Braun, Sportgeschichte vor Gericht – Kapitel 1

 

>>> Vorstellung des Gesamtgutachtens von Braun u. Wiese

Hier:
Kapitel 1

Eine Zusammenfassung aufgeworfener Fragen und Ergebnisse der Recherche  mittels Zitaten.

Die Zitate können nur ein unvollständiges Bild der dargelegten Zusammenhänge geben zumal die Auswahl der Textstellen selbstverständlich subjektiv geprägt ist. Ich empfehle das Gutachten zur ausführlichen Lektüre denn es vermittelt weit mehr Informationen als hier aufgeführt und gibt einen umfangreichen Einblick in das Dopinggeschehen – nicht nur – der DDR mit vielen tiefgreifenden und auch neuen Aspekten. Ich hoffe auch, dass das Verständnis für DDR-Doping-Geschädigte wächst.

Das Thema Minderjährigendoping, darunter auch Kinderdoping, wird mehrfach im Text aufgegriffen und mit Beispielen belegt. Kapitel 2 des Gutachten befasst sich noch ausführlicher mit dieser Problematik.


J. Braun: In diesem Gesamtbild wird deutlich, worin eine der größten Gefahren einer Herrschaftsstruktur wie derjenigen in der DDR liegt: nicht allein im autoritären Durchstellen von Weisungen, sondern ebenso in der mangelnden Einhaltung und Überprüfbarkeit von Verfahren, aus deren Befolgung und Berechenbarkeit eine staatliche Handlung, und um solche handelte es sich im Staatssport der DDR, erst ihre Legitimation bezieht. Die internen Regeln, die sich das Sportsystem selbst gegeben hatte, so konnte gezeigt werden, wurden beständig gebrochen: beim Unterlaufen der Altersgrenze von 16 Jahren ebenso wie der ,,illegalen“ Erweiterung der Dopingvergabe.


Zitate:

Fragestellungen und Themenschwerpunkte

… Die vorliegende Studie will über eine Auswertung der Gerichtsakten, die bislang nur selten für historische Darstellungen herangezogen wurden, einige grundlegende Fragen behandeln und hierbei auch an aktuelle sportpolitische Debatten anknüpfen:

a) Merkmale der Prozesse: Zunächst sollen einige Eigenheiten der Prozesse festgehalten werden, die sich vorteilhaft oder nachteilig auf die Möglichkeit der Wahrheitsfindung auswirkten.
b) Willkür und irreguläres Doping
c) Verantwortungsträger in Politik, Medizin und Sport.
d) Mitwisser außerhalb des Sportsystems
e) Politische Repression
f) Die ,,organisierte Lüge“ im Sport wird abschließend noch einmal anhand der sogenannten ,,Ausreisekontrollen“ sowie manipulierter Dopingkontrollen erläutert.


Schwierigkeiten bei den Ermittlungen

Stasi-Akten und Vernehmung von Führungsoffizieren
… Insgesamt bildeten die Vielzahl von Akten ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter im Sportapparat, die zugleich das Ausmaß der Durchherrschung des Sportsystems der DDR illustrieren, eine wichtige Quelle hinsichtlich der Mechanismen des Dopingsystems, und lieferten hierbei auch Hinweise auf weitere mögliche Straftaten. Doch gelangten zeitgleich immer wieder Informationen aus den Stasi-Akten an die Presse. „… So können nicht die Unterlagen vor Abschluß der polizeilichen Ermittlungen durch die Medien veröffentlicht werden, ohne den Ermittlungserfolg stark einzuschränken oder gar unmöglich zu machen. … .“

Aussageverweigerungen
Ein größeres Problem stellten ebenso Aussageverweigerungen oder aber das Leugnen seitens Beteiligter wie Trainer und Ärzte im Ermittlungsverfahren dar. …  Zudem wirkte sich ausgerechnet der Versuch einer ,,Selbstreinigung“ durch den Deutschen Sportbund fatal aus: Es war die Zeit der so genannten ,,Ehrenerklärungen“. … Die Praxis der Ehrenerklärungen trug mithin zur Mauer des Schweigens bei den Dopingprozessen bei.  (siehe hierzu  >>> die Wendezeit 1990 – 1994>>> 1991 DSV Erklärungen).
„So klagte die ZERV: ,,Ein umfassendes Geständnis dürfte auch nicht zu erwarten sein, da noch viele aktive Trainer Erklärungen abgeben mußten, keine Dopingmittel verabreicht zu haben. Bei einem gegenteiligen Nachweis müßten diese dann mit beruflichen Konsequenzen rechnen.“ Mit Hilfe von Hausdurchsuchungen versuchte deshalb die ZERV persönliche Aufzeichnungen 0ber Trainingsverlauf, Konzeptionen oder Mittel zu finden. Ebenso zogen es zahlreiche Sportmediziner vor, zu schweigen, da viele von ihnen .,um den Entzug der Approbation fürchten. Bei den bisher wenig vorgefundenen Patientenunterlagen konnte festgestellt werden, daß offensichtlich eine ,Bereinigung‘ durchgeführt wurde“, so konstatierte die ZERV im Juli 1995.“ …

Eine weitere Schwierigkeit lag darin, dass selbst geschädigte Sportler und Sportlerinnen aus Loyalität zum System zunächst keine Aussage bei der Polizei machen wollten … .“

Drohungen

Reißwölfe und Beweisvernichtung
„Ein Problem für die Ermittlungen stellte die gründlich Vernichtung von Beweismaterial bereits gegen Ende des SED-Regimes dar, dies bezeugen verschiedene Befragte …“

Material der Richthofen-Kommission
(siehe hierzu >>> Wendezeit II: 1991 Das Jahr der Kommissionen)
„… Da jedoch die Mitglieder der Kommission gegenüber denjenigen. die sich ihnen anvertraut hatten, Vertraulichkeit zugesichert hatten, und deshalb die Unterlagen nicht ohne weiteres herausgeben wollten, fanden Hausdurchsuchungen bei hochrangigen Funktionären des DSB statt, um der Aufzeichnungen habhaft zu werden. … .“


