
Mit ihrer teils verdeckten, teils offenen Sanktionierung des Anabolika-Dopings haben sich deutsche Verbände und Sportmediziner endgültig dem internationalen Leistungskrieg um Rekorde und Medaillen ausgeliefert.
Brigitte Berendonk erlaubte die Veröffentlichung des Textes. Besten Dank.
Der Sport geht über den Rubikon
Vor fast zwei Olympiaden habe ich (in der Zeit vom 5. 12. 1969), noch unter dem Eindruck der Olympischen Spiele von Mexiko, auf den schon damals bei Männern und Frauen weit verbreiteten Betrug im Sport durch das Doping mit anabolen Hormonen hingewiesen. Dieser Aufsatz löste bei den Betroffenen, den Sportlern, Funktionären und Sportmedizinern, heftige Abwehrreaktionen, aber nur wenig Betroffenheit aus. Ein Teil dieser Leute bestritt in scheinheiliger Empörung den Wahrheitsgehalt meiner Feststellungen oder bezeichnete ihn zumindest als „maßlos übertrieben.“ Dabei wurde vielfach bis zur Albernheit gelogen. Andere wollten das alles grundsätzlich nicht hören und sprachen von „Nestbeschmutzung“, „Verunglimpfung der eigenen Disziplin“ und ähnlichen Schandtaten mehr. Und eine dritte Gruppe, darunter vor allem die Sportmedizinmänner, gestand zwar die Tatsache selbst – zögernd, sehr zögernd – ein, wollte jedoch zugleich die Öffentlichkeit davon überzeugen, dass diese Mittelchen medizinisch harmlos und sportethisch gesehen doch kaum mehr als ein Kavaliersdelikt seien.
Seitdem ist die Diskussion hierzu zwar immer mal wieder aufgeflammt, das Problem wurde aber von den verschiedenen sportpolitischen Gruppierungen und dem größten Teil der Sportpresse recht erfolgreich verdrängt. Der Betrug selbst ist aber eher noch größer geworden, die verabreichten Hormonmengen nahmen ebenso zu wie die Kenntnisse um ihren ‚optimalen‘ Einsatz. Die Hormon-Monster mit ihren charakteristischen Merkmalen wie den überdimensionalen Stickstoff- und Wasser-Retentions-Muskeln, der Anabolika-Akne und dem knörenden Frauenbaß sind uns allen inzwischen vertraute Gestalten geworden; selbst Meldungen über Selbstmorde, Selbstmordversuche, Amokläufe und sexuelle Ausbrüche von Anabolikaabhängigen sind längst Routine.
Wir haben ferner gesehen, wie Böcke zu Gärtnern gemacht wurden: Der deutsche Leichtathletikverband zum Beispiel bestellte ausgerechnet jenen Erich Klamma zum (bekanntlich wenig erfolgreichen) Nationaltrainer der Sprinter, der selbst bei den Deutschen Meisterschaften 1970 öffentlich des Dopings‘ mit einem Aufputschmittel überführt worden war. Der gleiche Verband betraute jenen Trainer Christian Gehrmann mit der Erziehung junger Werfer und Werferinnen, den der schwedische Diskusstar und Anabolikaexperte Ricky Bruch öffentlich als eine der Hauptfiguren der Anabolikaszene bezeichnet hat. Bei ihm verzeichnet nun die Kugelstoßerin Eva Wilms einen so überraschenden Leistungsanstieg wie Stimmniedergang. Ich weiß wovon ich rede: Ich habe in der Tat die Stimme meiner früheren Sportkameradin kürzlich nicht mehr wiedererkannt.
