Guariniello, Raffaele: Staatsanwalt Turin

2013 Interview mit Raffaele Guariniello, Staatsanwalt Turin

In der Ausgabe SPORT & VIE Nr. 136, Januar 2013 erschien unter dem Titel Cadavre exquis ein Interview mit dem Turiner Staatsanwalt Raffaele Guariniello, der schon seit den 1990er Jahren intensiv mit Korruptions- und Dopingverfahren des Sports befasst ist. Besonders bekannt wurde er mit dem Prozess um Juventus Turin, der 1998 begann und mit seinen Ermittlungen in den Erkrankungsfällen an amyotrophe Lateralsklerose/Lou-Gehrig Syndrom im Fußball:
>>> doping-archiv.de: Doping im italienischen Fußball

Guariniello sieht den wichtigsten Grund darin, warum im Radsport die weit reichendsten Dopingaffairen publik werden, vor allem darin, dass in diesem Sport wesentlich weniger finanzielle Ressourcen vorhanden sind als z. B. im Fußball, aber auch darin, dass in diesem Sport mittlerweile eine Reihe von Menschen aktiv sind, die aktiv gegen diese Betrugskultur vorgehen. Für einen effektiven Antidopingkampf verlangt er dringend die Gründung eine europäische Anklagebehörde mit unabhängigen Ermittlern, die ohne Rücksicht auf nationale Vorgaben aktiv werden können. Gegenwärtig seien befriedigende grenzüberschreitende Untersuchungen nur schwer durchzuführen.
Das Interview erschien in Französisch.

Zitate/ Zusammenfassungen aus dem SPORT&VIE-Interview:

Raffaele Guariniello antwortet auf die Frage, ob er selbst den Sport liebt, mit ja. Als Kind habe er selbst begeistert Fußball gespielt und für die damaligen Helden geschwärmt. Nun ließ seine Arbeit ihm lediglich noch etwas Zeit für tägliches Fitnesstraining. Er sei aber immer noch ein wahrer Tifosi, begeistert vom Radsport und dem Fußball, und er sei trotz allem Fan von Juventus Turin. Er sieht seine Ermittlungen durchaus im Sinne der Fans, die vermutlich auch ein Interesse daran haben, dass ihr Sport nicht immer wieder beschmutzt wird.

Ihnen wird häufig vorgeworfen, sie wollten „den Sport töten“.
Das erstaunt mich nicht. Ähnliche Reaktionen beobachte ich bei anderen Ermittlungen auch, z. B. bei Ermittlungen gegen Industrieunternehmen wie Ilva di Teranto. Alle Studien hatten gezeigt, dass diese Fabrik die Gesundheit der Bewohner der Stadt schwer gefährdete. Trotzdem protestierten die Arbeiter gegen die Schließung. Die Leute kämpften für ihre Arbeitsplätze. Ich verstehe deren Reaktion, doch andererseits waren sie die Hauptopfer der Verseuchung.

Ist dieser Vergleich zwischen den Arbeitern des Stahlwerks und den steinreichen Clubpräsidenten und überbezahlten Spielern nicht etwas gewagt?
Ich gebe ihnen recht. Ich wollte damit sagen, dass man sich bei Stahlarbeitern und Fußballern den selben feindseligen Reaktionen gegenüber sieht und eine Zusammenarbeit verweigert wird. Das ist paradox, da die Untersuchungen häufig deshalb vorgenommen werden, um eben diese Personen vor Kriminellen zu schützen, die Profit aus dem Gesetzesbruch ziehen. Mein Aufgabe ist es die Arbeiter zu schützen.

Guariniello sieht keinen Grund zu verzagen oder den Kampf gegen Korruption und Doping im Sport aufzugeben. Es gäbe durchaus viele Möglichkeiten erfolgreich zu sein, zumal es viele Personen im Sport gibt, die sich ernsthaft bemühen und sich mit viel Kraft für Änderungen einsetzten. Das Bekanntwerden eines neuen Skandals ist für den Staatsanwalt kein schlechtes Zeichen sondern zeigt, dass Polizei und Justiz ihre Arbeit gut machen. Hier sieht er Italien in einer besseren Position als andere Länder.

Welches sind Ihrer Meinung nach die dringendsten und wirkungsvollsten Maßnahmen, die gegen das sich ausbreitende Doping ergriffen werden sollten?
Zuerst benötigen wir eine juristische Organisation auf europäischer Ebene. Wenige Leute wissen, dass die Europäischen Abkommen die Möglichkeit vorsieht, dass eine europäische Anklagebehörde/Staatsanwaltschaft mit Stellen für internationale Staatsanwälte geschaffen werden kann, die unabhängig ermitteln könnten, ohne nationale Vorgaben. Seit zehn Jahren spricht man nun schon darüber. Doch das ist die Voraussetzung für den Kampf gegen die Netzwerke des Dopingmittelhandels. Wir befinden uns heute in einer absurden Situation gegenüber Kriminellen, die ohne Probleme von einem Land ins nächste wechseln können, während den Beamten an den Grenzen die Hände gebunden sind. Man ist daher immer gezwungen die Kollegen um Unterstützung zu ersuchen. Manchmal klappt das gut. Oft stößt man dabei aber auf Empfindlichkeiten und Vorbehalte. Und ganz klar, es gibt Länder, die Sträuben sich gegen eine Zusammenarbeit.