Erkenntnisse der Ermittlungen und Aussagen

„UNKONTROLLIERTES DOPING“ IM SPORTSYSTEM

Erkenntnisse der Ermittlungen und Aussagen
„Eine immer wieder aufs Neue erhobene Behauptung geht dahin, dass es sich beim Doping-System der DDR um ein streng angeleitetes und mithin beherrschbares System gehandelt habe. Doch war die Praxis seit spätestens der zweiten Hälfte der t970er-Jahre eine andere. Das Steuerungsinstrument der Anwendungskonzeptionen wurde immer häufiger missachtet. Das hatte vorwiegend zwei Ursachen:
Erstens unterschritten Ärzte und Funktionäre die nach allgemeinen Maßstäben ohnehin schon indiskutable, selbst gesetzte rote Linie von 16 Jahren als Mindestalter für die ,,Behandlung“ mit den sogenannten unterstützenden Mitteln (u. M.). Zweitens gingen Ärzte und Trainer bei Dosierungen häufig eigenmächtig eigene Wege. …

Unterschreiten der 16-Jahre-Grenze
…  einer der ranghöchsten DTSB-Funktionäre:
… ,,Unter ärztlich kontrolliertem Einsatz von Dopingmitteln verstehe ich den Einsatz von u. M. im Rahmen von bestätigten Verbandsprogrammen innerhalb der DDR, die von Ärzten und Sportmethodikern erarbeitet worden sind, wobei der Einsatz dieser Mittel international nicht gestattet war. Es gab aber auch einen darüber hinausgehenden, unkontrollierten Einsatz von Dopingmitteln, d.h. daß einzelne Sportler, Trainer und Ärzte außerhalb solcher entwickelten Verbandsprogramme auf eigene Faust u. M. einsetzten, um dem betreffenden Sportler einen weiteren Vorteil auch innerhalb der Konkurrenz zu anderen DDR-Sportlern zu verschaffen.

,,… lch bin stets davon ausgegangen, daß der Einsatz – international unerlaubter – u. M. stets nur bei biologisch ausgereiften Spitzenathleten, bei einem stabilen Gesundheitszustand und bei einer entsprechend strengen ärztlichen Überwachung erfolgte. Ärztlicherseits war uns stets versichert worden, daß es zwar möglicherweise zu vorübergehenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen der betreffenden Sportler kommen könnte, es war uns aber ausdrücklich versichert worden. daß es keine Dauerfolgen gäbe.  …“

Auch wenn man von Beschönigungen ausgeht, räumt der Funktionär hier doch ein, von schädlichen Nebenwirkungen gewusst und diese in Kauf genommen zu haben. Und mehr noch: er gibt auch zu, dass es eine Vergabe von Dopingmitteln ohne Wissen der Athleten und Athletinnen gab …

Auch das Doping von Kindern kommt in der Einlassung zur Sprache: ,,An dieser Stelle möchte ich betonen, daß mir in meinen sämtlichen damaligen Funktionen, als Sportle( als Trainer und als verantwortlicher Funktionär, niemals bekannt geworden ist, daß Kinder gedopt worden sind. Erst im Rahmen der Akteneinsicht habe ich feststellen müssen, daß es auch zu solchen Vorfällen gekommen ist. …“

„Zunehmend wurde aber auch nach dem Terminus ,biologisches Alter‘ entschieden, weil dadurch eine differenzierte Entscheidung der Ärzte möglich war. lnfolge der Anwendung dieses Terminus sind u. M., womit ich damals auch rechnen mußte, auch bei Minderjährigen, insbesondere bei Sportarten mit sehr jungem Höchstleistungsalter (2. B. Schwimmen), eingesetzt worden.  …“

ln dieser Einlassung werden mithin Fakten eingeräumt, die sich in der Darstellung ehemaliger Systemträger normalerweise nicht wiederfinden oder sogar bestritten werden: Es gab ,,unerlaubtes“ bzw. ,,unkontrolliertes“ Doping, von der Forschung wurde es auch als ,,wildes“ Doping bezeichnet, im Folgenden verwenden wir hierfür auch die Bezeichnung ,,irreguläres Doping“, irregulär im Sinne von außerhalb der Anwendungskonzeptionen stehend. Zweitens räumt der Sportfunktionär Doping bei Minderjährigen und Kindern ein, weiterhin das Wissen um Gesundheitsschäden und das Bestreben, mit dem Terminus der ,,biologischen Reife“ die Erstanwendung in ein möglichst junges Alter verlegen zu können.

ln einer weiteren Aussage präzisierte der Insider noch deutlicher, dass das Bestreben der Funktionäre darin bestand, die Grenze der biologischen Reife per definitionem möglichst nach unten zu korrigieren: ,,Jugendliche wären Sportler zwischen 14 und 18 Jahren. Unter 16 Jahren durften generell keine Anabolika verabreicht werden. Andererseits hat man in die u.-M.-Richtlinien den Terminus des biologischen Alters aufgenommen, damit man die feste Grenze von 16 Jahren für die Erstanwendung der Anabolika unterschreiten konnte.“

Ein Spitzenmediziner 1997: „Diese ständig vorgehaltene Thematik betreffs Minderjährige (gemeint ist die Dopingvergabe, die Verf.) kann ich nicht so ohne weiteres akzeptieren, da im modernen Hochleistungssport, insbesondere in einigen Sportarten, wie z. B. Turnen, Schwimmen und Wasserspringen, das Höchstleistungsalter relativ niedrig ist, im Eiskunstlauf z. B. bis ins 12. Lebensjahr. Es handelte sich hierbei um weit entwickelte Sportlerinnen.“

Eigenmächtige Dosierungen
Bis heute gilt der Fall llona Slupianek als wichtigster öffentlich bekannt gewordener Dopingfall der DDR zu Zeiten des Kalten Krieges. … .“