Wir haben inzwischen auch erlebt, wie Athleten gleich massenhaft Bekenntnisse zum Anabolikadoping ablegten. Eine der makabersten Szenen der nun angebrochenen Endzeit des Amateursports ist sicher jenes Fernsehinterview, das der gutmütig-ehrliche Olympiafünfte im Hammerwerfen Walter Schmidt aus Lahr bzw. Darmstadt in dem ARD-Dokumentarfilm „Hormonathleten“ von Helmut Fritz gab. Inmitten von Kanülen und Schächtelchen, Eiweißpulvern und Pillen demonstrierte Schmidt, wie sich der Athlet von heute die Anabolika-Depot-Präparate selber‘ spritzt – ein Bild wie bei den Heroinschießern, finanziert durch die Deutsche Sporthilfe. Wir haben auch das authentische Dopingprogramm des Diskuswurf-Olympiasiegers MacWilkins (USA) gesehen, in dem die Drogen gleich dutzendweise miteinander kombiniert wurden.
Ich habe erlebt, wie ein nettes rumänisches Mädchen namens Argentina Menis (Diskuswurf Silbermedaille in München 1972, Sechste in Montreal) sich nach den Studentenweltmeisterschaften von Turin 1970 während weniger Wintermonate bis zur Unkenntlichkeit in eine Muskelmasse mit ödematösen Randerscheinungen verwandelt hat und seitdem nicht mehr gewagt hat, bei Wettkämpfen die Trainingshose auszuziehen. Obwohl ich ja schon einiges gewohnt war (ich gehörte schließlich zu jener Generation von Werferinnen, die noch gegen das sowjetische „Intersex“ Tamara Press antreten mußten), bin ich doch tief erschrocken, als ich im Wettkampf erstmals gegen jenen bulgarischen Hormon-Zwitter mit Schmerbauch und Schnurrbart namens Wergowa (Silber in Montreal) und Stojewa (Bronze in München) antreten sollte. Mich und viele andere Sportlerinnen hat es eigentlich nie interessiert, mich mit Elefanten an Stärke zu messen: Ich möchte mich mit meinesgleichen vergleichen und nicht mit durch Präparate gezüchteten Zwitter-Gestalten.
Für mich und viele im Westen entfällt natürlich auch eines der am häufigsten gehörten Argumente von Sportlern und Sportlerinnen des Ostblocks: „Aber dann komme ich doch nicht mehr raus!“ Und wir haben uns in Montreal auch jenen zynischen Satz aus dem Handbuch des Sportfaschismus anhören müssen, mit dem ein DDR-Sportfunktionär den eigenartigen Baßchor seiner medaillenbehängten Schwimmerinnen kommentierte: „Die sollen ja schließlich schwimmen und nicht singen.“ Hier hat die DDR in der Tat das „Schöne Neue Welt“-Niveau von Aldous Huxley längst erreicht.
Der Wettkampf der „Spritzenathleten“
Während viele Jahre lang die Ergebnisse der ersten, noch zögernd, wissenschaftlich unzureichend und politisch zartfühlend durchgeführten Bestimmungen des Anabolikagehaltes von Athleten am Wettkampfort (also nicht Stichproben während der Trainingsphase, wie ich sie bereits 1969 als einzig sinnvolle Maßnahme gefordert hatte) von den ‚Sportverbänden noch geheimgehalten wurden bzw. ohne Konsequenzen blieben, ließ sich bei den Olympischen Spielen von Montreal die weltweite Verseuchung des Sports mit Dopinghormonen nun doch nicht mehr ganz vertuschen. Ein paar „Dumme“, die ihr Doping nicht rechtzeitig auf Präparate umgestellt hatten, die mit den dort eingesetzten unzureichenden Methoden nicht erkannt werden konnten, wurden erwischt. Sogar eine ‚Reihe von Medaillen wurden aberkannt. Bei den Gewichthebern wurde gar eine neue Krankheit, das „Anabolika-Entzug-Syndrom“, festgestellt, dessen erschreckendstes – und für Öffentlichkeit und Sportpresse anscheinend unerträglichstes – Symptom eine verminderte Hebeleistung ist.
