Portrait von Choppy Warburton
Text von Joe Turner, März 2011
Vom zwielichtigen Choppy und seinen Wundertränken
Choppy Warburton gilt als Doktor Mabuse des frühen Radsports, als Initiator des Dopinggebrauchs am Ende des 19. Jahrhunderts. An drei Dopingtoden trage er vermeintlich die Schuld. Über sein schändliches Wirken sei hier berichtet.
Born to run
Lieutenant-Colonel Sir John Dugdale Astley, dritter Baronet und Begründer des berühmten „Astley Belt“, einem 6-Tage-Rennen für Langstreckenläufer, gedachte Anfang der 1890er Jahre wehmütig den sportlichen Helden seiner Jugendzeit, den „pedestrians“. Kurz entschlossen rief er ein Handicaprennen für Senioren über 10 englische Meilen ins Leben, stiftete dafür nicht unwesentliche Preise und lud die Prominenz der guten alten Zeit. Startberechtigt war jedermann ab einem Alter von 50 und für jedes zusätzliche Lebensjahr gab es einen Vorsprung von 50 yards.
An einem frischen Novembernachmittag des Jahres 1892 traten schließlich im alten Stamford Bridge Stadion von London 38 ältere Herren im Renndress mit Startnummern an, darunter Legenden wie der 71jährige William Jackson, genannt „The American Deer“, und der 61jährige „Toddy“ Ray. Nachdem die Läufer einzeln aufgerufen waren, begaben sie sich – entsprechend ihrem Lebensalter – zu den vorgesehenen Startmarkierungen und mit einem Pistolenschuss gab Sir John das Rennen frei. Old Jackson, “The American Deer”, tat sein Bestes, aber seine Knöchel ließen ihn alsbald im Stich, so dass er nach der 6. Runde aufgeben musste. Während dessen stürmte „Toddy“ Ray, der das Rennen enorm schnell angegangen war, an die Spitze. Unaufhaltsam passierte er die vor ihm gestarteten Konkurrenten älteren Jahrgangs und nach zwei Meilen lag er in Front. Von hinten drängten aber auch die „young guns“ um Bullivant, Shipley und Warburton langsam nach vorn.
Choppy Warburton lief kräftesparend in dem ihm eigenen Stil mit sich leicht windendem Kopf. Er hielt ein gleichmäßiges Tempo Runde um Runde, beachtete seine Gegner kaum und ließ sich auf keine Zwischenspurts ein. Noch vor der 4-Meilen-Marke hatte er „Toddy“ Ray überholt und auch zu Shipley einen kleinen Vorsprung rausgelaufen. Nach zwei Dritteln des Rennens zog er das Tempo wiederholt an, spielte seine Kraftreserven aus und ließ alle Konkurrenten weit hinter sich. Um mehr als zwei Runden hatte er Shipley im Ziel distanziert und seine fantastische Zeit von einer Stunde und einer Minute sicherte ihm den Jubel der vielen Zuschauer.
Shipley erhob jedoch Einspruch. Choppy Warburton sei noch gar nicht 50 Jahre alt, dass wisse er genau. Da Warburton jedoch Sir John Astley persönlich ein Geburtszertifikat vorgelegt hatte, das ihn als Fünfzigjährigen auswies, wurde der Einspruch zunächst zurückgewiesen und Shipley aufgegeben, seine Behauptung zu beweisen. Wenige Tage später war es soweit: Shipley legte eine amtliche Kopie des Geburtszertifikats vor, das Choppy ein Alter von 47 Jahren attestierte und das von diesem vorgelegte als vermutliche Fälschung entlarvte. Choppy Warburton wurde disqualifiziert und Shipley der Sieg sowie die Prämie von 250 Pfund zuerkannt (1, 2).
Kurze Zeit darauf berichtete Sir John einigen befreundeten Offizieren vom Rennen und erntete einmütige Zustimmung zu dieser Veranstaltung, aber auch ein nachsichtiges Lächeln über die Leistungen der älteren Herren. Leicht verärgert bot er eine Wette auf: einen „seiner“ Veteranen gegen jeden beliebigen Armeeangehörigen über 10 Meilen. Ein Colonel nahm an und wählte sorgfältig einen 22jährigen Grenadier aus. Sir John sicherte sich Choppys Zusage. Den Kontrahenten wurde noch eine Vorbereitungszeit für das Match eingeräumt und dann ging es erneut im Stamford Bridge ground zu Sache. Nach Vorgabe von Sir John sollte Choppy mindestens zwei Meilen lang nur an dem jungen Grenadier dranbleiben, denn der Baronet wollte zunächst sehen, wie das Rennen lief. Als Choppy und sein Gegner die Distanz absolviert hatten, gab Choppy entnervte Zeichen, dass Sir John ihn endlich das Rennen machen lassen solle. Dieser signalisierte ihm freie Fahrt und über die nächsten 5 Meilen spielte Choppy mit dem jungen Mann, indem er das Tempo ganz allmählich beschleunigte, jedoch nur in dem Maß, dass der Grenadier gerade noch unter Aufbietung aller Kräfte den Anschluss halten konnte. Nach 7 Meilen kam jedoch der Mann mit dem Hammer, der junge Herausforderer landete völlig ausgepumpt im Grün und Choppy beendete – „as fresh as a kitten“ – die vorge-gebene Renndistanz. Den Wetteinsatz, ein Pony, schenkte Sir John seinem Mann und musste diesem auf dessen dringliche Bitte noch eine Zusage machen. Da Choppy nach Sir Johns Vorgabe nur auf Sieg gelaufen sei, solle die Presse auf keinen Fall die schlechte Siegerzeit erfahren. Choppys „guter Ruf“ sei sonst ruiniert ! (2)