Doch waren tatsächlich auch schon andere DDR-Sportler und Sportlerinnen auffällig geworden, was allerdings in einer Mischung aus Sportdiplomatie und Mauschelei vertuscht werden konnte. So wurde die Thüringer Athletin Marlis Oelsner am 22. August 1975 positiv beider Junioren-EM in Athen getestet.  …  Die DDR legte Protest ein und versuchte, das vorliegende Ergebnis,anzuzweifeln. Sollte dies nicht gelingen, wollte sich ,,die Sportleitung offiziell von dieser Sportlerin distanzieren“ und sie auf Lebenszeit sperren. lntern gestand man allerdings ein, dass dieser Fall ebenfalls durch Unregelmäßigkeiten bei der Doping-Anwendung zustande gekommen war … . Es handelt sich um den ersten Fall innerhalb des DDR-Leistungssports, der international bekannt wurde und dabei noch um eine erst l7-iährige Aktive.“

Als im November 1978 bei einem DDR-Gewichtheber aus Karl-Marx-Stadt bei der Weltmeisterschaft im nordamerikanischen Gettysburg Anabolika nachgewiesen wurden, fuhr Höppner zum zuständigen Dopingkontrolllabor nach Ungarn, um Sanktionen zu verhindern. Die persönliche lntervention war erfolgreich. … Als 1978 die Sorge umging, dass es zu erneuten Diskussionen in internationalen Verbänden und Ärztekommissionen über die positiven Befunde von Slupianek, der Leichtathletin und dem Gewichtheber kommen könnte, sollte laut Höppner ,,die Eigenmächtigkeit des Trainers und der Sportärztin bei der Anwendung von Anabolika herausgestellt und entsprechende Sanktionen angekündigt werden“.  … .
So schlug ein hochrangiger DTSB-Funktionär im November 1978 vor „man ,,müsse sich überlegen, ob es nicht an der Zeit sei“, demnächst ,,einmal einen Sportler, der keine ausreichende Perspektive mehr besitzt bzw. kurz vor dem Ausscheiden steht zu ,opfern‘, so langsam würde uns international keiner mehr Glauben schenken“. Hiermit könne man dann den ,,Beweis antreten, daß wir selbst im eigenen Land hart durchgreifen.“

Eine Sonderstellung nahm im Leistungssportsystem der DDR die Sportvereinigung Dynamo ein, die nach sowjetischem Vorbild als nicht-zivile Sportorganisation gebildet worden war. … .
Auch im Bereich des Dopings versuchte Dynamo, einen Vorsprung zu erzielen. Dies setzte die Athleten dieser Sportvereinigung unter einen doppelten Druck: denn sie waren nicht nur irregulären Dopinganwendungen ausgesetzt, sondern mussten dies auch gegenüber dem Sportapparat des DTSB verheimlichen. Das galt vor allem für dessen Spitze, den Präsidenten des DTSB Manfred Ewald, mit dem sich Erich Mielke in einem jahrelangen Kleinkrieg um Einfluss und Macht befand.

lm Herbst 1977 war für Ewald das „wilde Doping“ ein solches Ärgernis geworden, dass er eine interne Dopingkontrolle bei einem Schwimmländerkampf mit den USA anordnete, es sei notwendig ,,zu wissen, was unsere Leistungen im Schwimmsportverband tatsächlich Wert sind.“ Schwimmverbandsfunktionäre versuchten wohl noch, die Kontrollen im eigenen Kader zu verhindern: ,,Auffällig war, daß der Generalsekretär sich gegen diese plötzlich durchgeführten Kontrollen stellte und erreichte, daß etliche Athleten wegen angeblicher Zeitschwierigkeiten (Bankettbesuch) nicht zur Abnahme kamen.“ Der Verdacht bestätigte sich, da Substanzen aus der Pervitin-Reihe bei den kontrollierten DDR-Schwimmern festgestellt wurden. …

Doch nicht nur Dynamo, auch andere Sportvereinigungen und Clubs setzten sich über die Anweisungen der Sportführung hinweg, um sich innerhalb des Gesamtsystems einen Vorteil zu verschaffen. So wurden offenkundig Langläufer des SC Traktor Oberwiesenthal und des Armeesportklubs Vorwärts anlässlich eines Gletscher-Lehrgangs mit Depot-Testosteron gespritzt, um die Aufnahme in die Auswahl der Mannschaft zu erreichen. …

Wie essenziell ,,wildes Doping“ zum Sportgeschehen gehörte, wird daran erkennbar, dass selbst Manfred Höppner persönlich, als höchster operativ verantwortlicher Sportmediziner, zuweilen den Anweisungen von Manfred Ewald zuwiderhandelte. Denn entgegen den Festlegungen von Ewald, die Kader nur zu besonderen internationalen Höhepunkten mit ,,besonderen Maßnahmen‘ vorzubereiten, wurden bei Schwimmern für einen Länderkampf in den USA Anfang Januar 1982  „alle Maßnahmen wie zu Olympischen Spielen durchgeführt, einschließlich der Testosteronspritzen“ unmittelbar vor dem Wettkampf. Höppner erteilte dafür die Genehmigung, ,,da sonst die geforderten Leistungen nicht zu erbringen gewesen wären“.
Auch ein anderer Verbandsarzt ordnete immer wieder „Sonderrationen“ an: In Vorbereitung der Schwimm-Delegation für einen Einsatz in den USA Anfang Januar 1979 wurde vom >>> Verbandsarzt Lothar Kipke gemeinsam mit dem für Trainingsmethodik zuständigen im DTSB ,,durchgesetzt“, wie Höppner es formulierte, dass die ausgewählten Aktiven jeweils 11 Testosteron-Injektionen erhielten. Auch hier waren die Verantwortlichen der Ansicht, ,,daß die Aktiven bei Nichtdurchführung überhaupt erst nicht in die USA zu fahren brauchen.“ …

Radikalisierungen
… So war es laut dem Funktionär, dem die unangenehme Aufgabe der
Ahndung von Sanktionsverstößen zufiel, ,,durchaus üblich, daß auch nachträgliche Abweichungen von Verbandskonzeptionen beantragt wurden. …  Mit der nachträglichen Bestätigung schuf man einen scheinlegalen Kontext, der aber zugleich zu ähnlichem Handeln in der Zukunft ermunterte und damit die bestehenden Regularien der Konzeptionen weiter aushöhlte, da sich diese als im Nachhinein dehnbar herausstellten.