Kurzum, Montreal 1976 war nun auch für den „durchschnittlichen Sportinteressierten“ als Wettkampf von „Spritzenathleten“ erkennbar, und entsprechend war die Reaktion, zumindest in den Nicht-Ostblock-Ländern: Sportarten, bei denen Betrug und Doping zur Regel wird, werden als korrumpiert angesehen und verlieren letztlich das Interesse der Sportjugend. Und wenn der arme Sportfan erst wirklich wüsste, wer da alles Anabolika genommen hat (bis hin zu den Sprinterinnen), würde er wohl ganz verstört sein. Besonders verwirrt waren nach Montreal die bundesdeutschen Sportmediziner (die Bezeichnung „Ärzte“ ist hier, wie ich noch darlegen werde, wohl nicht mehr angebracht): Soll man nun „volle Pulle“ mitspritzen? Was soll man wem wann spritzen? Und wer liefert uns eine anständige Spritzphilosophie? Denn ohne eine solche und ohne den Segen seiner Kollegen spritzt ein anständiger deutscher Sportmediziner ja nur ungern.
Offensichtlich ist hier nun auf dem Freiburger Treffen der bundesdeutschen Sportmediziner im Oktober letzten Jahres der Rubikon überschritten worden: Man hat einen Kurs bekannt gegeben, eine entsprechende Sprachregelung entwickelt und Doping in jeder nicht leicht nachweisbaren Form (so pragmatisch wird das inzwischen gesehen) als Mittel zum Zweck – und das heißt vor allem: Anschluß an die DDR – abgesegnet. Auch die Sportorganisationen und Sportmediziner anderer westlicher Staaten, besonders der USA, haben den kritisch-medizinischen und ethischen Ballast abgeworfen und öffentlich erklärt, daß sie von nun an alle – auch unerlaubten – Mittel im Sportkrieg gegen den Ostblock einsetzen wollen.
Sechs falsche Thesen und ihre Widerlegung
Angesichts der gegenwärtig in der Presse erkennbaren Verwirrung der Begriffe und des Wustes von Lügen und falschen Behauptungen möchte ich heute noch einmal einige Dinge zurechtrücken. Ich tu dies als Sportlerin, die jahrelang dem Betrug wie auch den sich daraus ergebenden menschlichen Katastrophen zusehen mußte. Ich spreche aber auch als Sportlehrerin, die es für ihre Pflicht hält, junge Menschen vor dieser Hormonmanipulation zu bewahren. Dabei war ich und bin ich mir im klaren darüber, daß das Patt des internationalen Sportbetruges (totales Doping auf beiden Selten) nun wohl bald erreicht ist. Wahrheit muß aber Wahrheit bleiben, vor allem in diesen Tagen der Demaskierung der opportunistischen Sportmedizin. Im einzelnen geht es um sechs Thesen, die ich alle für falsch halte.
Falsche These Nr. 1: Es nehmen ja sowieso alle Athleten Anabolika.
Eine Reihe von Athleten hat solche Mittel nie genommen und würde eher mit dem Leistungssport aufhören, als sie zu benutzen. Hut ab vor jenem hochtalentierten Juniorenmeister, der sofort die Kugel beiseite legte, als er sah, daß in seiner Übung Spitzenleistungen ohne Anabolika nicht mehr möglich waren. Jeder Athlet, der zu solchen, inzwischen offiziell verbotenen Mitteln greift, tut das, um sich gegenüber seinen Gegnern einen unfairen Vorteil zu verschaffen und ist daher ein Betrüger. Es steht heute fest, dass viele, wenn nicht sogar die meisten Rekorde und Medaillen der letzten 20 Jahre – zumindest bei den Werfern, Stoßern und Gewichthebern – von Betrügern erzielt worden sind: Die Reihe der inzwischen geständigen Betrüger reicht von Al Oerter bis Ricky Bruch und MacWilkins. Betrüger als umjubelte Idole auf dem Ehrentreppchen – erklären Sie das einmal einer Schulklasse!
Falsche These Nr. 2: Wenn jemand die Einnahme solcher Mittel abstreitet, dann muß ihm geglaubt werden.