Gefragt nach seinen Empfindungen anlässlich des Todes von Marco Pantani, spricht Guariniello von großer Traurigkeit, die ihn damals wegen des großen menschlichen Dramas erfasst hatte und ihn darüber nachdenken ließ, ob Sportler nicht häufig empfindlichere Personen seien, als viele gemeinhin annähmen oder manche selbst von sich denken. Den Fall Armstrong sieht er jedoch anders. Hier habe es sich ein immenses Täuschungsszenario gehandelt und die Aufklärung habe ihn gefreut. Schon weil die Angelegenheit zeigte, dass, wenn die Anstrengungen der Ermittler gebündelt und forciert werden, gute Erfolge erzielt werden.

Gleichzeitig bedaure ich, dass es vergleichbare Ergebnisse immer nur im Radsport gibt, niemals in anderen Sportarten. Klar, ich weiß, dass Doping im Radsport endemisch ist. Aber in diesem Milieu finden sich auch die meisten mit dem Willen das Problem an der Wurzel zu packen und auch die meisten ehrenhaften und mutigen Zeugenaussagen. Genau genommen sind die einzigen Ermittlungen, die Ergebnisse zeitigen, die aus dem Radsport.

Warum?
Weil es im Radsport etwas einfacher als anderswo ist. Die Dopingmethoden, die am wirkungsvollsten sind, sind nicht unbedingt diejenigen, die am schwierigsten nach zu weisen sind. Die Tatsache, dass es sich um einen Sport handelt in dem von einem Ort zum nächsten gereist wird, erleichtert ebenfalls die Kontrollen und die Durchsuchung des Gepäcks. Und, man darf es nicht verschweigen, der Radsport hat nicht die finanzielle Macht wie z. B. der Fußball. Die Juventus-Ermittlungen haben ein extrem komplexes und raffiniertes, ja auch wissenschaftlich fundiertes Dopingsystem offen gelegt! Der Terminus Doping ist übrigens nicht der am besten geeignete, denn man hat gesehen, dass die Spieler Behandlungen mit Mitteln hatten, die nicht unbedingt auf der Liste der verbotenen Substanzen verzeichnet sind, die aber dennoch die Leistung verbessern können. Es handelte sich dabei um eine extrem fein ausgeklügelte System, das es den Protagonisten [des Prozesses] möglich gemacht hat, unbeschadet aus allem heraus zu kommen. Das ist das ganze Problem des Antidopingkampfes. Manchmal kann man einzelne Athleten überführen, doch den Netzwerken steht man unbewaffnet gegenüber.

Ihre Ermittlungen über die mystriöse Epidemie von amyotrophe Lateralsklerose/Lou-Gehrig Syndrom unter ehemaligen Fußballspielern legt den Gedanken nahe, dass die Präparationsmethoden der großen Clubs, selbst wenn sie zulässig sind, schlimme gesundheitliche Konsequenzen nach sich ziehen können.
Dessen kann man sich nicht sicher sein, man kann es aber auch nicht ausschließen. Um sicher zu sein, müsste man die Untersuchungen auf andere Länder ausdehnen und die Mittel/Methoden hierzu müssten sich auf der selben Ebene wie der unserer Gegner bewegen. Gegenwärtig gibt es eine große Diskrepanz zwischen den Möglichkeiten, die diesen professionellen Strukturen zur Verfügung stehen und den unseren. Wir erleben manchmal idiotische Situationen, in denen von außen gesehen alles klar aber nach innen alles verdeckt ist. Am besten zeigt sich das wahrscheinlich immer noch an der Art und Weise, wie das Antidoping-Labor an der Sportschule von Acquacetosa, das vom italienischen Olympischen Komitee anerkannt war, funktionierte. Tausende von Proben testete man in seinen Mauern ohne jemals eine positive gefunden zu haben. Damit man glaube, der italienische Sport sei der sauberste der Welt.

Der Staatsanwalt ermittelte viele Jahre in der Amateur-Radsport- und Bodybuildingszene. Er setzt auch die Forschungen zur SLA-Problematik im Fußball fort. Leider erhalten er und seine Mitarbeiter hierzu keinerlei Hilfen aus den betroffenen Ländern. Auch die internationalen Verbände verweigern sich. Mehrfach habe er FIFA und UEFA um Unterstützung gebeten, schließlich ginge es doch um die Gesundheit ihrer Spieler, um die sich sich wenigstens ein bisschen Sorgen machen müssten, doch ihm sei nur mit Misstrauen und Zurückhaltung begegnet worden.

Druck von Seiten der italienischen Regierung gäbe es nicht. Es sei sehr schwer einmal begonnene Untersuchungen zu stoppen, nichtsdestotrotz sei es der Politik möglich, einem das Leben zu erleichtern oder zu erschweren. …

Das Interview führte Antonio Felici.