Generell beobachtete die Leitung der Sportmedizin über die Jahre, ,,daß von Trainern verstärkt der Einsatz von u. M. gefordert wurde. Auch ein hochrangiger DTSB-Funktionär gab an, … dass Verstöße gegen Konzeptionen ,.weit häufiger, als angenommen, zu verzeichnen waren“ und die Festlegungen zur Altersbegrenzung und hinsichtlich einer Anwendung nur bei Sportlern der Kaderkreise I II und III in der 3. Förderstufe in verschiedenen Sportarten unterlaufen wurden.

Hinsichtlich der Dopingforschung wurde ohnehin gezielt der Bereich der Elitesportler verlassen.

Ein leitender Sportmediziner: „Die Trainer waren mit Recht der Auffassung, daß bei der Anwendung von neuen u. M. der Nutzen für die Leistungsentwicklung erst eindeutig nachgewiesen sein muß, (da dies sonst, die Verf.) für die absoluten Topsportler zu risikohaft ist, d.h. die übernommenen Leistungsziele evtl. dann nicht realisiert werden können. Deshalb hat das FKS meines Wissens sich dann Probanden aus Sportlerkreisen gesucht. die keine hohen Leistungsaufträge hatten. Grundsätzlich, würde ich sagen, aus den Leistungskadern II und III oder tatsächlich aus dem Bereich des Freizeitsports.“

… Nachdem das NOK der DDR [im Jahr 1984 anlässlich des Boykotts der Olympischen Spiele in Los Angeles] über die Nichtteilnahme hatte entscheiden müssen, verordnete Ewald den verschärften Einsatz von Dopingmethoden, ,,damit Spitzenleistungen noch vor und unmittelbar nach den Spielen gebracht“ werden. ,,In diesem Zusammenhang erklärte Gen. Ewald, daß hinsichtlich der Anwendung unterstützender Mittel alles erlaubt sei, entscheidend ist die erbrachte Leistung.“ Dieses ,,grüne Licht“ zur Radikalisierung des Dopings galt ausdrücklich ,,auch bei Athleten der 2. und 3. Reihe.

AUF DER SUCHE NACH DEN VERANTWORTLICHEN: FUNKTIONÄRE, ÄRZTESCHAFT, TRAINER

… [Aus] der eingangs zitierten Einlassung eines führenden Sportfunktionärs wird deutlich, dass er sich hinter das Schutzschild einer,,ärztlichen Kontrolle“ des Geschehens zurückzieht. … . Hier erscheinen also die Sportärzte als die Hauptverantwortlichen – und in letzter Konsequenz auch die Schuldigen, da sie nach dieser Lesart etwas zusicherten, das nicht zutraf. Auch ein anderer hochrangiger DTSB-Funktionär wies die Verantwortung ebenfalls klar den Ärzten zu: er habe ,,der hohen Fachkompetenz und dem Verantwortungsbewußtsein der für den Einsatz unterstützender Mittel zuständigen Sportmediziner voll vertraut.“ …

… Sowohl aus den gerichtlichen Ermittlungen wie aus zeitgenössischen Akten wird deutlich, dass das Verhältnis der Verantwortlichen zueinander erheblich komplexer war. So lag zweifellos eine Ursache für die unberechenbare Eskalation des Dopings im Ehrgeiz der Trainer begründet.

Ein DTSB-Funktionär: „Der Erziehungsprozeß umfaßte die gesamte schulische und berufliche Entwicklung. Über beide Bereiche wachte der Trainer. Ich habe dazu oft gesagt, der Sportler sei der Leibeigene des Trainers. Der Trainer war für alle persönlichen und beruflichen Bereiche des Sportlers zuständig. Die Konzeption im DDR-Sport war, daß der Trainer über alle Aktivitäten, die den Sportler betrafen, unterrichtet werden mußte. Ohne sein Wissen waren keine sportlichen, medizinischen oder beruflichen Maßnahmen gestattet. (…) Es war bekannt, daß Trainer unerlaubt unterstützende Mittel anwandten.“


Der wichtigste Verantwortliche im SMD verlor während einer Vernehmung fast die  Nerven, da ihm die Rolle der Trainer zu weichgespült erschien: „… Im DDR-Sport herrschte ein Wettbewerbssystem. Das Einkommen der Trainer und gewisser Funktionäre war von dem Ergebnis der sportlichen Leistungen abhängig. Nicht selten war der Druck der Sportpraxis auf die Sportmedizin massiv, wenn es um die großzügige Anwendung unterstützender Mittel ging (…) Frage (des Vernehmers, die Verf.): Wollen sie andeuten, daß Sie im Bereich Leistungssport II nur auf Antrag der Trainer tätig wurden? Antwort: Ja, das war so. Ich möchte es so formulieren, die Trainer haben ihre Vorschläge mit den Sportverbänden abgestimmt. Die sogenannte u. M.-Konzeption der  Sportverbände wurde dann an uns weitergereicht,  wo sie überprüft wurde.“

Nach Erinnerung eines Doping-Verantwortlichen im Sportmedizinischen Dienst herrschte eine Dauerspannung zwischen Trainern und Ärzteschaft: … Es ist mir auch bekannt, daß einzelne Ärzte diesem Druck im Leistungssport nervlich nicht stand gehalten haben und sich je nach Charakter und Temperament in andere Funktionen des  SMD z. B. als Kreissportärzte geflüchtet haben. Einzelne haben auch inoffiziell die DDR verlassen (…).“

