2007 Harm Kuipers, IOC- und WADA-Mitglied über Doping
2007 erschien im Magazin Schaatssport der Koninklijke Nederlandsche Schaatsenrijders Bond (KNSB) (Niederländische Eisschnelllauf-Verband) 4/2007 die Zusammenfassung eines Vortrags von Harm Kuiper, Mitglied der Medizinischen Kommission des IOC und der World Anti-Doping Agency (WADA) und der ISU. Der ehemalige erdolgreiche Eisschnelläufer hat eine Professur an der Universität Maastricht Bewegungswissenschaften. Seine Ausführungen stehen in krassem Widerspruch zu gängigen Antidoping-Vorstellungen und Maßnahmen.
Marleen Vriezen schrieb den Vortrag von Professor Harm Kuipers für das Magazin Schaatssport (Amersfoort, Niederlande) auf; Egon Boesten übersetzte den Text. Quelle: KNSB, SchaatsSport 2007/4.
Zitate:
Leistungsverbessernde Effekte von Doping seien zu vernachlässigen sagt Harm Kuipers, Mitglied der Medizinischen Kommission des Internationalen Olympischen Komitees (IOC).
Es ist wenig bekannt darüber, wie Doping funktioniert und wirkt, gerade bei den Sportlern selbst; deshalb weiß man auch noch zu wenig über die wirklichen Gefahren des Dopings. „Das ist eine schlechte Sache“, sagt Harm Kuipers. Der das sagt, ist kein Geringerer als Harm Kuipers, 60 Jahre alt, Professor für Bewegungswissenschaften an der Universität Maastricht. …
Kuipers ist der Überzeugung, dass der Schlüssel zur Lösung des Doping-Problems beim Sportler selbst liegt, in der Offenheit und im Wissen im Sport selbst.
Der Kampf gegen Doping artete in den vergangenen Jahren besonders im Radsport und in der Leichtathletik in einer Art Hetzjagd aus. Prominente Sportler wie Floyd Landis und Marion Jones wurden erwischt und mussten ihre gewonnenen Medaillen und Preise abgeben. In der Tour de France mussten im vergangenen Sommer Radrennfahrer Anti-Doping-Erklärungen unterzeichnen, Fahrerhotels wurden auf den Kopf gestellt wie bei einer Razzia, das deutsche Fernsehen weigerte sich, die Berichterstattung über die Tour fortzusetzen, nachdem Alexander Winokurow überführt worden war und als besonderer Tiefpunkt sah sich Sponsor Rabobank genötigt, seinen Top-Fahrer und Träger des gelben Trikots, den Dänen Rasmussen, aus dem Rennen zu nehmen.
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Aus diesem Blickwinkel sind die Erkenntnisse des Doping-Experten Harm Kuipers aus den Niederlanden zumindest bemerkenswert zu nennen. „Doping wirkt nicht leistungsfördernd“, so lautet sein Urteil.
