Interview 1 mit Philippe Boyer
Im Oktober 2003 stellt Philippe Boyer sein Buch ‚Champion, flic et voyou‘ vor. Darin beschreibt er seine Dopingkarriere und gibt offen zu, dass er es heute kaum anders machen würde.
Das Buch war Anlass für die beiden Interviews mit ihm.
Im ersten erzählt er vor allem seinen Werdegang, wie sich sein Dopingverhalten entwickelte, im zweiten begründet er, warum er sein Verhalten nicht ändern würde, offen und zynisch:
Der Kanal LCI veröffentlichte am 22.10.2003 dieses Gespräch mit Philippe Boyer.
EIN TYPISCHER WERDEGANG?
Warum dieses Buch ? (1)
Wer wird die Wahrheit über Doping sagen? Diejenigen, die im System stecken? Sie haben keinerlei Interesse daran. Diejenigen, die nicht mehr im System stecken, die aber in gewisser Weise sauber dastehen? Ich habe viele Kumpel die zu meiner Zeit Champions waren und die mir heute sagen: „Wir sind gut durchgekommen, es gibt keinen Grund unseren Ruf zu schädigen.“ Ich war im Gefängnis, ich habe nichts mehr zu verlieren.(…)
Von 1977 bis 1979 siegte ich regelmäßig im Mätz, April, Mai bei kleinen Rennen. Und dann, seltsam, sobald die Meisterschaften kamen, wurde ich um Längen von Leuten geschlagen, die mir zu Beginn der Saison unterlagen. Man sagte mir, sie nähmen ein Anabolikum, Justabovit. Ich besorgte mir dieses vom Clubarzt. Das Ergebnis lies nicht lange auf sich warten: Ich explodierte geradezu. Meine Schenkel wuchsen, ich stemmte mehr und länger im Studio … Und auf dem Rad hielt ich den Anschluss.
Aber trotz meiner guten Resultate blieb meine Vorbereitung wechselhaft: an einem Tag konnte ich 50 km mehr fahren als meine Kumpel, dann wieder lief eine Woche überhaupt nichts … Der Physiotherapeut der französischen Mannschaft meinte : „Du musst strenger vorgehen.“
Was sollte das heißen?
Er sprach von Ernährung, von Schlaf. Und er erwähnte: „Du musst dich behandeln lassen.“ Aber da ich nicht krank bin … Von da an forschte ich nach. 1981 war ich bei den Injektionen gelandet, da die Pillen Probleme machen: zuviel davon, schaden sie der Leber. Und die Hälfte der Wirkung geht durch die Verdauung verloren. Bei den Spritzen trifft die Wirkung dagegen sofort ein.
Ich bat einen befreundeten Fahrer aus Auberville um Hilfe. Er legte mich bäuchlings auf eine Bank des Clubs und zog mir die Hose runter bevor er mir erklärte, wie man eine Injektion in den Po machte. Das einzige Risiko bestünde darin, eine alte Spritze zu benutzen. (…)
Man steigt in den Kreis der Kerle auf, die den Ton angeben. Man ist Teil von etwas Geheimen. Und dann natürlich ist das ein Spiel: Der gewinnt, der das beste Produkt findet. So gesehen war ich gut platziert: Der Arzt des Clubs hatte mir den Vidal (Lexikon mit allen in den Apotheken erhältlichen Produkten) gegeben und ich verbrachte viel Zeit damit die Zusammensetzung jedes Mittels herauszubekommen, um zu sehen, ob ein anderes Medikament die Substanz nicht noch in größerer Menge enthielt. Alle Produkte, die man damals einnahm, waren in den Apotheken erhältlich. Es gab keinen illegalen Handel daneben.
(…) Ich erinnere mich an eine Kontrolle, die von Doktor Porte durchgeführt wurde, heute Chef-Mediziner bei der Tour de France. Ich sagte ihm: „Wenn du Anabos, Cortison oder Testos findest, pisse ich nicht!.“ Er lachte sich schief: „Wenn man das finden könnte, das wäre bekannt ….“ Beim Weggehen setzte ich mir vor seinen Augen eine Spritze mit Amphetaminen um zu feiern. Er hat nicht mit der Wimper gezuckt.
(…)
Nur ein Beispiel (dafür, dass alle bescheid wussten): eines Abends während der olympischen Spiele in Los Angeles 1984 kam Dr. Vrillac, Chefmediziner der Olympiadelegation, in mein Hotelzimmer und bat mich um eine Pille für einen Jungen, der durch Cortisonmissbrauch blockiert war. Wie surreal! Heute erinnert er sich an nichts. Aber ich habe die Aussage eines Fahrers, der damals mit anwesend war. Maurice Vrillac ist heute Präsident der medizinischen Kommission des Olympischen Komitees Frankreichs CNOSF… (2) (…)
Die Athleten wollten (von mir) wissen: „Wie erreiche ich die beste Leistung?“ Die Diskussionen fanden meistens in der Cafeteria (des INSEP) in Anwesenheit eines Trainers statt. Völlig straffrei. Oft habe ich mit einem Produkt ausgeholfen. Aber während meiner Karriere habe ich niemals etwas verkauft, da alle meine Produkte von einem Arzt verschrieben waren und von der Polizeiversicherung erstattet waren …
(…)
Bereits 1985, als ich der einzige französische Medaillengewinner bei den Bahnweltmeisterschaften war, habe ich erklärt, dass ich gegen Doping bin aber mich dopen muss. Meine Äußerungen wurden verschwiegen. Der Verband benötigte für das nächste Jahr ein Budget vom Ministerium … 1988 befragte mich das Fernsehen zu Ben Johnson. Ich sagte laut und deutlich, dass ich mich während meiner Karriere dopte (Anabolika, Corticosteroide, Amphetamine, Kokain) ohne jemals positiv getestet worden zu sein. Von da an begann man mich auszuschließen. Einer meiner besten Freunde von der Bahn sagte mir:
„ Durch deinen Mist werden wir uns nichts mehr in den Hintern geben können!“
(…)
(1) Philippe Boyer, Champion, flic et voyou, éditions de La Martinière
(2) Maurice Vrillac zu den Aussagen von Boyer: „Das gehört ins Reich der Fabel. Niemals hat mir Philippe Boyer Medikamente geliefert. Während der Spiele 1984 war ein Fahrer sehr krank aufgrund von Dopingprodukten. Philippe Boyer, der eine wahre Enzyklopädie des Dopings war, sagte mit lediglich, dass der Fahrer mit den Corticoiden übertrieben hätte.“ Le Monde, 11.10.2003