Die Rolle der Ärzte im Dopingkomplex und Suchtproblematik
Doping, Sucht und Sportmedizin: ein Plädoyer für Prävention und Hilfsangebote
Dr. William Lowenstein ist Generaldirektor der Klinik Montevideo (Paris), Institut Baron-Maurice-de-Rothschild, für Sucht-Forschung und -Behandlung, Mitglied des nationalen Rates zu Aids und der Gruppe Zukunftsorientierung (?) des ‚Rates zur Prävention und Kampf gegen Doping’ (CPLD). Unter seinen Patienten befinden sich ehemalige Leistungssportler, die heute süchtig sind. Nach Lowenstein keine isolierten Fälle, sondern ein weit verbreitetes Phänomen, das im Hochleistungssport angelegt ist und auf den unkontrollierten Dopingmissbrauch zurückgeht.
Haben die Leistungssportler von heute eine Chance dieser Gefahr aus dem Wege zu gehen oder bleiben sie mit den gesundheitlichen Folgen des Dopings allein? Müssen Gesellschaft und Medizin neue Wege gehen um helfend Einfluss zu nehmen?
In einem Beitrag der französischen Zeitung l’Humanité vom 22.7.2004 erläutert er seine Vorstellungen.
FÜR EINE MEDIZIN, DIE SICH FÜR DEN SPORTLER EINSETZT UND NICHT NUR SPORTMEDIZIN IST
Als Mediziner stelle ich mir angesichts des Dopings folgende Fragen:
Wie lassen sich die gesundheitlichen Gefahren, die mit den (Doping-)Praktiken einhergehen, verhindern, heilen und reduzieren? Wie können diese Gesundheitsmaßnahmen in den repressiven Kampf gegen Doping eingebunden bzw. auch unabhängig davon gestaltet werden?
Die erste Fragestellung setzt eine medizinische Annäherung ohne Verurteilung voraus, die durch nützliches Wissen ermöglicht wird, dem Schutz des Individuums dient und möglichst vielen zugänglich ist. Dopingprävention scheint ziemlich komplex, aber sie ist nicht schwerer als die Prävention in anderen Bereichen, die ebenfalls Risiken für Heranwachsende oder Erwachsene bergen: Wie im Falle sexueller Praktiken und damit verbundener Aids- und Hepatitisgefahren, des Autofahrens und der damit möglichen Unfälle auf öffentlichen Straßen, der Suchtgefahren, die mit dem Konsum von Tabak, Alkohol, Cannabis, Ecstasy, Kokain und Heroin einhergehen. Die internationale Präventionserfahrung spricht einerseits für frühzeitige schulische Vorbeugung (zwischen sechs und elf Jahren) und andererseits für einen Dialog, der dem Schutz dient, klar, pragmatisch und der das breite Publikum anspricht (eher für einen Dialog, der ehrlich ist, als für einen, der moralisch daherkommt). Die schulische Vorbeugung ist tatsächlich wirkungsvoll, da sie sich an Kinder richtet, die (noch) davon träumen, es den Großen, den Erwachsenen gleich zu tun: Sich jeden Tag die Zähne zu putzen, sich im Auto anzuschnallen, unseren Planeten nicht zu beschmutzen und dem Papa zu sagen, nicht zu rauchen oder Alkohol zu trinken, da das schlecht für die Gesundheit ist. Diese erste Vorbeugung könnte in den Schulen unter einem Namen laufen, im Rahmen eines allgemeinen Programms zum Schutze der Gesundheit (protection du patrimoine santé). Wer sollte dafür zuständig sein? Der Lehrer, jemand von außerhalb, Eltern von Schülern? Alle? Das muss noch bestimmt werden, weitsichtig (ohne Kirchtumspolitik), durch den Minister für Sport, Jugend in Zusammenarbeit mit dem Erziehungsminister und dem Rat zur Dopingbekämpfung (CLPD).