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Die ersten Hinweise darauf, dass Doping nicht leistungsfördernd sei, erbrachten Untersuchungen, die er im Eisschnelllaufen durchführte. „Bei Blutmanipulation mittels EPO werden mehr rote Blutkörperchen produziert. Das darin befindliche Hämoglobin sorgt für mehr Sauerstoff, und mehr Sauerstofftransport bedeutet eine Ausdauerleistung. Wenn das so ist, sollte man meinen, dass es besondere Effekte in einer Sportart an erster Stelle hätte, also im Eisschnelllaufen. Untersuchungen legten anderes nahe. Seit 2000 halten wir Datenbanken aller Top-Läufer auf dem neuesten Stand, und dabei stellen wir überhaupt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Hämoglobin-Gehalt und Erfolgen fest. Auch nicht über die verschiedenen Jahre gemessen. Bei der WADA haben wir weil unsere Untersuchungsergebnisse so überraschend waren dann beschlossen, dies in mehreren Sportarten zu testen. Zusammen mit diversen Fachverbänden haben wir danach geschaut, welche Datenbanken verfügbar sind zum Beispiel bei der UCI, der Internationalen Radsportunion, und der IAAF, dem internationalen Leichtathletik-Verband ergaben Tests ähnliche Resultate besser gesagt: überhaupt keine Zusammenhänge wie beim Eisschnelllaufen.“
Früher erkannte man schon, dass die leistungsverbessernden Effekte von Amphetaminen in den 80er-Jahren ein sehr populäres Mittel, um sich zu dopen, zu vernachlässigen waren. Kuipers:
„Inzwischen wissen wir, dass Amphetamine das maximale Leistungsvermögen sogar herabsenken, anstatt es zu heben. Ich habe sogar schon mal gesagt, dass man Leuten, die mit Amphetaminen erwischt worden sind, ihre Medaillen nicht abnehmen sollte, sondern eigentlich sogar eine zusätzliche Medaille mitgeben sollte weil sie trotz des Gebrauchs der Amphetamine gewonnen haben. Das ist eigentlich eine sehr gute Leistung.“
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„EPO-Untersuchungen haben ergeben, dass die maximale Sauerstoffaufnahme zwar nach oben geht, aber das Ganze hat keinen Einfluss auf die Leistung. Die höchste Hämoglobin-Aufnahme sorgt sogar für die geringste Leistungssteigerung.“ Das Leistungsvermögen steigt zwar ein bisschen. Beim Eisschnelllaufen wäre das wahrscheinlich der Unterschied zwischen Platz eins und Platz drei …. Dasselbe gilt übrigens auch für Wachstumshormone. Das ist nun ein Mittel, das zurzeit gefragt ist, um beispielsweise Muskelwachstum zu fördern und das sehr schwer aufzuspüren ist. Es gibt sehr viele Pistolengeschichten, die die Runde machen, aber alle Untersuchungen belegen, dass es eher kontraproduktiv wirkt. Es ist sogar so, dass Menschen, die von Natur aus zu viele Wachstumshormone produzieren, zum Arzt kommen und dort über Ermüdungserscheinungen klagen.
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„Ein bedeutend größerer Teil der Effekte von Doping ist durch die Vorstellungskraft zu erklären, die mit der Dopingeinnahme einhergeht. Bei Tests haben wir Menschen Mittel gegeben, ohne dass sie sehen konnten, was sie bekamen; wenn man die Vorstellungskraft, die mentale Seite, ausschließt, kommt heraus: Doping hat keinen Einfluss. Die Leistungen der Gruppe, die Placebos (Pillen ohne Mittel) genommen hat, waren sogar noch einen Tick besser als die Leistungen der Gruppe, die EPO erhalten hatte.
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Man sagt, dass das Publikum betrogen würde, aber man wird viel weniger beschummelt als man denkt. Sportler, die Dopingmittel zu sich nehmen, betrügen sich eigentlich selbst. Kein einziges Mittelchen macht aus einem mittelmäßigen Athleten einen Gewinner, und das Ergebnis eines Wettkampfes wird nicht durch pharmazeutische Mittel bestimmt. Man kann davon ausgehen, dass die Nummer 1 bis 10 zum Beispiel der Tour de France auch ganz einfach die zehn Besten sind; die Reihenfolge wird bestimmt durch mentale Faktoren.“
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„Anabole Steroide bei Frauen zeigen Effekte. Sie schaffen männliche Eigenschaften. … Siehe Florence Griffith. Weil Anabole nur die männlichen Eigenschaften verstärken, hat es bei Männern einzig und allein im Kraftsport Auswirkungen. Das ist dann auch gleich die Erklärung dafür, dass die frühere DDR immer in Frauensportarten dominierte. Das Ausdauervermögen wird bei Männern eben reduziert. Man sagt, Anabole würden den Regenerierungsprozess beschleunigen, aber auch das stimmt nicht. Die Herzfrequenz steigt zwar etwas, aber im Erholungsprozess ist keine Verbesserung zu sehen.“
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„Die Einnahme anaboler Steroide ist sehr gefährlich. Es kann einen höheren Cholesterinspiegel verursachen und vergrößert die Gefahr von Herz- und Gefäßerkrankungen. Daneben können Leberschäden auftreten; auf die Dauer kann dies sogar zu Leberkrebs führen. Wenn man EPO nicht kontrolliert, können hoher Blutdruck, Trombose oder Herzschmerzen die Folge sein. Daran sind auch schon Sportler gestorben.