Höppner 1981: „… Nicht vermeidbare Nebenerscheinungen speziell bei den weiblichen Athleten nehmen zu und es mehren sich die Stimmen auch von Ärzten (…) dass sie die Risiken nicht mehr verantworten können. Es wäre unbedingt notwendig, bei bestimmten Sportlern mit der Vergabe von u. M. eine einjährige Ruhepause einzulegen. Das würde bedeuten, dass zwischen den Olympischen Spielen nicht immer Höchstleistungen erbracht werden können.“ Manfred Ewald stellte ihm daraufhin ,,die ultimative Frage, ob er nicht mehr bereit wäre, seine Handlungsweisen zu verantworten“. Es läge in der Verantwortung von Höppner, „was er genehmigt und was nicht.“

Auch der Ost-Berliner Chirurg und Chefarzt im Städtischen Krankenhaus Pankow Kurt Franke beklagte 1975 im Nachgang einer Ärztetagung, dass sich die Dopingvergabe durch die Trainer immer stärker verselbstständige: So mehrten sich ,,Anzeichen, daß Trainer im Erfolgsstreben unter Umgehung ärztlicher Ratschläge in unkontrolliert hohen Dosen Turinabol verabfolgen. Die Beschaffung ist ohne Schwierigkeiten möglich, da Rezepte auf den Namen anderer oder auch der Trainer selbst ausgestellt werden können. … “
Natürlich musste es aber auch Ärzte geben, die bereit waren, derartige Rezepte entgegen der Berufsethik auszustellen – insofern konnte sich das System nur im Zusammenwirken von Ärzte- und Trainerschaft radikalisieren. …
lm November 1975 schlug Höppner Alarm, als Trainer um ihrer Prämien willen offenbar schon Spartakiade-Kindern Dopingmittel verabreichten … .

In den Vernehmungen äußerte sich ein ehemaliger Mitarbeiter des Instituts für Arzneimittelprüfung sehr dezidiert zur Verletzung von Berufspflichten durch die Ärzteschaft im Sport. … Er wies darauf hin, dass in der DDR nahezu alle wirksamen Arzneimittel rezeptpflichtig gewesen seien. Das betraf auch alle Hormonpräparate, alle Anabolika, alle Antibiotika und alle Chemotherapeutika. … Eine Verschreibung sei jedoch nur statthaft im Rahmen einer direkten Behandlung eines Patienten durch einen Arzt. Die Frage, ob Testosteron auch außerhalb einer Heilbehandlung verabreicht werden durfte, verneinte der Mitarbeiter eindeutig. Die Applikation an gesunden Frauen, ohne medizinische lndikation, sei unzulässig gewesen. …

Wie weit sich Sportärzte in der DDR von diesen Grundsätzen entfernten, macht das Beispiel eines Sektionsarztes deutlich, der zugleich als Inoffizieller Mitarbeiter für das MfS wirkte. Als Sektionsarzt hatte er faktisch eine Weiterleitungsfunktion, er erhielt die ,,unterstützenden Mittel“ vom Chefarzt einer Sportärztlichen Hauptberatungsstelle (SHB). Er übergab die Tabletten ,,kommentarlos“ an die Trainer ,,gegen Quittung“ und zwar immer in ,,neutraler Verpackung“. Auch liefen in seiner Scharnierfunktion die Wünsche von Trainern auf, so erhielt er direkt die Anfrage von einem Trainer, ,,ihm zusätzliche blaue Tabletten zu übergeben“, da,,seine Sportler schlecht seien“.

… Der Sektionsarzt räumt zudem ein, …Erkrankungen bei Sportlern wurden abgeklärt, aber ,,nie in Verbindung mit u. M.“. Er selbst hörte allerdings von Nebenwirkungen wie Gynäkomastien bei Ringern und Virilisierung bei Frauen. Deutlich wies er dennoch eine Zuständigkeit in der Vernehmung von sich: ,,Die Problematik der u. M.-Nebenwirkungen war Höppners Angelegenheit und nicht meine.“ Zudem negierte er in seiner Aussage die Verantwortung der Mediziner generell: ,,Als ich Sektionsarzt war, lastete die Verantwortung nicht bei den Ärzten, weil es sich um trainingsmethodische Belange handelte.“
Diese Sichtweise ist nun die spiegelverkehrte Perspektive der DTSB-Funktionäre und Trainer, die die Verantwortung für Doping-Dosierung und Vergabe ausschließlich bei den ,,staatlich ausgebildeten Sportärzten“ sehen wollten.

Doch gab es immer wieder auch Ärzte, die sich wehrten: So nutzte eine Bezirkssportärztin aus Halle eine Dienstbesprechung bei einer Schulung in Blossin, um ,,sich gegen die Verabreichungspraxis“ auszusprechen. .. „Sie wurde von den Verantwortlichen des SMD in die Schranken gewiesen.“ Zeigte ein Arzt erkennbare Distanz zum System, konnte ihm die Entlassung drohen … .
Problematisch wurde es allerdings für die Sportführung, sobald sich mehrere Kolleginnen und Kollegen solidarisierten, wie dies im November 1975 in einer Art Meuterei an der SHB Halle der Fall war, als ,,sich ca. 10 Ärzte weigern, die vorgegebenen Verpflichtungen über die Geheimhaltung der Anwendung unterstützender Mittel zu unterschreiben.“ Doch konnte deren Sanktionierung Vor- und Nachteile haben, wie Höppner abwog: ,,Zwangsläufig wäre damit verbunden, diesen Personenkreis aus dem Leistungssport herauszulösen, was jedoch wiederum negative Auswirkungen haben kann, wenn diese dann darüber sprechen.“ Auch eine Führungsperson der Sportmedizin wollte nach eigenem Bekunden Ende der 1980er-Jahre aussteigen. Es hatte Streit gegeben, denn: Als unsere Sprinter 1988 bei Olympia in Seoul von der Amerikanerin Griffith geschlagen wurden, warf man mir vor, daß ich nicht genug getan hätte. Vor allem von Trainerseite trat man an mich heran, Wachstumshormone einzusetzen. (…) Ich war damals fertig und innerlich zerrissen. lch ahnte, daß nach der Anwendung von Anabolika nun der Einsatz von Wachstumshormonen anstehen würde und der Druck auf die Sportärzte zunehmen würde.“ Doch blieb er schließlich. ,,Mir war dabei auch klar, daß ich – wenn ich gegen den Willen von Ewald ausscheiden sollte – berufliche Probleme auf Grund seines Einflusses haben könnte.“