Schwieriger erscheint die Behandlung der Schäden, die durch die Dopingsubstanzen hervorgerufen wurden. Wie etwas behandeln, das im Namen des Schweigegesetzes, der Furcht vor Repression und dem Ausschluss vom Berufsleben beherrscht ist, einem Berufsleben im Sinne von „einem Milieu von dem das Leben, die eigene sportliche Zukunft und die Zukunft der Familie“ abhängt“? Meiner Erfahrung nach ist es viel einfacher bisexuelle Personen, die mit HIV infiziert sind oder einsame heroinabhängige Generaldirektoren dazu zu bewegen, medizinische Unterstützung anzunehmen, als Sportler, die seit Jahren gedopt haben. Die Sportler , die vom Dopen krank sind, suchen bei Niemandem Rat oder erst sehr spät. Drei Hauptgründe sind meiner Meinung nach für diese Ablehnung des Gesundheitssystems verantwortlich:
– Die Mediziner werden entweder als Komplizen oder als Feinde gesehen. Ärzte als Komplizen, sie gibt es in gewissen Clubs (frz. Sportvereine) und gewissen Teams und sind der Leistung um jeden Preis verpflichtet. Ärzte als Feinde, sie sind potentielle Kontrolleure oder Denunzianten gegenüber den Verbänden und Clubs. Diese Einschätzung der „Sportmedizin“ durch die Sportler ist katastrophal in bezug auf Schutz und Pflege der Gesundheit. Der dopende Sportler ist in Gefahr aber unser Gesundheitssystem bietet dem gefährdeten Sportler keine Hilfe.
– Die mit dem Doping verbundenen Risiken sind noch nicht alle gut bekannt, vor allem aufgrund fehlender Studien und Untersuchungen auf der Basis der Betroffenen. Die mit Anabolika verbundenen Krebsrisiken, die Risken eines plötzlichen Todes, die mit Amphetaminen, Corticoiden, EPO, Wachstumshormonen in Zusammenhang stehen, sind dagegen gut bekannt und erwiesen durch das frühe Hinscheiden mehrerer Sportler, ebenso wie die psychischen Komplikationen (Aggressivität, Größenwahn, Delirien), die mit der Mehrzahl dieser Verbindungen einher gehen. Leider verhalten sich die Sportler bezüglich der unerwünschten Effekte, die die vielen Mittel hervorrufen können, so wie es ein bekannter Radsportler vor Gericht schilderte: Einige Profis dopen sich nach eigenem Belieben, völlig ohne Kenntnisse der Risiken, die sie damit eingehen. Gegenwärtig sind die Sportler, die Dutzende von Pillen am Tag (und in den Nacht) einnehmen, die sich Blut unbekannter Herkunft injizieren oder sich mehrmals am Tag Dopingsubstanzen spritzen, wesentlich schlechter informiert über die Nebenwirkungen der Substanzen, die sie missbrauchen, als die Drogenabhängigen, um die wir uns seit vielen Jahren medizinisch kümmern. Mit diesen haben wir gemeinsam die Dosierungen um 80% reduziert und die HIV-Infektionen auf ein Zehntel gedrückt. Ich bin sicher, die Sportler kümmerten sich mehr um ihre Gesundheit, wenn wir ihnen die Möglichkeit dazu geben würden. Heutzutage wissen sie besser, wie man die Kontrollen und die Sanktionen umgeht, als wie man die Gesundheitsgefahren vermeiden kann. Die Wiederkehr der Bluttransfusionen nachdem EPO bei den Tests aufgefunden werden kann, ist hierfür ein trauriges und schreckliches Beispiel. Die Risiken einer HIV- und Hepatitisinfektion sowie anderer Krankheiten spielen keine Rolle: Wichtig ist nur, sich nicht erwischen zu lassen. Aus diesem „Räuber und Gendarm-Spiel“ kann nur Kasper (die Medien?…) als Sieger hervorgehen.
– der dritte Grund für den Ausschluss des Gesundheitssystems scheint mir die schrille Aufmerksamkeit durch die Medien zu sein, die jede „Dopingaffaire“ hervorruft. Sei es, dass sich auch hier einige als Komplizen erweisen (und als interessierte Sponsoren, wie bei der Tour de France), sei es, dass sie sich als öffentliche Ankläger und Philosophen verstehen, wobei sie vergessen, dass einige Athleten Kranke sind. So war es beim Tode von Marco Pantani. Eine Überdosis Kokain war, mit Abstand gesehen, die wahrscheinlichste Diagnose: Kokainabhängigkeit als Vorgeschichte, brutaler einsamer Tod, niedergeschriebene paranoide Äußerungen, eine große Geldsumme, die Tage vor dem Tod besorgt wurde, Möbel, die die Hoteltür blockierten, weißes Puder auf dem Tisch. Was will man mehr? Eine Nachricht des Radchampions, die die Kokainüberdosis bestätigt? Pantani wollte nicht sterben aber das Kokain hat ihn getötet. Anstatt anlässlich der traurigen Nachricht auf die Gefahren von Kokain einzugehen und auf die Drogenanfälligkeit vieler Sportler , zog es die Mehrheit der Medien vor, von Depressionen zu sprechen und davon, das ein Land, ihn verraten hat, Italien, das es nicht fertig brachte, seinen Champion zu lieben! Pantani starb weil er kokainsüchtig war und schlecht medizinisch versorgt wurde, ebenso wie Maradonna daran sterben wird und andere weniger bekannte Sportler, aber deren Abhängigkeit nur mit Worten, auch ungesagten, behandelt wird.
Seit einigen Jahren wissen wir, dass intensives wiederholtes physisches Training das Verlangen nach psycho-aktiven Substanzen (legale und illegale) erhöht, wie es Prof. Jouvent bei Tieren nachgewiesen hat. Wir konnten auch aufzeigen, dass der Wettkampfstress und dessen Auswirkungen auf das Gehirn Gefühle und zusätzliche seelische Störungen bei einigen hervorrufen kann. Wir haben das in einer nationalen Studie 2000 dargelegt, die vom Sport und Jugendministerium in Auftrag gegeben wurde. Wir kennen auch Sportarten, in denen Doping flächendeckend vorkommt, unumgänglich ist, wenn man erfolgreich sein und wie ein Profi leben will: Gewichtheben, Skilanglauf, Biathlon oder Triathlon, einige Leichtathletikdisziplinen (Kugelstoßen, Hammerwerfen, 100Meter, lange Distanzen), Radsport, American Football, Boxen …, die Liste ist lang aber noch sind glücklicherweise weder alle Sportarten noch alle Sportler davon betroffen. Viele Hochleistungsathleten sind also medizinisch und von ihrem Umfeld her gesehen, hohen Suchtgefahren ausgesetzt. Die (ehemaligen) Leistungssportler, die alten Champions, um deren Suchtprobleme wir uns in der Klinik Montevideo, Boulogne-Billancourt, kümmern, berichten uns von der Isolation, in der sie lebten und den geringen Informationen, die sie darüber hatten, wie man sich schützt und wohin das führt kann. Die einzigen, die ihnen halfen, waren oft ihre Frauen: Sie „bildeten sich weiter“, transportierten die Mittel und brachten sie im Kühlschrank unter. Die einzigen die sich wegen der Stimmungsschwankungen, der Schlafstörungen, der Probleme mit dem Appetit und der Sexualität, der Verhaltensstörungen, z.B bezüglich Gewaltbereitschaft, Sorgen machten, waren ihre Frauen oder Partnerinnen! Liegt die Zukunft des gedopten Sportler bei dessen Frau?
Sie zeigten uns auch, dass das was einen erfolgreichen Sportler auszeichnet (Hyper-Reaktionsvermögen, Hypersensibilität, andauernde Konzentration auf ein vorherbestimmtes Ereignis (Anspannung), absolute Hinwendung mit Ausreizung der Grenzen, der Risiken und des Leidens) die Verwundbarkeit eines Süchtigen ausmacht.
