DDR-Dopingopfer
Birgit Boese, geb. Pabst
Birgit Pabst brachte als Kind beste Voraussetzungen mit eine erfolgreiche Kugelstoßerin zu werden. Eine schwere Verletzung stoppte bald ihre sportliche Karriere, doch die gesundheitlichen Folgen dieser kurzen leistungsportlichen Zeit sind verhehrend. Birgit Boese, wie sie seit ihrer Heirat heißt, gab jedoch nicht klein bei, sondern begann für die Doping-Opfer zu kämpfen. Sie leitet seit Jahren eine Beratungsstelle für DDR-Dopingopfer in Berlin. Für die Dokumentation ‚Wunden und Verwundungen‘, die 2007 erschienen ist, führte sie 52 Interviews mit dopinggeschädigten DDR-Sportlerinnen und Sportlern: >>> doping-archiv.de Buchbesprechung.
Birgit Boese ist selbst krank. Die Wirbelsäule ist schwer geschädigt, sie leidet u.a. unter Diabetes, einer Herzerkrankung und unter Stoffwechselstörungen. Es bestehen keine Zweifel daran, dass es sich dabei um Folgen der Dopingmittel handelt, die sie bereits im Alter von 12 Jahren erhielt.
Birgit Böse ist anerkanntes DDR-Doping-Opfer.
früher Beginn – frühes Aus
Birgit Pabst wird mir 11 Jahren nach einem Sichtungswettkampf zur Kugelstoßerin bestimmt. Ab der 6. Klasse wechselte sie daraufhin an die Kinder- und Jugendsportschule des Turn- und Sportclubs Berlin. Sie fühlte sich anfänglich wohl. Doch nahm der Trainingsdruck durch Trainerin Helga Börner rasch zu.
„Unsere Schulung hieß Drohung, Anweisung, ständiges Begutachten und Verreißen.“ Mit 13 Jahren wurden der jungen Sportlerin die ersten Pillen gegeben. „Die Trainer hatten […] einen Raum, der durch Umkleideschränke abgetrennt war. „Es hieß dann immer, komm mal nach dem Training“, erzählt Boese. In der Mitte des Raumes stand ein Schreibtisch, darauf lagen die Pillen, gelbe, weiße, braune und eben auch hellblaue – die mit Oral-Turinabol. Sie musste die Tabletten vor ihrer Trainerin nehmen. Die sagte: „Das sind Vitamine, frag nicht so viel, mach!“ (SZ, 19.5.2000)
Die Vitamine bräuchte sie um die von ihr erwartete Leistung bringen zu können, gelockt wurde dabei mit der Teilnahme an der nächsten Spartakiade – für eine dreizehnjährige ein großes Ziel. Das Kind Birgit nimmt die verschiedenen Tabletten vertrauensvoll. Ihr Körper verändert sich, ihr wachsen Haare am Kinn und die Stimme wird tiefer.
„Bei einer anderen waren die Veränderungen so stark, dass die Mädchen flachsten, in einem Jahr werde sie wohl ein Mann. Die Frau wurde später Weltrekordlerin im Kugelstoßen.“ (SZ, 19.5.2000)
Birgit nimmt diese Veränderungen als naturgegeben hin, schiebt dies auf die Pupertät und das harte Training. Sie ist zudem erfolgreich, sie erreichte ihr Ziel und wird Spartakiadesiegerin.
1976 kommt es während eines Winterlagers in Oberwiesenthal zu einem schweren Sportunfall. Während eines Schlittenfahrtrainings fährt ihr ein Schlitten über ihren Fuß. Birgit erleidet einen Bänderriss am rechten Sprunggelenk und mehrere Absplitterungen am Knöchel. Diese Diagnose wird jedoch erst am nächsten Tag gestellt. Zunächst versuchen die Trainerin ebenso wie die anwesende Ärztin den Unfall herunterzusspielen und meinten, der Fuß sei lediglich verstaucht. Dem Mädchen wird gar gedroht, wenn sie keine Ruhe gäbe, wurde bei einem Trainingsunfall die Suspendierung vom Sport erfolgen.
Die Heilung ging nur langsam voran da eine Reihe komplizierter Operationen nötig wurden. Nach einem Jahr ist jedoch klar, Birgit Boese muss ihren Sport aufgeben, denn das Fußgelenk kann die nötigen Trainingseinheiten nicht mehr bestehen.
erste Gesundheitsschäden
Birgit beendet die Schule nach der 10. Klasse, beginnt eine Maßschneiderlehre die sie mit Meisterabschluss beendet. Sie macht sich selbstständig.
