Sprinttrainer Wolfgang Thiele
Wolfgang Thiele, von Beruf Bau-Ingenieur, trainierte ab 1970 die besten bundesdeutsche Sprinterinnen, bald mit Schwerpunkt Staffelläuferinnen, war aber Ende der 1970er Jahre als Bundestrainer auch für männliche Sprinter, einschließlich des jugendlichen Nachwuchses, mitverantwortlich.
1977 geriet Wolfgang Thiele unter schweren Druck, als Silbermedaillengewinnerin Annegret Kroninger gestand, vor den >>> Olympischen Spielen in Montreal mit Anabolika gedopt zu haben und ihre Staffelkolleginnen mit belastete. Sie räumte damit mit der gerne kolportierten Meinung, Frauen würden in Westen nicht mit Anabolika dopen – schon garnicht in Sprintdisziplinen – auf. Bekommen habe sie die Anabolika von Bundestrainer Wolfgang Thiele. Laut Stuttgarter Nachrichten vom 26.8.1977 (zitiert nach Singler/Treutlein, S. 153) waren darüber DLV-Frauenwartin Bechtold und DLV-Leistungssportreferent Blattgerste informiert gewesen. „Blattgerste habe sie zu strenger Geheimhaltung angehalten.“ Aber auch Dr. Baron, Mitglied der Antidopingkommission und Prof. Joseph Keul wurden als Mitwissende genannt. Letzterer soll Thiele explizit belastet haben.
Der ehemalige Sprinter Manfred Ommer bestätigte die Vorwürfe. Im Aktuellen Sportstudio mit Harry Valérien und während der Expertenanhörung vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages wurde Ommer deutlich.
„Dieses wollte ich eigentlich heute nicht anbringen, da mich aber Professor Dr. Kirsch etwas herausgefordert hat, möchte ich es heute schon sagen, daß Herr Thiele, der Trainer des Deutschen Leichtathletikverbandes mit Sprinterinnen – und hier haben wir ein besonderes Kapitel der Anabolika-Szene, nämlich Anabolika für Frauen -, also mit den Sprinterinnen in Berlin Trainingslehrgänge abgehalten hat, wozu er einen Herrn Dr. Maidorn hinzugezogen hat, der Vorträge über Anabolika gehalten hat, Anabolika in Form von Spritzen an die Mitglieder der Silbermedaillen-Staffel von Montreal verabreicht hat; und ein Mitglied dieser Staffel hat diese Aussage gemacht und ist auch bereit, diese per Eid zu wiederholen. Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Komik, daß Herr Thiele in der Zwischenzeit das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen hat; aber das sei nur am Rande erwähnt.“ (>>> Anhörung Sportausschuss, 28.9.1977, 6/119)
Thiele begleiteten über Jahrzehnte entsprechende Vorwürfe, die allerdings nie zu sportrechtlichen Verfahren führten. Es schien eher, als wären die Praktiken zwar ein offenes Geheimnis im Verband, aber da niemand es wagte entschlossen gegen diese Dopingpraktiken vorzugehen, blieb Thiele bis an das Ende seiner Nationaltrainerkarriere im Jahr 2000 unbehelligt.
So hat er auch in den 80er Jahren seine Sprinterinnen zum Doping angehalten, wie Trainer Manfred Jung 1998 beschrieb. Er veröffentlichte in der von ihm gemeinsam mit Clemens Fabrizio herausgegebenen Chronik ’75 Jahre Leichtathletik – Bezirk Oberrhein‘ einen Brief, den er im Oktober 1988 an den DLV gesandt hatte. Jung wurde im Winter 1986/1987 auf einem DLV-Lehrgang von Wolfgang Thiele unverholen nahegelegt, dass er seine von ihm betreute Sportlerin dopen müsse, wenn sie international Erfolg haben wolle.
Jung berichtete 1988 in seinem Brief an den DLV, anonym zwar und verklausuliert, von weiteren Begebenheiten, die seine Sportlerin direkt betrafen.
„… Ich bin einer von vielen Heimtrainern, die seit Jahren die Bundesdeutsche Leichtathletik mit Nachwuchs-Spitzenkräften versorgen. Ich habe das bisher mit Freude und Erfolg getan, werde mich aber jetzt aufgrund meiner „Doping-Erlebnisse“ mit Bundestrainem der Leichtathletik aus dem Bereich des Spitzensports zurückziehen. Mein momentan bester Athlet ist in diesem Jahr bei sehr großen Fortschritten knapp an der Seoulteilnahme gescheitert. Das ist kein Grund, unglücklich zu sein. Leider gehen aber von seiten des leitenden Bundestrainers seit zwei Jahren heftige Erpressungsversuche in Richtung Doping auf meinen Athleten ein.