Seinen Beinamen „Choppy“ erbte der am 13.11.1845 in Haslingden, Lancashire, geborene James Edward Warburton von seinem Vater (oder Onkel ?), der auf die Frage nach dem auf seinen Seereisen vorherrschenden Wetter gebetsmühlenartig mit „choppy“ geantwortet haben soll. Er wuchs als ältestes von ursprünglich 12 Kindern einer armen Weberfamilie heran, von denen jedoch 5 bereits früh verstarben. Beruflich war er zunächst als Lagerarbeiter in einer Textilfabrik, der Hutch Bank Cotton Mill, in Haslingden tätig, deren Inhaber sein läuferisches Talent im Alter von 17 Jahren entdeckt und gefördert haben soll. Die Trainingsstrecken seiner Jugendzeit verliefen entlang von Eisenbahnstrecken und er trat dem 1868 gegründeten örtlichen Athletic Club bei. Es reihten sich ab diesem Zeitpunkt unzählige Siege und Podiumsplatzierungen aneinander. Seine größten Erfolge stellen der englische Meistertitel im Jahre 1879 über 4 Meilen, der 14 Jahre bestehende Landesrekord über 20 Meilen aus dem Jahr 1880 und seine Siege in den Matches gegen den damals schnellsten US-Amerikaner Patrick Byrnes Anfang der 1880er Jahre dar. Als Profi tourte er zu diesem Zeitpunkt auch in den Vereinigten Staaten. Blackburn und Manchester waren weitere Stationen seines Lebens.
Es heißt über ihn, dass er auf den mittleren Distanzen – von 2 bis 20 Meilen – zwei Jahre lang der weltschnellste Mann gewesen sei und „nicht nur unzählige Rekorde, sondern auch den Stolz der besten Läufer der Welt gebrochen habe“. Choppys Erfolge, da waren sich Kenner einig, beruhten auf seinem ernormen Trainingsfleiß. Nach einer der frühen Legenden über ihn habe er seinen Trainer eines Tages in Vorbereitung auf ein Langstreckenrennen nach dem Umfang des an diesem Tag zu absolvierenden Trainings gefragt. „Lauf zu, bis ich ‚Stop’ sage,“ erwiderte dieser und Choppy startete. Sein Trainer beobachtete ihn einige Meilen lang und folgte dann der Einladung eines Freundes zu einer Runde Billard, bei der auch dem Alkohol zugesprochen wurde. Über Spiel und Trank vergaß der Trainer seinen Schützling und begab sich erst zur Schlafenszeit nach Hause. Am nächsten Morgen lief er sofort zu Choppy, um sich zu entschuldigen, aber er traf ihn nicht zu Hause an. Erst im Stadion konnte er Choppy finden, der – weisungsgemäß – immer noch lief. (3)
Le fameux entraîneur, le célèbre manager
Choppy Warburton, der selbst nie Radsportler war, soll erste Kontakte zu Fahrern bereits Ende der 1870er Jahre gepflegt haben. Wohl im Jahre 1892 wurde er Radsporttrainer und Manager. Er betreute zunächst die englischen Fahrer Frederick John Osmond und J.W. Schofield und später führte er im Team von „Gladiator Cycles“ die Brüder Arthur und Tom Linton, das Wunderkind Jimmy Michael, den späteren Roubaix-Sieger Albert Champion, Edouard Nieuport und die Rennfahrerin Amélie Le Gall, genannt „Mademoiselle Lisette“. Es war die Zeit, in der der Radsport durch die Einführung des „Niederfahrrads“ mit Kette und Übersetzung sowie Schlauchbereifung gerade eine erhebliche Innovation erlebt hatte und die großen Klassiker des 20. Jahrhunderts wie Lüttich-Bastogne-Lüttich, Paris–Roubaix und der Marathon Bordeaux-Paris aus der Taufe gehoben wurden.
Choppy galt als Perfektionist und zählte zu jenen Trainern, die die Trainingsmethodik grundlegend revolutionierten. Aber lassen wir ihn selbst zu Wort kommen:
„To get the best results strict attention should be paid to every detail. To achieve success in racing a man must be well trained and in good condition. A few riders can dissipate more or less and ride well, but in the end they generally have their constitutions undermined. Training should not be looked on a drudgery, but as a pleasure. … One should study the effect of the food he eats, the effect of riding at different times and distances, and the effect of riding his wheel as he may have it altered; then, when he gets it all right, stick to it. Easy pedaling and position contribute much to success … In the morning ride from two to ten miles easily, varying the speed and distance according to your feeling and the weather. In the afternoon try shorter distances, say quarter of mile spurts two or three times a week, and when you get a fine day and feel all right, have a good fast ride against the watch, but not over once a week. I always get the time whether slow or fast, as it breaks the monotony … The proper position for your seat can be determined by moving your seat back from the axle center, and riding in different positions. I believe in ri-ding more over the center than the majority, the peak of my saddle being about three inches from the axle center. I have tried it all ways, but it seemed to me to be more sensible to push directly down than in front of you, and thus I could ride without wasting any strength … Champions have sprung up unexpectedly during the past three seasons many a time, but it has always been found that the successful men are the hard-trained men. However, it should be remembered that it is just as easy to overtrain as it is to undertrain; and when the racer finds himself thoroughly ‚fit‘, he should take that as a signal to slack up on his work.“ (4)
Ein Trainingstag von Albert Champion (5):
– Choppy erscheint gegen 8.30 Uhr bei Champion
– es folgen halbstündige Gymnastik und einige Kraftübungen
– danach eine Massage (keine Selbstverständlichkeit damals !)