Die Sportler sprechen nicht gerne von Doping und die Öffentlichkeit spricht nicht gerne darüber, um sich die Träume nicht zu zerstören. Die ökonomischen und manchmal auch politischen Interessen, werden bei den großen sportliche Ereignissen immer wichtiger. Bei den Profisportlern geht es dabei um riesige Summen und um deren soziale Zukunft. Es ist lange her, dass eine Medaille das absolute Ziel war, leider. Was kann die Medizin angesichts dieser Situation ausrichten? Sie muss sich bescheiden, demütig sein und sich verbünden. Was nicht heißen soll, zum Komplizen zu werden. Weit gefehlt.
Die Medizin muss den Sportler schützen, selbst wenn sie sich mit dem was sie macht im Konflikt befindet. Dafür müssen wir allgemeine und pragmatische Initiativen entwickeln, die von Sportlern oder ehemaligen Sportlern angeführt werden. Sie werden uns, den Medizinern, sagen, dass wir von ihrem Leben, von ihren Prioritäten ausgehen müssen, wenn wir ihnen helfen und sie beschützen wollen. Und sie nicht niederdrücken dürfen. Eine französische Agentur zum Schutze der Sportler und der Dopingprävention unter Leitung des CPLD, könnte die wichtigsten medizinischen und sozialen Maßnahmen einrichten in Abstimmung mit den Sportlern, den wichtigsten Funktionären und Verantwortlichen des Sports. Mit dem Sportler zu sein, selbst mit dem gedopten, darin liegt die würdevolle Aufgabe, aber auch die medizinische Effizienz.
>>> mehr Infos zum Suchtpotential von Dopingmitteln
Anmerkung Prof. Gerhard Treutlein, 30.6.2009:
Fazit aus Veröffentlichungen in franz. Literatur und Internet:
„- Je intensiver/ umfangreicher das Training (d.h. 8 Stunden und mehr pro Woche), desto höher die Suchtgefährdung.
– Je deutlicher die Zentrierung auf den Leistungssport (extrem: keinerlei andere Beschäftigung/Interessen), desto höher die Suchtgefährdung.
– Je früher mit der Verwendung von Pillen (Vitamine, Mahrungsergänzungsmittel, Schmerzmittel etc.) begonnen wird, desto höher die Suchtgefährdung.
Suchtgefährdung = Sport als Sucht, Sucht und Abhängigkeit als Folge von Sport
Dies gilt vor allem bei Jugendlichen. Überraschend ist, dass es hierzu praktisch keine deutschen Untersuchungen und Veröffentlichungen gibt.
Bei der D-Kaderuntersuchung (Baden-Württemberg) von Fessler/Knoll von 1998 lag der Spitzenwert bei durchschnittlich 19 Stunden Training pro Woche bei durchschnittlich 15jährigen SChwimmerinnen und Schwimmern + 11 Stunden An- und Abfahrtszeit (Trainingsstätten). Hinzu kommen dann noch einmal 30 – 35 Stunden Schule + Hausaufgaben.
Angesichts dieser Ergebnisse und Zahlen ist die Verantwortung im Leistungssport extrem groß; dieser hat auch bei Jugendlichen nicht mehr viel mit Gesundheit zu tun. Um so wichtiger sind vorbeugende Maßnahmen, die im körperlichen Bereich bereits erfolgen (z.B. tägliche Krankengymnastik für jugendliche Tischtennisspieler zum Ausgleich der Einseitigkeiten), viel zu wenig aber im psychischen und sozialen Bereich. Hieraus ergibt sich eine massive Forderung nach einer mentalen Stärkung der Jugendlichen und nach der massiven Forderung/Förderung einer dualen Karriere, was bei so manchen Bundestrainern noch nicht angekommen ist.“
Literaturtipp
William Lowenstein: Ces dépendances qui nous gouvernent : Comment s’en libérer ? Inhalt: Sucht mit Drogen, Sucht ohne Drogen, An der Grenze sur Sucht