Amphetamine können die Körperwärmeregulierung komplett aus dem Rhythmus bringen, wodurch der Körper sich selbst nicht mehr kühlt, man überhitzt wird. … Und das ist auch der Grund dafür, weswegen Leute im Nachtleben, auf der Piste, bei der Einnahme von XTC (Ecstasy) sterben. … Auch die Einnahme von Wachstumshormonen ist gefährlich. Es kann das Knochenwachstum gefährden und einen erhöhten Blutzucker und erhöhte Blutzuckerwerte zur Folge haben.
… Leider gibt es im Sport sehr viele Scharlatane, die mit großen Versprechungen Sportler wissentlich in Gefahr bringen.
Beispiel Fuentes: An den Geschichten, die über diesen Mann kursieren, kann man sehen, wie sehr er betrogen hat und welchen Risiken er die Sportler ausgesetzt hat. Es sind Fälle bekannt geworden, bei denen er Sportlern Blut verabreicht hat, das möglicherweise mit BSE verseucht war, und Blutkonserven, deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen war. Das ist wirklich Quacksalberei. Aber der Mann hat Flair also glaubt man ihm. Das hat wiederum mit der Unsicherheit der Sportler zu tun; sie wollen gern glauben.
Solange man einen Heiligenschein hat, kann man viel hinkriegen. Bis der erlischt. Diejenigen, die am meisten betrogen werden, sind die Sportler. Mancebo stürzte nach einer Bluttransfusion vom Rad, weil er falsches Blut bekommen hatte. Das muss bei Winokurow auch passiert sein, denn wenn er sein eigenes Blut bekommen hätte, wäre er nie aufgefallen. Das sind Fehler erster Klasse, die wirklich gefährlich für den Sportler werden können. Dass man in einigen Ländern als Sportler nichts zu sagen hat, ist ein echter Skandal. Sportler müssen mündiger werden, will man diesen Scharlatanen Einhalt gebieten.“
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sport1, 30.3.2011:
„In meinen Augen ist Doping ein Vergehen und kein Verbrechen. Ein nichttalentierter Eisschnellläufer wird auch mit Doping kein Weltklassesportler. Es hilft nur marginal. Darum finde ich kürzere Strafen in Verbindung mit Geldstrafen angemessener. Das verhindert auch eine Prozesslawine, und der Sportler erhält schneller eine neue Chance. Wird er jedoch noch einmal erwischt, dann hat er nichts gelernt, und dann ist eine lange Sperre gerechtfertigt“, sagte Kuipers der „AD-Sportwereld“.“
„… Alles, was auf der Liste steht, suggeriert, es sei leistungsfördernd und dadurch wirkt es für den einzelnen Sportler sehr anziehend. Damals wurden Kriterien für diese Dopingliste aufgestellt. Die wichtigsten waren: dass es leistungsfördernd und medizinisch gefährlich sein musste. Hinzugekommen ist, dass es auch dem Geist des Sports widerspreche. Eine Arznei oder ein Mittel, das mindestens zwei dieser Kriterien erfüllt, kommt auf die Liste. Ich würde dem gern hinzufügen, dass es in jedem Fall leistungsfördernd sein muss. Nun kommen auch Mittel auf die Liste, die medizinisch gefährlich sind und gegen den Geist des Sports verstoßen, das macht die Liste unnötig lang. Insuline und Morfine stehen deshalb immer noch darauf; das ist Unsinn. Die Mittel sind absolut nicht leistungsfördernd; dass sie auf der Liste stehen, macht sie unnötig anziehend, während es doch sehr gefährliche Substanzen sind. Ich bewerte das als einen großen Fehler.“
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„Einsicht ist nach meiner Meinung der große Schlüssel; deshalb verbinde ich mit Dopingkontrollen auch immer Aufklärungsarbeit. Es ist sehr wichtig, dass Sportler sich dessen bewusst werden, was Doping kann, besser gesagt, nicht kann und wo die Gefahren sind. Doping hat viel mit Einbildung zu tun, aber inzwischen werden die Sportler mit dieser Art von Suggestionen großen Gefahren ausgesetzt.“
Äußerungen Kuipers 2002
Bereits im Jahr 2002 argumentierte Harm Kuipers ähnlich und plädierte u.a. für die Entfernung des Insulins von der Verbotsliste.
Pro Cycling News, 12/5/2002:
„Dr Harm Kuipers told a conference in Madrid that only substances that could be shown both to enhance performance and to produce adverse effects in athletes‘ health should be prohibited.
He said that caffeine, narcotics such as heroin and morphine, glucocorticoids, pseudo ephedrine and cannabis were all likely to be removed when the World Anti-Doping Agency produces a revised list of banned substances next year.
He also warned that some substances currently prohibited, including insulin and possibly even human growth hormone (hGH), did not help performance but were being using by some athletes simply because they were on the banned list.
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„In the case of insulin there are serious side effects but no performance enhancement. Insulin should not be on the list.
„The motivation for adding insulin to the list of banned substances was the assumption that insulin injections could act as recovery enhancing means. However, there is no scientific basis for this assumption.
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„Although hGH appears to be used by several athletes, no study has shown any enhancing effect in any sport in healthy persons.
„Still they are widely used, probably because they are on the list and because its use cannot be detected yet.“
Diuretics could also be removed as new techniques of detection meant they were much less effective in masking drug-taking.
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„Doping should be considered as everything that is performance enhancing and dangerous to health. All substances not meeting those criteria do not belong on the list, in my opinion.
„I am convinced that doing this will contribute to a sport in which doping is very small and well controlled.“
In einer Veröffentlichung der Europäischen Union aus dem Jahr 2002 erläutert Harm Kuipers ebenfalls seine Sichtweise.
Christiane Peters, Thorsten Schulz, Horst Michna: Biomedical Side Effects of Doping:
„… An aspect of the doping regulations that should be realized is that the doping list in itself may stimulate doping use. Many athletes and people counseling athletes have the strong conviction that everything on the doping list must have a performance enhancing effect. Therefore, the doping list is also considered as a shopping list for athletes and coaches. A recent, regrettable step of the IOC was to add insulin to the doping list. Unfortunately, the knowledge of coaches is often overestimated and putting insulin on the list may encourage coaches and athletes to use it. This may lead to accidents because in athletes the insulin sensitivity is increased and therefore insulin injections may lead to an uncontrollable, life threatening hypoglycemia. This is surely not the intention of the doping regulations.“
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„One of the substances that needs further investigation is growth hormone. Although growth hormone appears to be used by several athletes, no study has shown any performance enhancing effect in any sport in healthy persons (Yarasheski 1994). On the contrary it is likely that hGH in healthy subjects may lead to performance decrements. Still they are widely used, probably because they are on the list, and because its use cannot be detected yet.
A group that can seriously be questioned following the two basic criteria is the group of narcotics. These strong pain killers have certainly a negative effect on sport performance, although specific research on the effects of these substances on sport performance are lacking. So it would be very unwise of a doctor to prescribe these and for an athlete unwise to take drugs out of this group before training or competition. If an athlete wants to use them or if a doctor wants to prescribe them, it is the responsibility of the physician. Sometimes the argument for putting this group on the list is that it may have serious side effects. However, putting substances on the list just because of serious side effects has little to do with unfair competition and should not be a reason to forbid them in sport. One should realize that for instance boxing, skiing and downhill cycling involves significantly more direct life threat than taking certain forbidden substances.“
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„In 1999 insulin was added to the list of banned substances. The motivation for adding insulin to the list with banned substances is probably the assumption that insulin may act as recovery enhancing means. However, there is no scientific basis for this assumption. Just the fact that insulin is on the list may encourage people to use it because of the assumed recovery-enhancing properties. This in turn may lead to uncontrollable hypoglycemia and death.
There are still several substances that need further research to assess the effects on sport performance. If there is any theoretical basis for a possible performance enhancing effect such substance should be maintained on the list until conclusive evidence is available.“ (S.115/116)