Die meisten der Athleten, die heute den Anabolikagebrauch zugeben, haben zunächst gelogen. Das ist bei einem aktiven Sportler auch verständlich, denn er riskiert schließlich eine Wettkampfsperre und die Verachtung durch seine Umwelt. (Ostblock-Athleten haben sowieso Redeverbot oder sind gleichsam zur Lüge verpflichtet.) Überzeugend wirken da auch nicht eidesstattliche Erklärungen (wie sie Eva Wilms einem Journalisten zunächst anbot, dann aber doch nicht leistete); überzeugend ist die Gaschromatographie und sonst gar nichts. Überzeugend ist vor allem die Erklärung, sich jederzeit für eine Probenentnahme zur Verfügung zu stellen, wie das im letzten Jahr der Wetzlarer Sportjournalist und begeisterte Kugelstoßer Gerhard Steines tat, der dann auch prompt weit hinter seinem Ziel, der Norm für die Montreal-Teilnahme, zurückblieb.
Falsche These Nr. 3: Anabolika können nicht wirkungsvoll nachgewiesen werden.
Selbst die bisher angewandten Nachweismethoden waren ja in der Lage, krasse Fälle von Hormon-Doping nachzuweisen (siehe Montreal). Kombinationen von Gaschromatographie, Radioimmuntests und direkten und kompetitiven Rezeptor-Bindungstests würden nicht nur die Erfassungsgrenze weiter herunterdrücken sondern auch bislang nicht identifizierte Androgene erfassen können. Vor allem aber wäre die Stichprobenentnahme und Kontrolle während der Trainingsperiode wirksam, eine Kontrolle, die – gemessen am sonstigen Aufwand im Leistungs – keineswegs besonders teuer oder kompliziert ist. Da aber genau hier die sicherste Methode zur Erfassung des Übels liegt, werden entsprechende Vorschläge von den betroffenen Verbänden abgelehnt werden. Vor allem die Sportverbände der DDR, der Sowjetunion, Bulgariens, Polens usw. werden solche Kontrollen am Trainingsort zurückweisen. Dennoch bleibt es richtig, dass Anabolikagebrauch sehr wohl nachgewiesen werden kann, wenn man das nur wirklich will.
Falsche These Nr. 4: Anabolika werden sowieso lange vor dem Wettkampf abgesetzt.
Diese häufig – und im Hinblick auf die Nichtsnachweisbarkeit scheinbar bedauernd – geäußerte Kunde aus Sportmedizinermund stimmt nicht mit der Praxis überein. Selbst ein- bis zweiwöchige Unterbrechungen führen zum Beispiel bei den meisten Gewichthebern und Werfern zu beträchtlichen Leistungsabfällen. Daher pokert der betrügende Athlet entweder und riskiert eine Entdeckung (wie es einigen in Montreal geschah), oder er stellt auf Präparate um, die mit den bisher eingesetzten Methoden nicht erfaßt werden, die aber sehr wohl mit den oben angegebenen kombinierten Erfassungsmethoden bestimmt werden können. Bei den dabei angewandten Mitteln wird übrigens vielfach der geschlechtsverändernde Effekt kaltschnäuzig mit in Kauf genommen.
Falsche These Nr. 5: Die Einnahme von Anabolika ist gar kein Doping.
Diese in der Bundesrepublik zeitweise von Professor Keul aus Freiburg vertretene Meinung (an anderer Stelle hat er auch schon anderes geäußert) ist völlig falsch, wenn man den sportlichen Wettkampf als einen Vergleich von Leistungen sieht, die mit natürlichen Mitteln erzielt werden und erzielbar sind. Medizinisch gesehen ist als Doping nach wie vor jede bewußt zum Zwecke der Leistungssteigerung durchgeführte Aufnahme von nicht zur normalen Nahrung gehörenden Substanzen bzw. von physiologischen Substanzen auf unphysiologischem Wege anzusehen. Somit ist die Aufnahme von Anabolikakapräparaten ebenso Doping wie die Injektion Vitaminen. Sport beruht eben auf der Bona-fide-Annahme einer natürlichen Entstehung der Leistung. Ein Leistungswettkampf der Arzneimittelfirmen, in dem die Athleten als Substrate und Medien des Pharmakavergleichs benutzt werden, ist nicht nur sportlich uninteressant, sondern auch von jedem denkenden Sportler, Sporterzieher oder Arzt abzulehnen. Daß der Deutsche Sportbund (DSB) – im Gegensatz zum Internationalen Olympischen Komitee (IOC) und den meisten Fachverbänden – die Anabolika immer noch nicht auf seiner Verbotsliste führt (eine Tatsache, die Keul gern als Beweis für seine These heranzieht), beweist nun wirklich gar nichts, allenfalls einen Einfluß des Professors Keul auf die Dopingdefinition DSB.