Die junge Frau heiratet mit 20 Jahren und möchte Kinder bekommen, doch das gelingt nicht. Der konsultierte Arzt klärt sie darüber auf, dass ihre Unterleibsorgane stark unterentwickelt seien und rät zu einer Hormonbehandlung. Die Frage des Arztes, ob sie während ihrer Leistungssportzeit Hormone gekommen habe, verneint sie, da sie ihre Sportzeit „mit Doping absolut nicht in Verbindung gebracht“ habe.
Birgit Boese stimmt der vorgeschlagenen Hormonbehandlung zu, nimmt aber während dieser Zeit kontinuierlich Kilo um Kilo zu. Dies war eine ungewöhnliche Reaktion des Körpers, so dass der behandelnde Arzt misstrauisch wurde und meinte, eine derartige Stoffwechselstörung sei nur aufgrund einer frühern Hormontherapie möglich. Birgit Boese bricht die Behandlung ab. Daran, dass sie gedopt wurde, glaubt sie immer noch nicht. Die folgende Schwangerschaft verbringt sie monatelang streng liegend im Krankenhaus. Ihr Übergewicht behielt sie. Verzweifenlt versucht sie es in den folgenden Jahren zu reduzieren, doch vergebens, doch alle Methoden misslingen, sie nimmt weiter zu. Langsam musste sie einsehen, dass sie an einer Stoffwechselstörung litt, gegen die sie nicht ankommen konnte.
bittere Erkenntnis
Und sie musste einsehen, dass sie in sehr jungen Jahren mit Hormonen gedopt wurde. Diese Erkenntnis wurde ihr durch die Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) vermittelt, von der sie über ihre Erfahrungen befragt worden war: „Frau Boese, nehmen sie zur Kenntnis. daß sie als Mädchen Oral-Turinabol bekommen haben.“
Birgit Boese stellte Strafantrag, da ihr langsam klar wurde wie sie und ihre Kolleginnen benutzt, zu ‚Marionetten‘ von Ärzten, Trainern und Funktionären wurden. Auch wollte sie jetzt die ganze Wahrheit wissen.
Birgit Boese tritt im Jahr 2000 im Prozess gegen Manfred Ewald und Manfred Höppner als Nebenklägerin auf. Ihre Gesundheitsschäden sind zu dieser Zeit angewachsen, sie leidet unter Knochen- und Gelenkschäden, Allergien und ist schlaganfallgefährdet. Ärzte hatten ihr zudem gesagt, sie musse aufgrund ihres Übergewichtes mit einer verrringerten Lebenserwartung rechnen. Entschädigungen oder finanzielle Hilfen gibt es zu dieser Zeit noch nicht. Die finanziellen Belastungen sind jedoch für die schwergeschädigten Anabolika-Opfer hoch.
Vor Gericht belässt sie es nicht bei der Schilderung ihrer Erfahrungen sondern fordert sie eine umfassende Erforschung der Dopingfolgen ein:
„Es ist ein Skandal, daß wir heute als Betroffene um Unterstützung bitten müssen, dieses ewige Herunterspielen der Doping-Folgen … Man müßte die ostdeutschen Doping-Geschädigten medizinisch versorgen. Man müßte mal die medizinischen Aussagen der Ärzte bündeln. Man müßte mal herausfinden, ob unsere Kinder in Mitleidenschaft gezogen sind. Ja, man müßte mal die Langzeitwirkung von Doping erforschen. Man müßte doch mal zeitgemäße Doping-Analyseverfahren einsetzen, man müßte mal rauskriegen, wie das mit dem DDR-Sport und der Staatssicherheit war, und dann müßte man ja tatsächlich mal ‚Jenapharm‘ zum Sprechen bringen und die Versuchsreihen an uns offenlegen. Vielleicht wäre so noch Prävention möglich.“
(Die vorliegenden, nicht näher bezeichneten Zitate stammen aus dem Buch von Ines Geipel, Verlorenen Spiele)
Anhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestages
Das Abwiegeln und sich nicht zuständig fühlen von Politik und Sportverbänden ging weiter, Hilfe war nicht in Sicht. Die streitbare Birgit Boese will das so nicht hinnehmen. Gemeinsam mit 12 (?) weiteren Geschädigten geht im Mai ein >>> Offener Brief an den Bundestag, in dem sie eine staatliche Entschädigung für Dopingopfer und die Einrichtung einer Beratungsstelle für Betroffene und ihre Kinder einfordern. (TAZ, 5.1.2002, rbb, 2.6.2001) Sie werden gehört.