– anschließend nimmt Champion ein ordentliches, aber nicht zu schweres Frühstück, dazu Tee oder Milchkaffee
– alsdann ca. 30 – 40 km auf dem Rad bei mäßiger, aber variierender Geschwindigkeit
– gegen 11.30 Uhr erneut eine Massage durch Choppy
– danach ein kräftiges Mittagessen mit Bier, zum Nachtisch gern Pudding
– gegen 15.00 Uhr ist man im Vélodrome d´Hiver, wo hinter Tripletten und Quadrupletten über eine Distanz von 15 km Hochgeschwindigkeit trainiert und dann noch locker ausgefah-ren wird
– man läuft nach Hause und nimmt gegen 18.00 Uhr ein Abendbrot zu sich, dass vor allem aus Brot und verschiedenen Wurstsorten sowie Tee besteht.
– alsdann gehts zum Bois de Boulogne, wo Choppy allerlei Sportspiele und Tobereien mit Champion veranstalt, das Abendprogramm ist stets sehr abwechslungsreich und dauert bis 21.00 Uhr
– man nimmt dann bei Champion ein weiteres, aber sehr kleines Essen ein und trinkt ein klei-nes Bier
– es folgen schließlich noch Springseilübungen
– eine letzte Massage gibt es gegen 22.00 Uhr
Die Aufmerksamkeit des Publikums erregte Choppy Warburton vor allem bei Rennen auf der Bahn. Ihn hielt es kaum 10 Minuten ruhig auf seinem Platz. Er lief neben der Strecke hin und her, gestikulierte und schrie seinen „Fohlen“ Anweisungen zu. Er galt daher in Paris als „très américain“, war einerseits Publikumsliebling, wurde andererseits aber nicht ganz ernst genommen.
Seine Zeitgenossen beschrieben ihn als meist freundlich und entgegenkommend, aber auch als manieriert und gern im Vordergrund stehend. Man sah in ihm einen sehr fleißigen, gewissenhaften Trainer sowie einen Menschenkenner, der gern, zuweilen auch bitterböse scherzte; kurz ein „Vollblutpferd“ wie ein Pariser Journalist über ihn schrieb. Der Künstler Henri de Toulouse-Lautrec soll mit ihm gut bekannt gewesen sein und von ihm regelrecht geschwärmt haben. Auf einem von Toulouse-Lautrecs Werbeplakaten für die Fahrradkette Simpson ist Choppy Warburton im Hintergrund auch abgebildet.
A Kind Of Magic
Wir kennen modernes Doping als „schmutziges kleines Geheimnis“ und „im Verborgenen ausgeführte Betrügerei“, aber in seiner frühen Geschichte ist es auch in anderen (uns möglicherweise skurril oder verrückt anmutenden) Erscheinungsformen aufgetreten. So gelang es einem Zeitgenossen Choppys – der Trainerlegende Mike Murphy – in einem wohl einzigartigen „Coup“, die von ihm öffentlich betriebene Gabe pharmazeutisch hergestellter leistungssteigernder Mittel durch medizinisch-wissenschaftliche Gutachten nach außen hin als gute, kluge und seriös abgesicherte Trainingsmethode darzustellen. Die ausdrücklich auch hierauf zurückgeführten Erfolge fanden den uneingeschränkten Beifall des Publikums und der Medien, die der Verwendung von Stimulanzien bei Sportlern grundsätzlich nicht unkritisch gegenüber standen und diese eher beargwöhnten.
Choppy hingegen präsentierte Doping als magischen Akt, als Vorführung eines „wahren“ Zaubers, dessen höchste Mysterien nur ihm selbst vertraut sind. Was Choppy zelebrierte, war – um es lax, aber treffend zu sagen – “ganz großes Kino“: „The public were very curios to learn what Choppy Warburton handed Linton a cup, as soon after he had done so the little Welshman spurted in grand style, and was able to lap Dubois at the fifty-sixth kilometer.” (6)
Verblüfften schon diese gewöhnlichen Proben seines Könnens, so wohnten die Besucher des Prix Zimmerman im Jahre 1897 einer echten Sensation bei. Choppys Mann Edouard Nieuport hatte die Ausscheidungsläufe erfolgreich absolviert und das Finale stand an. Da erlitt der junge Fahrer eine als „leichter Infarkt“ beschriebene Herzattacke (wegen der er kurze Zeit später den Radsport auch aufgab). Sofort eilten Helfer herbei, die sich um ihn kümmerten. Das Publikum war sehr besorgt. Verzögerungen setzten ein. Plötzlich erklärte Nieuport zur Verwunderung aller, dass er das Finale fahren werde. Und da griff Choppy ein ! Es bedarf wohl keiner Übersetzung, um den weiteren Verlauf der Ereignisse und die Entgeisterung des Journalisten dessen nachfolgenden Worten zu entnehmen:
“Après sa victoire sur Lambrecht, … le jeune coureur, qui souffre d‘une affection cardiaque, … Nieuport a voulu courir la finale; … C‘est alors que Choppy est intervenu, Choppy et sa fiole mystérieuse: Nieuport a bu quelques gouttes du précieux heuvage, et il a marché à ravir, et il a gagné !” (7)
De Mondenard und andere verlässliche Gewährsmänner sind sich darin einig, dass bereits die psychologische Wirkung auf die Kontrahenten und der Placebo-Effekt auf Choppys „Fohlen“ sehr beachtlich gewesen sein muss. Publikum, Gegner und die eigenen Fahrer waren wohl regelrecht „hypnotisiert“, was Choppy kühl kalkuliert haben mag (8). Noch zeitnah an den Ereignissen urteilte bereits der North-China Herald im Jahr 1908:
“How great an effect the mind has on an athlete‘s performances, is only partly understood. During the time the late ‚Choppy‘ Warburton was so successful in the handling of cyclists, he used to give them a sip out of a mysterious black bottle with extraordinary results. He always made a great mystery over the bottle and its contents and thousands of people fully believed it contained some po-tent drug. ‚Choppy‘ was a clever trainer and well understood the value of confidence, and the faith his charges had in the „black bottle“ led to many wins, but it can be taken for granted that the ‚drug‘ administered was no stronger than water.” (9)
Zaubertrank oder Bluff oder beides ? Über diese Frage stritt nicht nur das Publikum des fin de siècle, sondern auch die Fachwelt im 20. Jahrhundert. Nicht wenige meinten, dass Choppys geheimnisvolle Fläschchen tatsächlich nichts anderes als Zuckerwasser enthalten hätten. Die Schilderungen Paul Hammeles Anfang der 1920er Jahre haben hierzu nicht wenig beigetragen. Ihm war berichtet worden, dass die Flüssigkeit in Choppys „little bottles“ wie glasklares Wasser ausgesehen hätte. Nach Meinung des Journalisten C.H. Stancer soll es sich bei dem Trank indes um den sagenumwobenen „Cuca Cup“ gehandelt haben, eine „mixture chocolatée à base de cocaïne“. Allerdings fanden sich (für mich) weder in den Publikationen der 1890er Jahre hinreichende Anhaltspunkte für Choppys Ingredenzien, noch scheint damals überhaupt der Begriff „Cuca Cup“ als Bezeichnung für Choppys Mixtur bekannt gewesen zu sein. Es darf überlegt werden, ob hier nicht ein vergnüglicher Irrtum, nämlich eine Verwechslung mit einem damaligen Londoner 24-Stunden-Rennen, dem „Cuca Cocoa Cup“, kurz auch „Cuca Cup“ genannt, besteht.
Dennoch legen einige von Choppys überlieferten Worten nahe, dass von „Zuckerwasser“ nicht ansatzweise gesprochen werden kann. Das von Jerome K. Jerome herausgegebene Wochenmagazin „To-Day“ veröffentlichte im Januar 1898 unmittelbar nach dem Tode Choppys einen Bericht, in dem auch einige Gespräche mit dem Verstorbenen wiedergegeben werden:
„My Paris Cycling Correspondent writes: … Then I asked him about that famous elixir that he gave to his poulains, that changed them from dead men into the freshest of the fresh. ‚There´s no arsenic in it,‘ he said. ‚It´s a decoction of my own, and, so long as they kept on drinking it, well, they could ride till Doomsday!‘“
Choppy nahm seine Rezeptur jedenfalls mit ins Grab und alle vorliegenden Beschreibungen beruhen auf gezogenen Parallelen zu den damals üblicherweise von Radsportlern verwendeten Mittelchen. Einen zeitnahen und vertrauenserweckenden Versuch verdanken wir dem 1899 veröffentlichten Aufsatz von M. Deschamps, „Du sport vélocipédique: effets physiolo-giques et thérapeutiques“, der uns von „mixtures à base d‘alcool, théobromine, caféine, kola, coca, dont Choppy Warburton avait la spécialité – pauvre Arthur Linton“ berichtet.
Die unsterbliche Moritat vom ersten Dopingtod
Der Waliser Arthur Linton, einer von Choppys Schützlingen, war ein sehr beliebter und kämpferischer Fahrer, dessen früher und daher tragischer Tod eine angemessene Beschreibung verdient. Doch trotz vieler „Ehrenrettungen“ und Widerlegungen wird die falsche Legende immer noch in wissenschaftlichen Abhandlungen und offiziellen Veröffentlichungen des IOC und anderer Verbände erzählt. Angeblich sei Linton während des Rennens Bordeaux-Paris im Jahre 1886 an einer Überdosis Trimethyl verstorben.
Die Argumente gegen diese Darstellung sind schnell aufgezählt. Die Erstaustragung von Bordeaux-Paris fand erst 1891, also 5 Jahre später statt, Arthur Linton gewann das Rennen im Jahre 1896, er starb in seiner Heimat Wales an Typhus und kein Chemiker oder Mediziner kann sagen, welche genaue Stimulanz sich hinter dem Begriff „Trimethyl“ verbirgt, denn die Trimethylverbindungen dieser Welt sind nicht gering an Zahl. Da „der erste Dopingtote der Geschichte“ jedoch eine hochgeschätzte Anekdote geworden ist, setzt sich die Legende trotz der geäußerten Kritik auch in korrigierter Form fort. Nach ihrer revidierten Fassung soll der Körper Arthur Lintons aufgrund des jahrelangen und massiven Missbrauchs von Choppys Mittelchen, zuletzt beim Rennen Bordeaux–Paris 1896, so ausgezehrt und geschwächt gewesen sein, dass er dem Typhus keine Abwehrkräfte mehr entgegen setzen konnte.
Es ist bereits in hervorragender Weise recherchiert worden, dass die massenhafte Verbreitung dieses falschen Berichts auf einen Artikel des Sportmediziners Dr. Ludwig Prokop aus dem Jahr 1970, „Zur Geschichte des Dopings und seiner Bekämpfung“, zurückgeht. Dr. Prokop war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der Medizinkommission des IOC. Anlässlich der Olympischen Sommerspiele 1972 in München gab das IOC die Broschüre „Doping“ heraus, in der Dr. Prokops Artikel erneut abgedruckt wurde. Der Sportmediziner hatte ausgeführt, dass der erste tödliche Fall von Doping durch eine Überdosis Trimethyl verursacht worden sei, die einem Engländer namens Linton während des Rennens Bordeaux – Paris durch seinen Manager und Inhaber einer Fahrradfabrik verabreicht worden sei (10).
Wie diese Legende jedoch in ihrem Ursprung entstehen konnte, bleibt zunächst ein Geheimnis. Man hat „Trimethyl“ als Coffein interpretiert, dessen wissenschaftlicher Name 1,3,7-Trimethyl-2,6-purindion lautet. Man kann die Jahreszahl 1886 mit einem bloßen Zahlenverwechsler erklären. Schließlich ist nichts leichter, als Choppys Schützling Arthur Linton „irgendwie“ mit Doping in Verbindung zu bringen. Die eigentliche Frage aber, wie das Krankenbett eines tödlich Fiebernden in Wales durch ein Radrennen in Frankreich ersetzt werden konnte, bleibt rätselhaft.
Den ersten öffentlichen Antoß zu der Annahme, dass nicht nur der Typhus als Todesursache zu betrachten sei, gab die Times vom 24.07.1896 in ihrer Todesmeldung. In ihr hieß es neben der Erwähnung des Typhus: „ … and his physical strength had been much reduced by over-training.“ Die Zeitungen im In- und Ausland griffen dies auf und in der Folgezeit entwickelte sich in der Radsportwelt eine Diskussion über die gesundheitsschädlichen Wirkungen von 24-Stunden- und Langstreckenrennen. In ihrem Verlauf wurde wiederholt auf den kräftezehrenden Ritt von Arthur Linton bei Bordeaux-Paris sowie seinen späteren Tod hingewiesen und so die Idee geboren, dass sein Tod auf dieses Rennen zurückzuführen sei. Ein Jahr darauf hieß es bereits:
„… the greatest road race held in Europe every year, the Paris to Bordeaux. This race … will be remembered because of the part it played in causing the death of one of the greatest racing men the world has ever seen, the late Arthur Linton, who died last year after having contracted a cold in this race.“ (11) Andernorts verlautete es bereits ganz knapp: „The opinion here, which is right, of the cause of his death is that the Bordeaux-Paris races killed him.“
Man muss diese Meinung nicht teilen. Höchstwahrscheinlich verstarb Arthur Linton am 23.07.1896 einfach an dem, was die Ärzte bescheinigt hatten: an Typhus – und vermutlich ist über die Ursache seines Todes nichts weiteres zu sagen. Aber wenn es ein Rennen gab, dass ihn „tötete“, dann war es trotz aller erlittenen Erschöpfung wohl nicht Bordeaux-Paris. Einen Monat danach, am 27.06.1896, stand Arthur Linton in Abwesenheit von Choppy Warburton am Start seines letzten Rennens, dem Bol d´Or, einem 24-Stunden-Rennen hinter Schrittmachern auf dem Vélodrome Buffolo in Paris. Von seinen 8 Kontrahenten hatte er nur einen ernstlich zu fürchten – Gaston Rivierre, mit dem er sich den Sieg beim Rennen Bordeaux-Paris nach der vorläufigen Entscheidung der Rennkommissare hatte teilen müssen. Es waren jedoch noch Proteste sowohl von Linton als auch von Rivierre wegen verbotener Hilfeleistung durch die Schrittmacher des jeweils anderen anhängig.
Mit dem Startschuss zum Bol d´Or fegten die Gladiator-Pacers los und Arthur Linton hetzte ihnen nach. Er gewann schnell an Vorsprung und nach 15 Runden hatte er Rivierre das erste Mal überrundet. Gaston Rivierre leistete kaum Gegenwehr, er wusste, dass seine Zeit erst später kommen würde. Während der ersten Rennstunde nahm er etwa alle 10 Kilometer weitere Überrundungen durch Arthur Linton hin. Nachdem 60 Minuten absolviert waren, hatte Linton 44,666 km bewältigt. Er lag damit nicht ganz 4 km hinter dem Stundenweltrekord seines Bruders Tom zurück. Auch in der zweiten Rennstunde hielt Linton seine Geschwindigkeit, schloss sie mit 88,333 km ab und überbot damit Lesnas Zweistundenweltrekord. In der dritten Stunde ließ er mit 128,776 km leicht nach, verfehlte den Weltrekord knapp, war aber immer noch schneller als Huret bei seinem Bahnrekord. Er stellte einen neuen 100-Meilen-Weltrekord mit 3 h 50 min 3 sec auf und unterbot dabei Lesnas alte Marke um 2 Minuten. Dann knackte er den Vierstundenweltrekord, pulverisierte Jimmy Michaels Weltrekord über 5 Stunden und holte sich den Sechsstundenweltrekord von Huret. Gaston Rivierre war zu diesem Zeitpunkt etwa 20 Mal von Linton überrundet worden (12).
20.000 Menschen kamen zum Begräbnis von Arthur Linton. Wenige Wochen danach berichtete der Fahrer Earl Kiser: „… he started in a twenty-four-hour-race at Buffalo velodrome. He collapsed after 100 miles and had to be carried off the track. He said, before going in, he would die or win the race.“ (13)
Ein verpasster Fall für Sherlock Holmes
Holmes, der Kokain und Morphium konsumierte, „starb“ unglücklicherweise im Jahre 1893 und erst nach der Jahrhundertwende ließ Conan Doyle ihn wieder auferstehen. Er wäre vielleicht im Stande gewesen, den rätselhaften Fall um das vergiftete Wunderkind zu lösen, der sich in der Zwischenzeit ereignet hatte.
Ende des 19. Jahrhunderts kamen drei der weltbesten Radrennfahrer aus einem kleinen Örtchen in Südwales. Neben den Brüdern Arthur und Tom Linton gehörte hierzu Jimmy Michael, das „kleine Wunderkind“. Michael wurde durch Vermittlung Arthur Lintons 1895 Profi bei den Gladiators und trainierte ebenfalls unter Choppy Warburton. „The midget“, wie er wegen seiner geringen Größe von 1,53 m auch hieß, siegte mit 18 Jahren bei den Steherweltmeister-schaften der Profis in Köln und war alsbald Choppys bevorzugtes „Fohlen“. Beider Wege trennten sich jedoch im Verlauf des Jahres 1896. Es heißt, dass Choppy Warburton sein Wunderkind bei einem Rennen vergiftet haben soll, um ihm eine Niederlage zuzufügen. Da diese Episode bereits im Jahre 1896 nur wenig mehr als ein Gerücht war, ranken sich heute um sie die verschiedensten Darstellungen.
Fraglich ist zunächst, um welche Niederlage es sich gehandelt haben soll. Mehrheitlich heißt es, dass es während des sogenannten „Ketten-Wettrennens“ in London geschehen sei, in dem u.a. Jimmy Michael gegen Charley Barden angetreten war. Es käme aber auch ein weiteres „Ketten-Rennen“ in Deutschland in Betracht (14). Andere meinen wiederum, dass ein Match zwischen Jimmy Michael und dem Amerikaner John S. Johnson das fragliche Rennen wäre (15). („Ketten-Rennen“ wurden die Matches genannt, weil Räder mit der Simpson-Hebelkette gegen Räder mit „normaler“ Kette in insgesamt drei Rennen antraten. Der Kettenfabrikant Simpson hatte ein Wettrennen angeboten, um die Überlegenheit seiner Kette zu „beweisen“, und sich dafür die „Gladiator“-Stars mit ihren Schrittmacherteams eingekauft.)
Eine Antwort hierauf geben u.a. zwei Beiträge aus der Zeitschrift Le Veloce-sport, die in ihrer Ausgabe vom 25.06.1896 berichtet, dass der englische Verband, die National Cyclists´ Union, sowohl Jimmy Michael als auch Choppy Warburton vorgeladen hätte, um Fragen über Jimmy Michaels Niederlage gegen Charley Barden während der „Chain Matches“ auf der Catford-Bahn in London zu beantworten. Vierzehn Tage später berichtet die Zeitschrift, dass Jimmy Michael bei seiner Anhörung vor der N.C.U. die Niederlage mit einer Art Vergiftung durch Choppy erklärte, der beabsichtigt habe, ihm eine Niederlage zuzufügen. (Im Übrigen, so Michael, habe Choppy auch Gelder unterschlagen.)
Die zweite Frage betrifft das Geschehen während des Rennens. Nach einer Darstellung wäre Jimmy Michael nur schlecht gefahren und hätte viel zu deutlich verloren. Andere berichten hingegen, dass Michael während des Rennens kaum vorwärts gekommen, dann vom Rad gefallen, wieder aufgesessen und schließlich in der falschen Richtung weitergefahren wäre; das Publikum hätte laut „Dope!“ gegröhlt (14).
Mir liegen drei kurze Rennberichte vor sowie eine Fotografie. Erster Bericht:
„First Event (5 miles). J. Michael rode for the Simpson chain on a „Gladiator“ machine geared to 104 inches, against C. J. Barden for the plain chain, mounted on a „Swift“ geared to 88. Contrary to expectation Michael, who was looked upon as invincible and has hardly ever been beaten, was passed by Barden in the fourth lap and easily beaten in 10 min 40 2-5th sec.“ (16)
Der zweite Bericht enthält die zusätzliche Infomation: „In the second mile Michael began to lose ground …“ Le Veloce-sport vom 11.06.1896 berichtet weiter, dass Jimmy Michael nach der zweiten Meile aufgegeben hätte. Die in Le Veloce-sport vom 30.07.1896 veröffentlichte Fotografie zeigt Michaels Überrundung durch Barden. Gesichtsausdrücke sind leider nicht erkennbar, aber auch keine besonderen Auffälligkeiten. Jimmy Michael fährt geradeaus und in die richtige Richtung. Die zweite Version ist auch deshalb unglaubwürdig, weil der Begriff „Dope“ Mitte der 1890er Jahre zwar bereits vor allem in den USA im Pferdesport und beim Base Ball gebräuchlich war, sich im Radsport jedoch erst wenige Jahre später durchzusetzen begann, nämlich ab der Jahrhundertwende.
Ein früher „Anti-Doping“-Artikel der New York Times vom 01.12.1895, „The use of stimulants by athletes“, kennt den Begriff „dope“ noch nicht und in allen Berichten aus den Jahren 1896 und 1897 über die Affäre zwischen Michael und Warburton wird lediglich von „poisoning him“, „dosed him“ oder „drugged him“ gesprochen.