Natürlich weiß ich über diese „Unter-vier-Augen-Gespräche“ nur von meinem Athleten; es gibt keine direkten Zeugen. Hinweise von seiten des Athleten auf das gesundheitliche Risiko werden mit den Argumenten widerlegt, Prof. Klümper sei ein guter Überwacher solcher „trainingsbegleitenden Maßnahmen“ und es gäbe genug Sportler im DLV, die nach erfolgreicher (Doping-)Karriere gesund und munter seien, und es werden dann Namen genannt wie z.B. Annegret Richter u.a. (sie habe ja sogar noch Kinder bekommen können). … Von internen Sportlergesprächen weiß mein Athlet inzwischen, daB viele seiner Disziplinkollegen, auch solche, die ebenfalls noch sehr jung sind, nach ähnlichen Gesprächen nachgegeben haben und ihre (nur) teilweise großen Leistungssprünge (und damit den Sprung nach Seoul) Doping (vor allem Anabolika im Wintertraining) zu verdanken haben. …“
Dier DLV antwortete nach einigen Wochen kurz, man reagiere nicht auf anonyme Anschuldigungen. Jungs Athletin, die weiterhin auf ‚trainingsbegleitende Maßnahmen‘ verzichtete, war bis zu den Olympischen Spielen in Barcelona bei den besten dabei, wurde aber laut Jung während ihrer sportlichen Karriere oft ausgebremst. (Singler/Treutlein, S. 253ff)
TRAINER UNTER SICH
Der Bundestrainer wird auch in Verbindung mit der Affaire um die Trainer Jochen Spilker und Hans-Jörg Kinzel genannt, deren Doping-System, >>> „Hammer-Modell“ genannt, 1990 aufflog und für viel Wirbel sorgte. Thiele gehörte diesem Vereins-System zwar nicht an, aber er wurde bereits 1990 von Kinzel als Dopingtrainer genannt. 1994 wiederholte Hans-Jörg Kinzel bei seiner Vernehmung vor dem Schöffengericht in Hamm diese Aussagen.
„Der Mann [Kinzel] stieß über das Talent seiner Frau bis in die Kreise der besseren Dopingkenner vor. So diskutierte er gerne mit dem Cheftrainer des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Wolfgang Thiele. Der fragte nach, „was wir da machen, wie hoch wir dosieren“. Er sei entsetzt über die zwanzig Milligramm täglich für Gisela Kinzel gewesen. In der DDR nähmen sie nur 10 Milligramm, und nur die Hälfte gäbe er selber seinen Mädchen. Spilker war kein Freund von Thiele, der ihm vorwarf, unverantwortlich zu handeln mit dieser hochgradigen Brutalisierung. Also mußte Kinzel seine Kontakte abbrechen.“ (Robert Hartmann, FR, 23.2.1994)
1990 klang das im Spiegel so:
„Auch in der deutschen Trainerhierarchie kletterte der einst nur geduldete Kinzel einige Stufen höher. Beim Trainingslager des Nationalkaders in Albufeira im März 1987 zog ihn der Frauen-Cheftrainer Wolfgang Thiele auf der Terrasse am Swimming-pool des Touringclub Acoataeias ins Vertrauen: „Was macht ihr denn in Hamm?“ Bei einem doppelten Espresso und portugiesischem Brandy erzählte Kinzel („Ich fand es toll, den großen Thiele mit Du anreden zu dürfen“) bereitwillig, zumal er längst gemerkt hatte, daß unter Kollegen offen über die Dopingpraxis gesprochen wurde.
Thiele gilt schon seit den Olympischen Spielen 1976 in Montreal als einschlägig vorbelastet. Damals bekannte die Sprinterin Annegret Kroninger, die von Thiele trainierte erfolgreiche 4×100-Meter-Staffel sei mit Anabolika gedopt worden.
Sogar vor dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages kamen die Anschuldigungen zur Sprache, doch Thiele konnte alle Vorwürfe mit Unterstützung der Verbandsfunktionäre des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) aussitzen. Ganz offen konnte er bei wichtigen Wettkämpfen schon bald wieder nach sauberen Athletinnen fragen: „Ich brauch“ zwei zur Dopingkontrolle, kannst du gehen?“…
Thiele, der kein Hehl daraus machte, auch seine erfolgreichsten Athletinnen Heidi-Elke Gaugel und Ulrike Sarvari mit Anabolika schnell gemacht zu haben, gab dem Jungen aus Hamm einen väterlichen Tip: „Du gibst zuviel.“
Kinzel befolgte Thieles Rat und reduzierte die Dosis, stellte bei seinen Läuferinnen aber schon bald „tote Hose“ fest. Die Weltmeisterschaften in Rom wurden für seine Athletinnen „zum Fiasko“. (der Spiegel, 3.12.1990)
Spilker war entsetzt und vermutete hinter Thieles Rat mieses Konkurrenzverhalten.
