Hansjörg Kofink – Gedanken zum Sport
Hansjörg Kofink: Vorbild Olympia 1988
erschienen in sportunterricht 37 (1988) Heft 12, S.477
Man kann sich leicht vorstellen, welche Faszination von den Darbietungen der Zehntausend, die als die Auswahl der ‚Jugend der Welt‘ gelten, auf jene überspringt, welche die Jugend der Welt sind. Was für ein Eindruck, welch staunendes Unverständnis, welcher Schock bleibt für Kinder und Jugendliche auf der ganzen Welt, wenn der schnellste Mensch von Olympia vor ihren Augen innerhalb von Stunden aus dem Himmel des Erfolgs in die Hölle des Betrugs fällt, wenn der eindrucksvolle olympische Eid sich im Reagenzglas in nichts auflöst!
Die Erwachsenen, Idealisten und Realisten, mögen sich in ihrem Wissen um menschliche Schwächen damit trösten, daß in Seoul nur einem Promille der dort Angetretenen ein Verstoß gegen die geltenden Doping-Bestimmungen nachgewiesen werden konnte – wenn auch mehr als doppelt so viele deswegen nach Hause gefahren sind.
Dem kritischen Zuschauer – und welche Jugend ist nicht kritisch? – wurde an der sofort einsetzenden hektischen Diskussion um die Schuldfrage sehr schnell deutlich, daß hier einer, und zwar ein Prominenter, stellvertretend für viele am Pranger stand: Wieder einmal wird dem staunenden Zuschauer der für den olympischen Erfolg so lebenswichtige Zusammenhang zwischen medizinischen Labors und Wettkampfvorbereitung über alle Medien serviert. Die simple Tatsache, daß in diesen Labors von Fachleuten nur das nachgewiesen werden kann, was vorher von Fachleuten verabreicht worden ist, wird spätestens dann jedem Laien klar, wenn er mit der Wirkungsweise und der Nachweisproblematik von Stoffen konfrontiert wird, deren Namen er in seinem Lexikon gar nicht findet. Doch auch die kaum erkennbare Grenzlinie zwischen Therapie und Doping erkennt der überraschte Zuschauer am Schnupfen des britischen Sprinters Linford Christie, dessen Nasentropfen offensichtlich nicht so viel Ephedrin enthielten, daß es nach Meinung der olympischen Medizinmännern zu einem Doping-Verdacht reichte. Beim Biathleten Angerer war das doch noch etwas anders vor einigen Jahren?
Liest man die Kommentare vieler Olympioniken zum Thema Doping oder sieht und hört man sie in dankenswert offenen Fernsehrunden, dann werden eigentlich mehr Verdachte geweckt als ausgeräumt. Man glaubt der Aussage des Präsidenten des Weltverbandes der Sportmedizin, Prof. Hollmann, – und der muß es ja eigentlich wissen – daß auch Seoul nur die Spitze des Eisbergs gesehen habe. Will eigentlich irgendjemand mehr sehen? Offensichtlich scheint nicht die Gefahr der Präparate der Doping-Liste das Problem zu sein, sondern allein die Tatsache, wie man ihren Gebrauch geschickt genug verbirgt. Die Weltspitze des Sports scheint sich dadurch zu unterscheiden, daß es einige gibt, die mehr wissen als andere: Wer wird erwischt und wer nicht? Oder frei nach Brecht: Zuerst kommt der Erfolg, und dann kommt die Moral.
Doch zurück zu den jungen Zuschauern von heute: Wer glaubt, Sportfunktionär oder Politiker, die Jugend von heute habe dieses Dilemma des modernen Olympia, des Höchstleistungssports am Ende dieses Jahrhunderts noch nicht bemerkt, der irrt, und zwar gewaltig. Die klaren Aussagen einer Olympiasiegerin von 1972 über den Hochleistungssport, bezogen auf das eigene Kind, sollten auch die hardliner nachdenklich machen. Wer einen Ben Johnson in die Pfanne haut für die seit mindestens seit zwei Jahrzehnten unter den Teppich gekehrten Sünden des Hochleistungssports, ist entweder ein Träumer oder ein Zyniker. Die grande dame Olympia des Franzosen Coubertin hat knapp vor ihrem einhundertsten Geburtstag fast alle Hüllen fallen lassen. Wie unpassend das nette, jetzt endgültig abgelegte Amateur-Kleidchen schon lange war, müssen jetzt auch die größten Romantiker erkennen, wenn sie die viel zahlreicheren Kommentare zu Ben Johnsons ökonomischer Zukunft mit denen zum Zustand seiner Leber vergleichen!
Weil es jedem, der mit Sport und Jugend zu tun hat, weh tut, wenn Ideal und Wirklichkeit allzu weit auseinanderklaffen, wenn Fair play und Olympische Idee entweder über Anekdoten von vorgestern oder aber von Werbeagenturen von heute vermittelt werden müssen, geben wir folgenden Vorschlag zu bedenken:
Die sportliche Creme der ‚Jugend der Welt‘ möge sich künftig nach eigenem Wissen und Gewissen dem olympischen Wettkampf stellen. Heute schon wird sie von Höchstleistungen der Medizin, der Psychologie und des Kommerz, durch staatliche Subventionen ebenso wie durch unvorstellbares Engagement mittelbar Beteiligter vorbereitet.
Der heute notwendige extreme persönliche Einsatz des Wettkämpfers, dessen Sieg immer viele Väter hat, dessen Niederlage er dagegen immer allein tragen muß, erfordert auch, daß er allein die Verantwortung für seine Vorbereitung trägt, unkontrolliert und frei, nur sich selber verantwortlich. Seinen Wettkampf muß er ebenso allein bestehen. Eine solche Selbstverantwortlichkeit des Athleten würde eine Atmosphäre schaffen, in der Athleten, Trainer, Ärzte und Funktionäre sehr schnell über jene Mißbräuche sprächen, über die sie heute so beredt schweigen. Wenn alle Welt weiß, daß man sich für den Auftritt bei Olympia unbeschränkt munitionieren kann, dann werden die Arsenale gläsern, weil käuflich, und die Verirrungen sichtbarer, weil sie nicht mehr von heuchelnder Moral gedeckt werden. Der Zuschauer des 21. Jahrhunderts wird dann sehr deutlich entscheiden, was er als Sport bei Olympia noch sehen will. Das Problem des Kinder-Hochleistungssports bedürfte dann allerdings einer neuen intensiveren Prüfung.
Wenn Olympia nach Seoul neben der Faszination durch Farben, Formen und Bewegungen auch die Vorbildfunktion für Milliarden Sporttreibender in aller Welt, insbesondere aber für die Heranwachsenden behalten will, dann muß kompromißlos auf Selbstverantwortung des Athleten gesetzt werden.
Dieser Weg ist nicht leicht, denn ein anderer ist schon beschritten:
Doping – ein Kavaliersdelikt, ein Ausrutscher, eine Unachtsamkeit:
SPORT-BILD vom 21. September 1988 lieferte auf den Seiten 32 und 33 das ‚Olympia-Spiel für die ganze Familie‘. Zum letzten roten Feld dieses Würfelspiels vor dem Ziel heißt es: „Doping-Kontrolle: Leider positiv – zur Strafe müssen Sie dreimal aussetzen“.
Die olympische Zukunft hat schon begonnen.
… und 20 Jahre später: