Alltag und Sport: NEM- und Medikamentenmissbrauch
Zum Missbrauch von Nahrungsergänzungsmitteln und Medikamenten
Alltagsdoping, Doping im Sport – wo ist die Grenze, warum ist es hier erlaubt und da verboten? Ist das eine weniger problematisch als das andere?
In der Doping-Prävention spielen diese Fragen eine herausragende Rolle.
Im Folgenden zitiere ich einen Text von
Prof. Gerhard Treutlein, Manuel Ruep und der Teamergruppe Radsport der dsj.
Nachzulesen ist er auf der Arbeitsmaterialien-CD der Arbeitsmappe „Sport ohne Doping“, erhältlich bei der Deutschen Sportjugend dsj:
>>> „Sport ohne Doping“, Materialien
Wie viel Optimierungswahn vertragen Mensch, Gesellschaft und Sport?
Der Griff zu leistungssteigernden Medikamenten und Drogen ist kein isoliertes Problem des Sports, sondern ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Warum soll sich dann der Jugend-, Freizeit- und Breitensport mit dieser Missbrauchsproblematik beschäftigen, wo er doch auch so schon genügend Aufgaben hat? Will der organisierte Sport nur so gut oder schlecht wie die Gesellschaft sein, dann kann er diese Thematik vernachlässigen. Will er aber ein Modell für einen vernünftigen Umgang mit dem Körper und seinen Ressourcen sowie für Körperertüchtigung und Leistungssteigerung als Arbeit an der Persönlichkeit und Gesundheit von Menschen sein, dann muss er dieses Thema aufgreifen und bearbeiten. In nicht wenigen Fällen, vor allem im Leistungssport, ist der Sport bisher ein Modell für einen unvernünftigen Umgang mit Medikamenten und Nahrungsergänzungsstoffen sowie im Vergleich zur allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung oft ein Negativmodell. (…)
Alltagsdoping und Medikamentenmissbrauch –
auch ein Thema für den Breiten und Freizeitsport
(…) Bei der Verwendung der Definition „Doping ist alles, was für an Wettkämpfen teilnehmende Sportlerinnen und Sportler nach den Listen von WADA und NADA verboten ist“ wäre dies kein Thema für den Breiten- und Freizeitsport. Und manche wenden dann zusätzlich ein, dass man Doping eigentlich freigeben sollte, zumal es im Alltag vielfältige Formen des Medikamentenmissbrauchs gäbe. Dagegen ist einzuwenden, dass es für den Wettkampfsport schriftlich fixierte Regeln gibt, die den Charakter dieses Sonderbereichs der Gesellschaft bestimmen und deren Einhaltung die Idee des modernen Sports und dessen Moral sichern wie Fairplay, Unversehrtheit des/der Athleten/-in oder Chancengleichheit.
Da der Spitzensport Vorbildcharakter zumindest für den Jugendsport hat, müssten sich Befürworter/-innen einer Freigabe des Dopings die Frage stellen: Was wäre, wenn Doping freigegeben würde? Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass dann Leistungssportler/-innen auf allen Niveaus noch mehr nach den wirksamsten Medikamenten suchen würden. (…)
Im Alltagssprachgebrauch steht der Begriff „Doping“ schon seit langem für jegliche Form des Medikamentenmissbrauchs, die eine Leistungssteigerung verspricht, oder sogar für Leistungssteigerung insgesamt wie z.B. die Haare oder den Computer dopen. Mögliche damit verbundene Probleme sind nicht bewusst oder werden unterschätzt.
Missbrauch kann Abhängigkeit bzw. Sucht mit sich bringen, aber auch Organschädigungen (z. B. die Leber, die Nieren oder das Herz betreffend) bis hin zum Tod; letztlich handelt es sich um einen Perfektionierungsdrang oder auch Optimierungswahn – der Mensch soll immer besser, schöner, leistungsfähiger werden, aber um welchen Preis? Alltagsdoping ist die tägliche Chemie für die Seele, der Versuch, ohne große Anstrengung gesellschaftliche Erwartungen zu erfüllen, Probleme zu kaschieren, Leistungsfähigkeit und Erfolg zu demonstrieren. Alltagsdoping findet in Form einer selbstverständlichen Einnahme „leistungssteigernder Produkte“ wie Energy-Drinks, Diätprodukte, Appetitzügler, Schmerztabletten usw. statt. (…)
Gab es bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein primär die Gesundheitsmedizin (Hauptaufgabe: Gesundheit wiederherstellen und erhalten), ermöglichen die Fortschritte von Pharmakologie und Medizin eine „Bequemlichkeitsmedizin“. Diese sieht es als ihre Aufgabe an, unangenehme Zustände auszuschalten (z.B. durch Schmerzmittel), angenehme Zustände herzustellen (z.B. durch Psychodrogen) und Ziele ohne große Anstrengung zu erreichen (z.B. durch Schönheitsoperationen, durch Körpermanipulation mit Hilfe von Anabolen Steroiden). Über Risiken und Nebenwirkungen wird meist erst gesprochen, wenn diese schon eingetreten sind. Medikamente statt Training und Anstrengung im Sport, Freude über die Wirksamkeit von Medikamenten statt über die eigene natürliche Leistungsfähigkeit – soll dies die Zukunft von Bewegung, Spiel und Sport sein?
Selbst den Gebrauch von Schmerzmitteln müsste man eigentlich unter dem Begriff „Doping“ einordnen. (…)
Für den Breiten- und Freizeitsport sollte im Zentrum des Interesses die Beschäftigung mit dem Begriff „Dopingmentalität“1 (vgl. Laure 1997) stehen, d.h. mit der Bereitschaft, natürliche Grenzen mit Hilfe von Mitteln zu verändern, mehr aus sich rausholen, als normalerweise möglich wäre, also im Zweifelsfall Perfektionierung um jeden Preis. (…)
Verwendet werden legale und illegale Medikamente und Drogen. Zu den legalen Drogen gehören Alkohol, Tabak und Koffein. Illegale Drogen sind Amphetamin, Ecstasy, Cannabinoide, Heroin und Kokain. Eine Verwendung findet teilweise auch im Leistungssport statt. Beispiele für weitere beim Alltagsdoping verwendete Mittel (meist in Überdosierung): Hustenmittel (…), Ritalin (…), Modafinil (…), Schmerzmittel (…), Beruhigungsmittel (…), anabole Steroide (…).
Entwicklung von Problembewusstsein
Veränderung setzt Problembewusstsein, manchmal sogar Leidensdruck voraus. Grundlage für Veränderungsbereitschaft ist Wissen. An Wissen um die Nebenwirkungen des Alltagsdopings fehlt es. (…)
Dopende Leistungssportler/-innen werden sehr negativ eingeschätzt, während Medikamentenmissbrauch und Substitution in der Gesellschaft insgesamt eher als erwünscht gelten. Folgende Entwicklungen haben die Problemlage verschärft:
• Bodybuilding und später Fitnesszentren wurden im Lauf der letzten Jahrzehnte zu Experimentierfeldern
• Die Entwicklung einer Dopingmentalität ist heute schon ab den ersten Lebensjahren möglich – früher gab es die Möglichkeit der Gabe von Vitaminen und anderen Zusatzstoffen nicht. (…)
• Auch außerhalb des Wettkampfsports wird im Sport häufig eine Dopingmentalität an den Tag gelegt. Muskeln müssen schneller aufgebaut werden, Ausdauerverbesserung darf kein langer, stetiger Prozess sein, die Figur soll möglichst schnell den Erwartungen und Wünschen angepasst werden. Schmerzmittel sollen die Trainingsbelastungen erträglicher machen. (…)
• Erst am Ende einer Entwicklung steht Doping im Leistungs- und Spitzensport: Von den Vitaminpillen über Medikamentenmissbrauch zum Doping. (…)
Der Weg von den legalen Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln zum Doping ist schleichend. Der Amateursport kann über Bildungsarbeit und Prävention wesentlich dazu beitragen, dass eine solche Entwicklung nicht zwangsläufig ist bzw. seine Aufgabe ist es, mit Primärprävention zu beginnen, bevor Versuchungssituationen im Leistungssport eintreten oder um Freizeit- und Breitensportler/-innen über den Unsinn von Medikamentenmissbrauch oder zu frühzeitiger Verwendung von Nahrungsergänzungsmitteln aufzuklären und davon abzuhalten. Ergänzend muss zudem die Entwicklung und Verstärkung von Schutzfaktoren hinzukommen wie mentale Stärkung (…), soziales Netz, gesunde Lebensführung, was Knörzer et al. unter dem Begriff „kompetenzorientiete Dopingprävention“ fassen. (…)
Patrick Laure (Antidopingveranwortlicher für Lothringen/Frankreich) macht für die Entstehung von Dopingmentalität im Sport eine negative Konstellation von psychosozialen Faktoren (wie z.B. Geschlecht), Anreizfaktoren (z.B. Milieu im Sportverein, Wunsch nach Vermeidung von Ermüdung, soziale Anerkennung, Verdienstmöglichkeiten) und auslösenden Faktoren verantwortlich (z.B. Selektionsdruck) (Laure 2006, 56). Deshalb darf Prävention nicht bei der Verhaltensprävention (Veränderung des Verhaltens von Menschen) stehen bleiben, die Verhältnisprävention (Veränderung von missbrauchsbegünstigenden Strukturen) muss ergänzend hinzukommen, zum Beispiel durch: Information und Beeinflussung von Ärzten/-innen, Funktionären/-innen, Trainern/-innen, Übungsleitern/-innen ebenso wie Ausbildungsordnungen, Selektionsverfahren, Besetzung von relevanten ehren- und hauptamtlichen Positionen. Schule, Verein und Verband sollten in die Aufgabenstellung der Prävention von Medikamentenmissbrauch und Nahrungsmitteln einbezogen werden.
Beispiele für Forschungsergebnisse und Erfahrungen zu einigen Ursachen und Risiken der Entwicklung von Dopingmentalität
Die Beispiele seien hier nur kurz erwähnt:
– Jungen sind für harte Dopingmittel anfälliger als Mädchen
– überzogenes Körperideal
– besondere Gefährdung von Fitnesscenter-Besucher/-innen
– Falschinformationen via Internet
– Zusammenhänge zwischen Medikamentenmissbrauch und Genuss anderer Drogen wie Zigarretten und Alkohol sowie gestörtem Sozialverhalten
– Cannabiskonsum im Jugendalter
– Zusammenhänge zwischen falschem bzw. zu hohem Trainingsumfang im Kindes- und Jugendalter und Drogenkonsum
– Mittelkonsum im Kindesalter erhöht häufige Mitteleinnahme in späteren Jahren
– hohe Einnahmeraten psychoaktiver Substanzen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen (amerikanische Collegestudenten, Militär, Musiker)
– Zusammenhang zwischen Missbrauch psychoaktiver Substanzen und psychischen Poblemen
– die TOP 5-Mittel bei Freizeitsportlern/-innen sind: Stimulanzien, Anabolika, Peptidhormone, Narkotika, Nahrungsergänzungsmittel
Zur Situation von Alltagsdoping und Medikamentenmissbrauch
Alltagsdoping rückt schleichend vor als Folge eines Menschenbilds, das den Menschen als Mängelwesen betrachtet, dem für Gesundheit, Gesellschafts- und Leistungsfähigkeit stets etwas zugeführt werden muss. Bei Kleinkindern sind das Vitamine, bei Kindern und Jugendlichen anregende oder dämpfende Medikamente. Nach einer Luxemburger Studie ist die Bereitschaft zur Verwendung illegaler Drogen umso größer, je umfangreicher die Vorerfahrung mit legalen Schmerz-, Schlaf- oder Aufputschmitteln ausfällt: „Wenn Heranwachsende schon in frühester Kindheit daran gewöhnt werden, alle körperlichen und psychischen Probleme mit Hilfe einer Pille zu regeln, wird das Hirn so programmiert, dass die Fähigkeit, Probleme aus sich heraus zu lösen, verloren geht.“ (Amendt, 15.8.2004) (…)
Das Problematische dabei ist: Kinder lernen von klein auf: Wenn ich etwas erreichen oder vermeiden will, dann muss ich etwas zusätzlich machen. Anstrengung oder Abwarten reichen nicht aus, wenn ich dem gesellschaftlichen Leitbild des leistungsfähigen Menschen entsprechen will. Auf diesem Wege geht die Hemmung vor der Einnahme von Substanzen und Medikamenten verloren. Auf dieser Basis ist später der Schritt zu illegalen Drogen und zum Doping im Leistungssport wesentlich leichter.