Die Frage nach Choppys Motiv wurde ebenfalls unterschiedlich beantwortet. Zum einen meint man, dass Choppy Warburton bei den Buchmachern auf eine Niederlage von Jimmy Michael gewettet hätte. Andere sind der Ansicht, dass Choppy durch Michaels Niederlage einen anwesenden amerikanischen Manager – wahlweise Tom Eck oder einen Mr. Bliss – von dem Plan abbringen wollte, Jimmy zu engagieren, um ihn für sich selbst „behalten“ zu können (14).
In Le Veloce-sport vom 09.07.1896 heißt es, dass Choppy bei seiner Anhörung vor der N.C.U. angesichts von Beweisen nicht länger hätte leugnen können, zwar nicht selbst gewettet, aber den Buchmachern Tipps gegeben zu haben. Dieser Beleg ist freilich wenig schlüssig, denn wer auf eine hohe Quote wetten will, wird den Buchmachern eher keine Tipps geben. Michael, der ab September 1896 für das Team Schwinn Bicycles in den USA fuhr, wurde dort zuerst von Tom Eck gemanagt. Für diesen dürfte das Match gegen John S. Johnson, dass zunächst für Ende Juni geplant war, viel wesentlicher gewesen sein als das „Ketten-Rennen“. Einiges spricht auch dafür, dass Michaels Entscheidung, als Profi in den USA zu tingeln, zum Zeitpunkt der „Chain-Matches“ am 6. Juni bereits gefallen war, denn Le Veloce-sport berichtete bereits Anfang Mai 1896 von einer angeblichen Trennung zwischen Michael und Choppy. Auch teilte John S. Johnson am 07.06.1896 der amerikanischen Presse mit, dass er mit Jimmy Michael im September in die Staaten kommen werde.
Zugunsten von Choppy sollte man freilich nicht vergessen, dass der Fabrikant Simpson wohl viel Geld für einen Sieg der Gladiators gezahlt hat und die Mannschaft auch mit allen Stars (der noch von Bordeaux-Paris erschöpfte Arthur Linton gab eine kurze Einlage über zwei Meilen gegen die Zeit) sowie vielen Schrittmacherteams zum Match von Paris nach London anreiste (17). Choppy trug mehr oder weniger die Verantwortung für den Sieg der Simpson-Kette, jedenfalls war das Rennen Michael gegen Barden kein Privatvergnügen für ihn. Es war auch das erste Rennen des Tages und nicht etwa das letzte nach einer etwaigen uneinholbaren Führung für Simpson. Das Motiv müsste wohl ein sehr gewichtiges sein, wenn Choppy seine beruflichen Verpflichtungen gegenüber Gladiator Cycles tatsächlich vernachlässigt haben sollte.
Schlussendlich die Frage, ob etwas Näheres über die Art und Weise der „Vergiftung“ bekannt ist. Die überwiegende Anzahl der Autoren benennt nur die Tatsache der Vergiftung an sich. Einige andere Berichte erwähnen hingegen kurz, dass Choppy Jimmy Michael vor dem Start des Ketten-Rennens einen sehr ungewöhnlichen Trank gegeben haben soll (14).
Die mir vorliegenden Zeitungsberichte enthalten mit einer Ausnahme keinerlei nähere Darstellung. Nur als Fakt ist jeweils erwähnt, dass Jimmy Michael seinen Trainer bezichtigt hätte, ihn vergiftet zu haben. Die Ausnahme ist ein Satz in Le Veloce-sport vom 09.07.1896, der den gesamten Fall in ein anderes Licht rückt. Er lautet:
„Michaël appelé à la barre de la N.C.U. qui avait eu vent de quelque chose, répondit en toute franchise que son manager Choppy Warburton, aussitôt les courses de l‘Olympia finies, lui avait fait avaler une potion à lui inconnue jusqu‘alors et qui avait eu pour effet, sans l‘indisposer, delui enlever ses moyens.“
Danach soll die „Vergiftung“ also nicht unmittelbar vor dem „Ketten-Match“ erfolgt sein, sondern gleich nach Jimmy Michaels Rennen auf der Olympiabahn in London, dass am 28.05.1896, also eine Woche vorher, stattfand.
Jimmy Michael scheint bei seinem Vorwurf geblieben zu sein. Als Choppy den Fall vor ein englisches Gericht brachte, bat Michael ihn jedoch darum, seine Klage zurückzunehmen, was Choppy indes ablehnte (18). Choppy seinerseits hat selbstverständlich alles geleugnet. Tom Linton, der vor Ort war und beim „Ketten-Match“ für die Simpson-Kette das zweite Rennen über eine Stunde fuhr, äußerte sich in der Presse zu diesem Prozess:
„He (Michael) says he´s going over (nach Großbritannien) for he lawsuit … The suit concerne Michael´s charge that Choppy Warburton drugged him in his last race under Choppy. I think Jimmy will get beat in that suit … He never road faster than at the start of the race spoken of.“ (19)
Als besonders glaubwürdig ist jedoch keiner von den dreien einzuschätzen (- Choppy natürlich sowieso nicht). Jimmy Michael war kein einfacher Charakter und durchaus vorschnell und wenig zurückhaltend mit seinen Meinungen. Tom Linton wiederum war zwar ein Schulkamerad von Jimmy, beide verband indes eine harte Rivalität und Tom war ein ebenso großer Sprücheklopfer wie Jimmy selbst.