Falsche These Nr. 6: Anabolika, besonders unter „ärztlicher Kontrolle“ eingesetzt, sind ohne Nebenwirkungen.
Es ist erstaunlich und dekuvrierend für das Grundwissen von Sportmedizinern, wenn solche und ähnliche Sätze auf der erwähnten Freiburger Veranstaltung ungerügt nicht nur von unwissenden Aktiven, sondern auch von Sportmedizinern formuliert werden konnten, d. h. von Personen, die wenigstens mit den Grundzügen der Wirkungsweisen von Steroidhormonen vertraut sein sollten. Die These ist natürlich wissenschaftlich unhaltbar; und die Befürworter des Anabolikadopings, wie der vor zwei Jahren aus der DDR gekommene Sportmediziner Alois Mader (jetzt Köln), der in Freiburg Berichte über solche Nebenwirkungen als „Zweckmeldungen auf dem Hintergrund ethischer Ablehnung“ abtat, sollten besser die einschlägige Fachliteratur studieren, als derartige Publikumsverdummung betreiben.
Hier stehen Mader und seine Kollegen in völligem Widerspruch zu allen Lehrbüchern der Arzneimittellehre. Die Fachliteratur jedenfalls weist auf eine ganze Serie von schädlichen Nebenwirkungen hin, die sich zwangsläufig aus dem Wirkmechanismus der Anabolika ergeben. Eine Liste der häufigsten schädlichen Nebenwirkungen habe ich – wie viele Mediziner – bereits in früheren Artikeln aufgestellt; jedenfalls ist das unter Medizinern, die sich nicht als „Sport“-Mediziner verstehen, längst keine Frage mehr. Selbst der klinische Einsatz von Anabolika wird in der Fachliteratur recht kritisch gesehen, nicht zuletzt im Hinblick auf zwangsläufige, unerwünschte Nebenwirkungen. Auch das Argument, solche Nebenwirkungen seien unter ärztlicher Kontrolle auszuschließen, ist falsch. Die Mehrzahl der bekannten schädlichen Nebenwirkungen, die in der Literatur beschrieben sind, sind bei ärztlich verabreichter und kontrollierter Anabolikagabe aufgetreten.
Mißbrauch mit rezeptpflichtigen Präparaten
Darüber hinaus sollen die Sportmediziner doch nicht bei den Laien den Eindruck erwecken, sie würden vor Anabolikagaben zunächst den Hormonstatus des „Patienten“ (sprich: Sportlers), die zyklischen Schwankungen oder auch nur die Kontraindikationen (das heißt, die Gründe, die einer Anaholikaverwendung entgegenstehen) überprüfen: O nein, das geht in der Praxis ähnlich rucki-zucki „gründlich“ zu, wie heutzutage vielfach die Antibabypille verschrieben wird. Wer aber die bekannten Virilismen (Vermännlichungserscheinungen), die bei Anabolikagaben an Mädchen und Frauen auftreten (ich zitiere aus der Fachliteratur: Körperbehaarung, Kopfhaarausfall, Rauhigkeit und Vertiefung der Stimme, Libidoeruptionen, Clitorisdeformationen, Akne, Ödeme) verharmlost, muß sich öffentlich der Scharlatanerie zeihen lassen. Selbst die Herstellerfirmen weisen auf die Unausweichlichkeit solcher Folgen hin.
Halten wir fest: Kein Hormon ist ohne Nebenwirkungen; Anabolika ohne jede Nebenwirkung sind auch rein biologisch gar nicht vorstellbar. Skandalös ist die Tatsache, daß sich in diesem Lande überhaupt Mediziner dazu bereit erklären, rezeptpflichtige Präparate ohne Indikation zu verabreichen. Das ist eine Tatsache, die endlich auch einmal die Ärztekammern und Staatsanwälte interessieren sollte.