Mindestens ein Drittel der Schüler/-innen in Deutschland nimmt regelmäßig Medikamente gegen Schulstress und Leistungsüberforderung, meist als Folge eines so empfundenen enormen Leistungsdrucks4. Übermedikation pathologisiert die Kindheit und therapiert sie pharmakologisch. Die Warnungen vor späteren Hirnschäden häufen sich. Grundsätzlich sollten Kinder – ebenso natürlich Erwachsene – so wenig wie möglich die Erfahrung machen, dass sie nur mit Hilfe einer Pille funktionieren können.
Schmerzmittel und Nahrungsergänzungsmittel sind häufig für Erwachsene wie Jugendliche, für Eltern, Trainer/-innen, Betreuer/-innen und Ärzte/-innen selbstverständlich. Nach Hans Geyer (Dopinglabor Köln) gibt es Sportarten, in denen 100% der Athleten/-innen Schmerzmittel nehmen, vor allem im Gewichtheben, Fußball, Radsport und der Leichtathletik. Nebenwirkungen von Schmerzmitteln können etwa sein die Gefährdung des Magen-Darm-Trakt oder der Blutgefäße; das Risiko eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls kann steigen. Bei Dopingkontrollen muss angegeben werden, was ein/e Athlet/-in in den letzten 48 Stunden an nicht verbotenen Mitteln eingenommen hat; manchmal werden rund 30 Substanzen und Medikamente aufgeführt, eine völlige Überlastung für jeden Organismus!
Jeffrey Sallen (Universität Leipzig) befragte Schüler/- innen der Klassenstufen 10 bis 12 an vier Eliteschulen des Sports. (…) Er kommt zum Fazit: „Die Verbreitung von Supplementen unter Jugendlichen im Nachwuchsleistungssport hat ein Ausmaß erreicht, das die bisherigen Befunde zur deutschen Allgemeinbevölkerung und zur Gruppe der Wettkampfsportler/-innen übertrifft. In Anbetracht der noch wenig gesicherten Ergebnisse über die Wirkung von Supplementen und des Expertenurteils, dass Leistungssportler/-innen nur in Ausnahmefällen einen medizinisch begründeten Bedarf an Nahrungsergänzungsmitteln haben (Schek 2001), signalisieren die vorliegenden Ergebnisse Handlungsbedarf. Zu erkennen ist auch, dass die Selbstmedikation unter Jugendlichen etabliert ist“ (Sallen 2008, 301).
Nahrungsergänzungsmittel (NEM)
Mit Nahrungsergänzungsmitteln wird versucht, den menschlichen Stoffwechsel mit bestimmten Nähr- und Wirkstoffen zu versorgen, die im Grenzbereich zwischen Arzneimitteln und Lebensmitteln einzuordnen sind. (…)
Bei nachgewiesenen Mangelerscheinungen haben NEM einen Sinn, vor allem bei alten Menschen. Werden sie aber bei Kindern und Jugendlichen aus Angst vor Mangelzuständen oder zur Verbesserung des Immunsystems vorbeugend eingesetzt, können sie in mehrfacher Hinsicht fatale Wirkungen haben:
• Sie fördern die Dopingmentalität (…)
• Sie verleiten den Organismus zur „Bequemlichkeit“ (…)
• Zusätzlich kann der Organismus selbst aus optimaler Ernährung bestimmte Stoffe nicht mehr verwerten (…)
Weitere Inhaltspunkte sind:
Präventionsmethodik / Aufgaben für DOSB, dsj und Landessportbünde/- verbände /
Für die Erhaltung der gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung des Sports!
Monika 2008