Aus den Entscheidungen der N.C.U. und des englischen Gerichts, deren Begründungen nicht vorliegen, werden wir auch nicht schlauer. Die N.C.U. entzog Choppy nach der erfolgten Anhörung alle Trainerprivilegien, indem sie ihn bei britischen Rennen auf die Zuschauertribüne verbannte: „That no permit in future will be granted to any club nor will any race under N.C.U. rules be permitted to take place on any track where J.E. (Choppy) Warburton is allowed to enter the enclosure and dressing rooms.” (20) Das englische Gericht entschied jedoch zu Gunsten von Choppy Warburton (das Urteil wird jedoch erst wenige Tage vor Choppys Tod veröffentlicht) (21).
Möglicherweise war Jimmy Michaels Behauptung zutreffend und er konnte die N.C.U. hiervon überzeugen. Vielleicht ging auch nur unabsichtlich etwas mit Choppys Tränken „schief“. Es ist schließlich möglich, dass Michael Choppy zu Unrecht bezichtigte, um so leicht aus seinen Verträgen zu kommen und in den USA wesentlich mehr Geld zu verdienen. Die N.C.U. könnte Michaels Behauptung misstraut, aber vom „Skandaltrainer“ Choppy und seinen Elixiren trotzdem „die Nase voll gehabt“ haben. Vielleicht war auch Michaels zweiter Vorwurf, die Geldunterschlagung, nicht ganz unbegründet. Man wird es wohl nie erfahren.
Jimmy Michael starb Ende 1904 auf dem Ozeandampfer „Saxonia“ nach einem Alkoholrausch, Tom Linton zehn Jahre später an Typhus. Ihre frühen Tode gelten als dopingverdächtig.
Choppys Ende
Kurzzeitig hatte Choppy nach seiner Sperre durch die N.C.U. überlegt, als Rudertrainer weiterzuarbeiten. Gladiator Cycles unterstützte Choppy Warburton jedoch, vermittelte ihm Champion und Nieuport als neue „Fohlen“ und richtete im Januar 1897 eine große Veranstaltung zu Ehren von Choppy in Paris aus (22). Man sah ihn Anfang 1897 wie gewohnt als gefeierten Manager und Trainer auf den französischen Radrennbahnen. Ende März 1897 erlitt er einen ersten Herzinfarkt, dem im August wohl ein weiterer folgte. Vereinzelte Auftritte in der Öffentlichkeit wechselten mit Berichten über seine ernstliche Erkrankung. Im November entschied Choppy, nach London zurückzukehren, wo er am 18.12.1897 – nach einer erneuten Herzattacke – verstarb.
Bleiben auch viele Fragen zu seinem Leben offen, so scheint doch eines gewiss. Die Herstellung eines dopingfreien Profiradsports ist keine Rückkehr in ein Paradies, aus dem uns Choppy Warburton vertrieben hätte, sondern die Entdeckung einer terra incognita. Nicht einmal als Doping-„Vorreiter“ kann man Warburton bezeichnen. Während er noch allein im Hinterzimmerchen an seinen Elixieren für zwei oder drei seiner „Fohlen“ köchelte, schlugen zur gleichen Zeit andere Trainer wirklich ein neues Kapitel in den Dopingannalen auf.
In einer atemberaubend modern anmutenden Weise setzte etwa der Amerikaner Mike Murphy das von den Pharmazeuten Johnson & Johnson (noch heute einer der umsatzstärksten EPO-Produzenten) auf Coffeinbasis hergestellte Tonikum „Vino Kolafra“ zum systematischen Doping seiner von Ärzten regelmäßig untersuchten Athleten ein (23). Allein seine Studenten (also keineswegs die US-Mannschaft insgesamt) holten im Jahr 1900 bei den Olympischen Spielen 11 von insgesamt 23 möglichen Goldmedaillen in den „track and field“-Disziplinen.
Es ist wohl nur die provokante Geste, das gut sichtbare Hantieren mit den kleinen geheimnisvollen Fläschchen, die auch heutzutage Choppy Warburton noch als so infam erscheinen lässt. Mit seinem Gauklertrick ist er uns 100 Jahre lang nachgeschlichen und unsere Empörung über ihn entspringt noch seiner alten List. Auch uns hat er also reingelegt.
ANMERKUNGEN UND QUELLEN
Alle Zitate wurde in englisch oder französisch belassen, um sie durch schlechte Übersetzung nicht zu verfälschen.
Quellen:
1 New York Times vom 13.12.1892
2 John Astley, „Fifty years of my life in the world of sport …“, Bd. 2, London, 1894, S. 315 ff
3 Otago Witness vom 22.08.1906, S. 53
4 Marietta daily leader vom 22.05.1897
5 Le journal de la jeunesse, 1897, S. 441
6 New York Times vom 24.06.1894
7 Le Veloce-sport vom 29.04.1897
8 J.-P. de Mondenard, „Historique et évolution du dopage“, Ann Toxicol Anal 2000, S. 5 ff
9 The North-China Herald 1908, S. 746
10 dopage.com
11 Kansas City Journal vom 07.06.1897
12
13 The Evening Times vom 07.09.1896
14 wikipedia
15 D.M. Rosen, „Dope: a history of performance enhancement in sports …“, 2008, S. 5 ff
16 Otago Witness vom 30.07.1896
17 Hawke´s Bay Herald vom 24.07.1896
18 Sporting Life vom 13.03.1897
19 The Buffolo Express vom 16.01.1897
20 Le Veloce-sport vom 09.07.1896
21 Le Matin vom 11.12.1897
22 Le Veloce-sport vom 21.01.1897
23 New York Tribune vom 22.09.1895, New York Times vom 03.11.1895, Outing Advertiser Juni 1896, Vol 28, No. 3