MITWISSER AUSSERHALB DES SPORTSYSTEMS

Ein wichtiges Problem, das zur beständigen Erweiterung des Kreises der ,,Mitwisser“ des Dopingsystems führte, waren die Schäden, die Sportler und Sportlerinnen aufgrund der Dopingvergabe davontrugen. …

So hielt der Ost-Berliner Chirurg Kurt Franke, Chefarzt der Chirurgischen Klinik im Städtischen Krankenhaus Pankow alarmierende Befunde fest, die er am Rande des 10. Kongresses der Gesellschaft für Chirurgie der DDR vom 31. März bis 4. April 1975 im Rahmen eines informellen fachlichen Austauschs über die ,,Problematik des Verabfolgens von anabolen Steroiden an Kinder und Jugendliche im Leistungstraining“ nach ,,Rücksprache mit einer Reihen von Ärzten“ erhalten hatte: ,,Die, Erfahrung zeigt, daß junge Mädchen in ihrem Erscheinungstyp vermännlichen und daß diese Erscheinungen sich nicht zurückbilden, auch wenn man das Präparat absetzt. Das hat, das kann erhebliche Folgen für die spätere psychische Entwicklung und auch für die soziale Problematik hinsichtlich der Ehe haben“.

Kurt Franke 1975: „Über die ethische Seite der Steroidgaben zur Leistungssteigerung im sozialistischen Staat ließe sich feststellen, daß Menschen wegen eines kurzfristigen Leistungszieles oder Leistungsauftrages in ihrer körperlichen Konstitution und irreversibel verändert werden, was zu Rückwirkungen auf ihr soziales Gefüge in späteren Jahren führen kann. Faktisch werden die Eltern der Kinder und auch die älteren Jugendlichen selbst vor Gabe der Anabolika nicht über deren Folgen und die Auswirkungen auf ihr späteres Leben informiert. Das alles läßt sich sicherlich nicht mit dem beabsichtigten Zweck eines sportlichen Erfolges, der dem Ansehen unserer Republik nützlich ist, allein motivieren und verantworten. Letztendlich widerspricht der gegenwärtig geübte Modus der Anwendung von anabolen Steroiden im Leistungssport dem erklärten Ziel unserer Gesellschaftsordnung, alles für das Wohl und den Nutzen des Menschen zu tun.“


Zu einem besonders kompromittierenden Fall von ,,wildem Doping“ kam es 1975, da hier ein Arzt an der Charité hellhörig wurde und sich beschwerte. Ein Trainer des SC Grünau hatte ,,unberechtigterweise Anabolika von Sportlern der Leistungsstufe III während deren Krankheit abgezweigt und diese an Sportler der Leistungsstufe II (KJS Schüler) verabreicht. Eine KJS-Schüerin, … fiel dort auf, da sie im letzten Jahr nicht mehr gewachsen ist, Stimmveränderung hatte und bei ihr die Regel ausgeblieben war. Daraufhin befragte Dr. G. diese KJS-Schülerin und diese gab zu, daß ihr Trainer ihr Tabletten verabreicht hat. G. setzte sich daraufhin sofort mit der Leitung des SMD in Verbindung und es wurden Voraussetzungen getroffen, daß darüber keine weiteren Personen Kenntnis erhalten.“
Auch das Oskar-Zithen-Krankenhaus in Ost-Berlin war in mehrere Vorfälle involviert. So hatte der Chefarzt Dr. P., ein Pathologe im Oskar-Ziethen-Krankenhaus, in den 1970er-Jahren über dort behandelte ,,Leberschäden bei Schwerathleten nach der Einnahme von anabolen Steroiden“ an Franke berichtet. Auch in eine Sonderform des irregulären Dopings, nämlich nichtgenehmigte Forschungen zu Blutdoping, war die Klinik verwickelt: Denn bereits 1973 wurden in Halle ,,Forschungen und Tests an Leistungssportlern“ ruchbar, die ,,nlcht genehmigt waren“ und ,,ohne Wissen“ der Leitung des SMD erfolgten. Schließlich brach die Bezirkssportärztin Dr. O. ihr Schweigen und berichtete, sie sei vom SC Halle und dem Clubleiter ,,dazu regelrecht erpreßt worden, damit weitere Aktive mit „zu den Olympischen Spielen fahren“ konnten.. Man habe ihr ausdrücklich untersagt, mit Höppner darüber zu sprechen. …

Dieser Fall zeigt, dass sportmedizinische Forschungsvorhaben von Kliniken außerhalb des Leistungssportsystems mitbetreut wurden und der Kreis der Mitwisser über die Sportmedizin deutlich hinausging. Pikant war an dem Vorfall, dass hieran der bald darauf in den Westen geflüchtete >>> Dr. Alois Mader beteiligt gewesen war, der auch ,,an sich selbst Bluttransfusionen durchgeführt“ hatte.

Eine pharmakologische Assistentin an der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Buch, die im Bereich Endokrinologie arbeitete, gab bei ihrer Vernehmung in den 1990er-Jahren an, dass auch ihr aus ihrer klinischen Praxis ,,seit mindestens 20 Jahren“ Dopingfalle bekannt gewesen seien. …
So habe eine Ärztin der Robert-Rössle-Klinik in Berlin-Buch das nur so nebenher wie eine Selbstverständlichkeit erzählt, dass junge nach androgenen Behandlungen wegen einer Lebererkrankung in der inneren Klinik waren. Im Dezember 1983 führte Manfred Höppner zudem ein vertrauliches Gespräch zu Gesundheitsschäden mit Professor T., Direktor für Krebsforschung der Robert-Rössle-Klinik. Dieser ,,verhielt sich sehr aufgeschlossen für die ansprochene Problematik und versprach äußerste Diskretion“. Denn bereits zwei Gewichtheber mussten durch ,,überhöhte Anwendung von u. M.“ an der Brust operiert werden, die wesentlich an Umfang zugenommen hatte. Für zehn weitere Gewichtheber war eine Behandlung bzw. Operation bereits avisiert.  …