Diese Zitate/Artikel deuten daraufhin, dass die Trainer sich nicht auf ein gemeinsames Informationsnetz bezogen, sondern sich ihr Wissen aus unterschiedlichen Quellen geholt hatten. Spilker scheint sich an dem USamerikanischen Trainer Charly Francis orientiert zu haben, aber auch der Trainer von Marita Koch, der Rostocker Wolfgang Meier, wird genannt, während Thiele, der selbst aus der DDR stammte, mit DDR-Sprinttrainer Horst Hille in Verbindung gestanden haben soll.
Robert Hartmann schloss 1994 seinen Artikel mit der Bemerkung:
„Was von der Verhandlung bleiben wird, ist daß der Beweis vom weitverbreiteten Doping auch in den alten Bundesländern vor einem ordentlichen Gericht erbracht wurde, daß Thiele ein Verfahren vor dem Verbandsgericht erwarten muß, wenn es nach Recht und Gesetz geht, und daß Spilker als Rechtswart im thüringischen LSB wohl keine Zukunft haben dürfte.“
Waren die Anschuldigen aus den früheren Jahren, insbesondere die in dem Spiegel-Artikel recht genau formulierten Vorgänge nicht ausreichend für DLV-Untersuchungen? Es wäre interessant zu wissen, was in den Untersuchungen der >>> Reiter- und der ad-hoc-Kommisionen hierzu konkret bekannt wurde.
In der FAZ vom 23.2.1994 ist nach Kinzels Aussagen vor Gericht zu lesen:
Die Details in den Beschreibungen des Kronzeugen – etwa im Fall Thiele – interessieren nun auch den DLV. „Wir kennen die Aussage noch nicht. Aber wir werden uns um das Protokoll bemühen, den Betroffenen befragen und den Arbeitsvertrag überprüfen“, sagte DLV-Präsident Helmut Digel am Dienstag. Neben der juristischen Klärung müsse aber auch die moralische Frage diskutiert werden.“ (FAZ, 23.2.1994)
Im März 1994 gab Digel an die Anti-Doping-Kommission des Verbandes sei hinsichtlich des weiteren Umgangs mit den Trainern Spilker und Thiele aktiv, in Kürze gäbe es eine Entscheidung des Geschäftsführenden Präsidiums des DLV, denn man habe sich auch gegenüber dem Bundesinnenministerium und dem DSB zu verantworten (FAZ, 14.3.1994). [1]
Heinz-Jochen Spilker ist auch 2011 Vize-Präsident und Rechtswart des Landessportbundes Thüringen. Wolfgang Thiele war noch 65jährig im Jahr 2000 DLV-Nationaltrainer (sid, 4.7.2000, die Zeit, 2000).
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[1] Anmerkung:
Birk Meinhardt schreibt am 14.3.1994 in der Süddeutschen Zeitung:
In Paris sprach Helmut Digel erstmals aus, was hinter vorgehaltener Hand schon lange erzählt worden war. „Ich gehe davon aus, daß in den eigenen Reihen noch gedopt wird.“ Über drei Viertel der Trainer seien davon nicht betroffen. Das ist die Variante des halbvollen Glases, aber man kann es auch als halbleer deuten: Knapp ein Viertel verschließt sich standhaft den schon gar nicht mehr neuen, nur zu logischen Ideen. Mit einigen dieser Leute, so Digel, habe der neue Leistungssportchef Hensel gesprochen. Das heißt, sie sind bekannt.“
Am 16.3.1994 ruderte Helmut Digel zurück, wobei er nicht von Trainern spricht, wie Meinhardt, sondern von Athleten:
Wenn ich sage, mehr als 75 Prozent der Athleten hinter unserer Politik stehen, dann wird daraus abgeleitet, daß 25 Prozent noch dopen. Dies ist in der Tat einen eine fatale Interpretation, und ich bitte darum, diese nicht zu verwenden.“ … „Diese Äußerung war einfach dumm von mir, und ich halte die Zahlen für falsch, da ich sie nicht belegen kann.“ (FAZ, 16.3.1994)
Monika, 2011