Der Sportmedizinerkongreß in Freiburg wird in der Bundesrepublik der Endpunkt einer Entwicklung, die ich vor sieben Jahren prognostiziert habe: Anabolika sind nun endlich von einem Kreis wahnwitziger Medaillenanbeter zu legalen Mitteln der sportlichen Leistungssteigerung erklärt worden. Selbst das offene Eingeständnis der Anabolikaeinnahme zieht für die betreffenden Sportler-Betrüger keine Strafen nach sich. Die Verbände schweigen peinlich berührt, und auch der größte Teil der Sportpresse verdrängt seit Montreal diese Dopingerscheinungen ebenso schamvoll wie jungst die Versuche von Sportmedizinern, Schwimmern vor dem Start Luft in den „Arsch“ (ein der Ästhetik dieser Sportmedizin angepaßtes Wort) zu pressen, um ihre Wasserlage zu verbessern.
Die Verführung der Begabten im Sportverein
Die nächste Stufe der Anabolikaeskalation ist übrigens schon erkennbar: Sechzehnjährige Mehrkämpfer, vierzehnjährige Schwimmerinnen mit Anabolika aufzubauen – allein das ist es, sprechen wir es doch aus, was heute und erst recht in Zukunft noch den Supererfolg bringen kann. Verabreichung von Anabolika an Jugendliche lehnte in Freiburg die Mehrheit der dort versammelten Sportmediziner noch ab. Aber wer a sagt, muß wohl eines Tages auch „Anabolika für Jugendliche“ sagen: Es ist ja bereits ein offenes Geheimnis, daß auf der „anderen Seite“ im kalten Sportkrieg, aber auch in den USA, solche Skrupel bereits über Bord geworfen sind.
Wenn heute jemand wie ich, der jahrelang intensiv und mit viel Freude eine krafterfordernde Sportart betrieben hat, von Schulkindern und Eltern um Rat gefragt wird, bleibt eigentlich nur mehr eines: die Warnung, sportbegabte Söhne und Töchter auf keinen Fall in die Sportvereine zu schicken, denn dort werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit verführt – verführt von den mephistophelischen Erfolgsverheißungen der Anabolikavertreter mit und ohne Doktortitel. Schützt wenigstens den Nachwuchs vor den absurden Experimenten jener Sportmediziner, deren einzige und höchste Maxime, wie Sportmediziner Mader das kürzlich bei einem Podiumsgespräch der Deutschen Katholischen Sportjugend in Bonn-Venusberg einmal offen eingestand, die Frage nach der Anpassungsfähigkeit und der absoluten Leistungsgrenze des menschlichen Körpers ist! Hier haben einige Leute nicht zuviel Luft im Darm, sondern im Hirn.
In einer Hinsicht ist die gegenwärtige Situation in den westlichen Ländern nicht mehr gar so hoffnungslos: Die Jugend hat sich bereits gegen diese inzwischen anrüchigen Sportarten entschieden. So werden die jetzigen Schützlinge des Anabolikaexperten >>> Gehrmann (Eva Wilms und Beatrix Philipp, Ralph Reichenbach und Gerd Steines) wohl die letzten bundesdeutschen Kugelstoßer von „Beinahe-DDR-Niveau“ sein. Es gibt bei uns schon heute praktisch keinen „international einsetzbaren“ Nachwuchs an Diskuswerfern und Kugelstoßern mehr. Und noch etwas bleibt: die Hoffnung auf den Tag, an dem dieser Wahn und Spuk vorüber ist, an dem sich wieder einmal ein paar junge Menschen treffen, die von vorn anfangen, sich „nur so“ im fairen Wettkampf messen, ohne verrottete Verbände, ohne mißbrauchte Mediziner. Das mag aber wohl noch etwas dauern. Zur Zeit ist niemand weit und breit zu sehen, der die Stadien reinigt, der diesen Augiasstall von Drogen und Kanülen noch ausmisten könnte. Wahrscheinlich würde heute Herakles selbst längst Anabolika nehmen.