[Ein Oberarzt an der Medizinischen Akademie Dresden:] So ,,befanden sich während seiner Tätigkeit an der Akademie Dresden Mädchen in seiner Behandlung, die ebenfalls Symptome von Verabreichung von männl. Hormonen aufwiesen und Schädigungen davontrugen. Teilweise seien diese Frauen auch heute noch bei ihm in Behandlung. … lm Jahr 1981 hatte der Sportmedizinische Dienst eine 16-jährige eingewiesen, eine Olympiasiegerin mit Spuren von ,,Eigenblutinjektion“ und einer Eierstockentzündung.  Er warnte die Eltern, auch da ihm weitere deutliche Nebenwirkungen auffielen … . Aus seiner Praxis zu DDR-Zeiten war ihm noch ,,eine Vielzahl von Patientinnen“ bekannt, die im  Leistungssport,,in irgendeiner Weise mit Hormonen behandelt wurden.“

NEBENWIRKUNGEN

Das Risiko massiver Nebenwirkungen war auch den beteiligten Funktionären bewusst, … . Selbst der leitende Sportmediziner Manfred Höppner warnte Anfang der 1980er Jahre, dass bei den Schwimmerinnen die „gegenwärtige Methode im Interesse der Sportler nicht weiter zu verantworten“ sei. Es werde notwendig. am kommenden Olympiazyklus nach neuen Mitteln und neuen Wegen zu suchen, die nicht derartige verheerende Auswirkungen nach sich ziehen. Weiterhin wäre es notwendig, daß ein bestimmter Teil, speziell der weiblichen Athleten für die Dauer von mindestens zwei Jahren von der Einnahme von Anabolika ausgeschlossen wird, damit sich die inneren Organe erst einmal wieder normalisieren und stabilisieren. Dies würde jedoch bedeuten, daß bei einigen folgenden internationalen Wettkämpfen, einschließlich EM und WM, auf einige Medaillen verzichtet werden müßte.“

Ein ehemaliger Arzt bei der SHB Berlin berichtete: ,,Über Nebenwirkungen wurde wenig, und wenn dann verharmlosend erzählt. Auftretende Fälle wurden als Einzelfälle abgetan. Dies gilt jedenfalls für die Dienstbesprechungen, die der Dr. Höppner mit den Chefärzten und stellv. Chefärzten abhielt und meines Wissens auch soweit die Sektionsärzte von den Verbandsärzten informiert wurden- Soweit auch die Vertreter des FKS (…) in den Ärztekommissionen auftraten, wurde vornehmlich über die leistungsmäßigen Auswirkungen und im Grunde gar nicht über schädliche Nebenwirkungen gesprochen.“

VERTUSCHUNG; DROHUNG; TÄUSCHUNG

Während die Sportführung das Problem verdrängte, kämpften die Aktiven mit den Anzeichen der gesundheitlichen Schädigungen und körperlichen Veränderungen. Derartig allein und im Unklaren gelassen, erlebten besonders junge Sportlerinnen die massiven Nebenwirkungen, wie etwa die Virilisierungserscheinungen, als umso verstörender.
Einige suchten deshalb einen Ausweg aus dem Sportsystem: So bemerkte
Manfred Höppner während der Spiele in Montreal 1976 bei einer 19-jährigen Sprinterin ,,daß diese zum Rasieren gezwungen ist, die Oberschenkel an der Innenseite stark behaart sind und die Schamhaare bereits bis in die Nabelgegend reichen.“ Obgleich sie eigentlich erst im Alter von l8 Jahren Anabolika hätte erhalten sollen, stellte sich heraus, dass sie ,,durch ihren Trainer seit ihrem 15. Lebensjahr mit derartigen unterstützenden Mitteln versorgt wurde. Anfangs wurde ihr erklärt, daß es sich lediglich um Vitamintabletten handelte, sie jedoch selbst körperliche Veränderungen feststellte und dahinterkam, daß es sich dabei bereits um Anabolika handelte.“ Deshalb habe sie sich entschlossen, ,,mit dem Leistungssport nach den Olympischen Sommerspielen aufzuhören, um, wie sie sagte, nicht eines Tages so aussehen zu müssen wie die Dynamosportlerin Y.“ Daraufhin stellte ihr Klub sie vor die Alternative ,,entweder sie bleibt weiterhin im Leistungssport oder es wird ihr jegliche Unterstützung,auch in Bezug der Ablegung ihres Abiturs in zwei Jahren versagt.“

Solche Drohungen waren ernst zu nehmen, denn Bildung und Sport waren im SED-Staat nicht nur kommunizierende Röhren, sondern im Netz der Kinder- und Jugendsportschulen und über die staatlichen und Parteikanäle aufs engste verzahnt. Sobald die Autorität, die jedem Sportsystem ohnehin inhärent ist, zur Disziplinierung nicht mehr auszureichen schien, griffen im Fall des DDR-Sports weitere Repressionsmechanismen: die Entscheidung der Partei über Ausbildungs- und Berufswege oder auch informell ausgeübter Einfluss durch die Staatssicherheit.