Gemeinsam mit der ehemaligen Diskuswerferin Brigitte Michel berichtete Birgit Boese in der öffentlichen Anhörung des Sportausschusses des Deutschen Bundestages am 17.10.2001 über ihre Erfahrungen und kämpfte für Unterstützung. Das Protokoll der Anhörung ist >>> hier nachzulesen.
Birgit Boese: … Immer wieder wird in der öffentlichen Diskussion die Frage nach der Zahl der Opfer gestellt. Doch solange sich die Opfer rechtfertigen sollen für einen Missbrauch, den sie nicht zu verantworten haben, braucht sich niemand zu wundern, dass viele der Betroffenen sich bis heute nicht offenbaren möchten. … Zu den umfassenden Erkenntnissen der gesundheitlichen Schäden nach der Einnahme von Dopingmitteln werden weitere Sachverständige sprechen. Trotzdem gibt es viele Fragen der Betroffenen, die mit den bisher erstellten Studien nicht beantwortet werden können, da diese Studien in der Vergangenheit z.B. nie die Frage nach den Schäden der zweiten Generation umfassend klären konnten. Einmalig ermöglicht es die Geschichte, so grausam die Grundlage auch dafür ist, eine Studie der Körperschäden durch Dopingmissbrauch in großem Ausmaß zu erstellen. Diese Studie würde zum einen die Chance bieten, Schäden, über deren Kausalität sich die Wissenschaft mangels Studien nicht einig ist, näher zu bestimmen, was auch für die Aufklärung aktiver Sportler und somit dem Kampf gegen Dopingmissbrauch ein wichtiger Meilenstein sein könnte, und zum anderen würden alle bereits geschädigten Sportler die Möglichkeit erhalten, bewusster Einfluss auf ihr weiteres Leben bzw. das ihrer Kinder durch Präventionsmaßnahmen nehmen zu können. …
Im Vorfeld wurden auch Stimmen laut, die allen Ernstes den Gedanken in die Diskussion brachten, dass doch erst einmal die Verursacher ? sprich: Trainer, Mediziner, Funktionäre ? von den einzelnen Sportlern auf Schadenersatz verklagt werde sollten. Erst wenn durch ein Gericht festgestellt worden sei, dass dort der Sportler keinen Schadenersatz erhalten könne, würde dann eventuell eine Unterstützung des Staates möglich sein. Ich bin heute stellvertretend hier, um darauf hinzuweisen, dass genau diese Forderung seitens des Sports ? sie stammt von Herrn Prof. Digel, geäußert in Köln am 23. Juli 2001 bei einem Round-Table-Gespräch während eines Symposiums der EU an der Sporthochschule Köln zum Thema Doping – eine menschenunwürdige Abwälzung der moralischen Verantwortung ins Nichts bedeutet. Bereits die Vergangenheit hat bei Prozessen gezeigt, dass die Verantwortlichen nicht in die Haftung genommen werden konnten, da sich stets auf Vergaberichtlinien sowie den Staatsplan 14.25 der DDR berufen werden konnte. Worin sieht Herr Digel, außer dass die Geschädigten mit einer Prozessflut in den nächsten Jahren beschäftigt sind, denn den Sinn eines solchen Vorschlages? Im Vorfeld dieser Anhörung wurde ich oft gefragt, wie ich mir die Möglichkeit der Entschädigung der Opfer vorstellen würde.
Wir hoffen, dass die Bildung eines Fonds möglich sein wird, der nach dem Muster der Versorgungsämter bzw. einer Versicherung einen differenzierten Schadenskatalog als Grundlage für die Art und Höhe der finanziellen Entschädigung in Form einer monatlichen Rente beinhaltet. Eine Entschädigung auf der Basis eines Fonds, der auf Bittgesuch der geschädigten Sportler Zuwendungen austeilt, halte ich für bedenklich, da somit den Sportlern jede Chance der emotionalen Aufarbeitung genommen wird. …
Dopingopfer-Beratung
Am 24. August 2002 trat das >>> Doping-Opfer-Hilfe-Gesetz in Kraft. Am 9. Oktober 2002 eröffnete Birgit Boese in Berlin die Beratungsstelle für DDR-Doping-Opfer. Diese Beratungsstelle wurde im Rahmen des Doping-Opfer-Hilfe-Gesetzes (DOHG) zur Entlastung des Bundesverwaltungsamtes geschaffen. Die Beratungsstelle wurde unter Federführung des DOH e. V., geführt aber, zeitlich befristet, finanziert durch das Bundesverwaltungsamt. Bis März 2003 konnten ehemalige Sportlerinnen und Sportler Anträge einreichen.
„Bis zur Halbzeit ließen sich 160 Geschädigte von Birgit Boese beraten: Welche Unterlagen muss ich dem Antrag beifügen? Wie finde ich heraus, zu welchem Kader ich gehörte? Es kommen Leichtathleten und Schwimmer, Wintersportler und Mannschaftsspieler aus Ballsportarten. Manche nennen am Telefon nicht ihren Namen, tasten sich ängstlich an die Beratung heran, man wisse ja nicht, wer mithöre. Das Feld reicht vom Olympiasieger bis zur Nachwuchssportlerin, die Mitte der siebziger Jahre geboren wurde und noch 1989, kurz vor dem Untergang der DDR, ihre Pillenweihe hatte und die jetzt wissen will: Frau Boese, Sie sind jetzt Mitte 40, wann haben die Krankheiten bei Ihnen angefangen?“ 95% der Ratssuchenden waren Frauen. (die Zeit, 3.2003)
Die Beratungsstelle selbst hatte von Anfang an mit finanziellen Problemen zu kämpfen. Erwartete Unterstützungszahlungen von Seiten des Deutschen Sportbundes DSB gingen nicht ein. Die Zahlung des vereinbarten Gehalts an Frau Boese konnte nicht erfolgen. (Berliner Zeitung, 8.1.2003)
Am 31. Juli 2003 wurde die Beratungsstelle mangels weiterer finanzieller Unterstützung geschlossen. Birgit Boese setzte daraufhin die Beratung für weiterhin hilfesuchende Sportlerinnen und Sportler privat zuhause fort. (sid, 22.8.2003)
Langzeitstudie Doping-Opfer
Giselher Spitzer konnte von 2004 bis 2006 ein Studienprojekt über Langzeitfolgen von DDR-Dopingopfern durchführen. 52 Interviews mit Betroffenen wurden hierfür von Birgit Boese geführt. Das Ergebnis dieser Dokumentation erschien 2007 als Buch von Giselher Spitzer unter dem Titel Wunden und Verwundungen.
„Mit welchen gesundheitlichen Folgen wurden Sie konfrontiert?
Nur einige Zahlen: 92 % haben Skeletterkrankungen, 25 % hatten oder haben Krebs. Die Hälfte der Frauen leidet unter gynäkologischen Erkrankungen. Davon mussten 6 % Tot- und 21 % Fehlgeburten ertragen. 35 Geschädigte haben insgesamt 96 Operationen hinter sich. Fast alle Opfer leben mit großen Schmerzen. Bei den Kindern der früheren Sportler sieht es so aus, dass 26 % Hautkrankheiten haben. Jedes zehnte hat Verkrüpplungen, mehr als jedes siebte geistige Behinderungen.
Gibt es für all das Atteste?
Jeder Betroffene hat medizinische Unterlagen bzw. Gutachten.
Ab welchem Alter wurde mit dem Doping begonnen?
Im Turnen und Eiskunstlaufen, so wurde berichtet, bekamen schon Sechs-, Siebenjährige Mittel. Mit 13,14 fuhren sie zur WM, waren quasi auf der höchsten Wettkampfebene angekommen. Es bedurfte ja einiger Zeit, bis die Mittel ihre Wirkung entfalteten. …
Was hat Sie bei den Gesprächen besonders erschüttert?
Dass jemand vor mir saß und weinte. Weil nach 30 Jahren zum ersten Mal ausgesprochen wurde, was diesen Menschen so lange quälte. Oder: Ein Betroffener bekam in der Zeit der Dokumentation ein Spenderherz. Nach der OP verschlechterte sich sein Zustand weiter. Ich besuchte ihn in der Klinik, fand ein körperliches Wrack vor. An dem Tag überlegte ich einen Augenblick lang, die Arbeit hinzuschmeißen. Weil ich glaubte, dieses ganze Elend nicht mehr verkraften zu können.“ (superillu, 10.1.2007)
Monika, 2011