Auf die Frage der Vernehmer, ob Sportler und Sportlerinnen die Einnahme von Doping verweigern konnte?, erklärte ein Sektionsarzt, dass er eine diesbezügliche Anweisung zwar nicht gesehen habe. ,,Es wurde aber sicherlich Druck auf den Sportler ausgeübt, in der Art, dass er aus dem Kader fliegt, wenn er die Mittel nicht einnehmen wolle. Das schließe ich aus meiner Erfahrung im DDR-Sport.“

Zum Mitmachen gehörte, dass Minderjährige grundsätzlich über die Art der ihnen verabreichten Substanzen getäuscht wurden. So legten ,,Prinzipien“ für den Schwimmsport 1977 fest: ,,bei Sportlern unter 18 Jahren wird die Legende Verabreichung von Vitaminen angewendet d.h. alles geschieht ohne Wissen der Betreffenden.“
Zudem störte der Staatssport gezielt die familiäre Kommunikation, indem den Heranwachsenden verboten wurde, über die Vergabe von Mitteln mit ihren Eltern zu sprechen. …

Auch erwachsene Sportler erfuhren mitunter nicht, was sie erhielten – oder dass sie überhaupt gedopt wurden. Bei der Frage, ob sich das Doping der DDR als ,,Zwangsdoping“ qualifizieren lässt, stellt die Reaktion auf explizite Weigerungen von Sportlern und Sportlerinnen ein entscheidendes Kriterium dar. AIs Anfang der 198Oer-Jahre Ruderinnen und Skilangläuferinnen immer häufiger Doping ablehnten, wurden im Sportmedizinischen Dienst Pläne geschmiedet, ,,den Athletinnen diese Mittel ohne deren Wissen zuzuführen, beispielsweise in Getränken oder durch Mischung mit Vitaminspritzen“. Das hatte zur Folge, dass die Bezirkssportärztin von Halle dem Sportmediziner Manfred Höppner daraufhin ,,provokatorisch die Frage stellte, ob er seine Tätigkeit noch mit seinem Gewissen als Arzt vereinbaren könne“.
Ein DTSB-Funktionär gab in seiner Aussage zu Protokoll: ,,lch weiß vom Hörensagen bei Gesprächen im SMD, nämlich von Frau S., dass es eine Sportart gab, bei der generell bekannt war, dass nicht gesagt wurde, was den Sportlern gegeben wurde. Es handelt sich hierbei um den DSLV, also den Deutschen Skilauf Verband. Der dortige Verbandsarzt Dr. K. bezog junge Kader in die Konzeptionen ein, ohne ihnen etwas über die ihnen verabreichten Medikamente zu sagen.“
Höppner führte zudem 1981 ,,eine Beratung mit Verantwortlichen des Rudersportverbandes, da sich weibliche Aktive aus dem Spitzenbereich weigerten u. M. einzunehmen.“ Obwohl keine Wettkämpfe bevorstanden, hielt Höppner die Einnahme für das Training im Winter unbedingt für ,,notwendig, um dadurch einen entsprechenden Vorlauf für den Wettkampf-Beginn zu schaffen.“ … Die Trainer und Sportmediziner wurden beauftragt, diese bestehenden Vorbehalte abzubauen“, jedoch war Höppner vom Erfolg dieses Versuchs ,,nicht überzeugt“. …
Auch im Fußball war man nicht vor unwissentlicher Einnahme sicher: So stellte das Dopingkontrolllabor Kreischa bei einer Ausreisekontrolle des 1. FC Lok Leipzig und des BFC Dynamo zu internationalen Cup-Spielen im Oktober 1983 fest, dass diese zuvor offenbar im Rahmen von Oberliga-Punktspielen gedopt worden waren. Während man bei Lok Leipzig nur,,Spuren“ von Amphetamin und Metamphetamin feststellte, ,,müssen die Spieler des BFC mit einer ziemlich hohen“, nach Einschätzung Höppners ;,nicht zu verantwortenden Dosis versorgt worden sein.“ …  . Auch hier wusste Höppner um die Methode der unwissentlichen Vergabe. ,,Es ist nicht unbedingt erforderlich, daß die einzelnen Sportler konkret über diese verabreichten Mittel Kenntnis haben, da diese teilweise illegal durch die Trainer und Ärzte in Getränken verabreicht werden.“

Wie weit reichten aber die lnformationsmöglichkeiten der Sportler und Sportlerinnen? Ein FKS-Arzt behauptete, dass seine Schützlinge über die Dopingvergabe im Bilde gewesen seien: ,,Ich für meinen Bereich kann sagen, dass Sportler, die ich diesem Zeitpunkt gesehen habe mit diesen Tabletten, alle informiert gewesen und dass sich auch keiner gezwungen gefühlt hat, sondern dass sie also aus eigenem Wissen die Sache als gut betrachtet haben und genommen haben.“ Auf die Frage, ob die Athleten und Athletinnen über die Vor- und Nachteile informiert wurden, erwiderte er allerdings: „Davon können Sie ausgehen. Natürlich hängt es vom Intelligenzgrad eines jeden einzelnen ab, wie weit er die Sachen umgesetzt hat. … .“ … Wenn Sportler sehr kritisch gewesen wären, wäre dies allerdings ,,für uns ein Problemfall gewesen“. …

Es ist bezeichnend, dass Funktionäre während der Doping-Prozesse versuchten, den eigenen Kenntnisstand als möglichst gering darzustellen, um sich nicht dem Vorwurf einer bewussten Gefährdung der Gesundheit anderer aussetzen zu müssen.  … Richtig … ist, dass es in der Tat in der DDR mit ihren politisch vorsortierten Bibliotheksbeständen für betroffene Sportlerinnen und Sportler nur sehr limitierte Möglichkeiten gab, sich sachkundig zu machen. … Doch verfügten die Verantwortlichen des Sportsystems hier natürlich über andere Informationsmöglichkeiten, das galt insbesondere für die Mediziner selbst. …

Doch trotz aller informatorischer Abschirmung, der Lügen gegenüber den gedopten Kindern, den Verschwiegenheitserklärungen, und aller VS-Stempel auf Doping-Konzeptionen sprach sich die Praxis am Ende doch herum: Schon unmittelbar nach den Olympischen Spielen von Montreal 1976 mehrten sich die Fälle, wie Manfred Höppner festhielt, in denen misstrauisch gewordene „Eltern wegen der Verabreichung von Medikamenten bei den Sportärzten vorsprechen“ und ,,Auskunft haben wollten über die Schädlichkeit anaboler Steroide“. Spätestens in den 198Oer-Jahren zögerten besorgte Mütter und Väter immer häufiger, ihren Nachwuchs auf die Kinder- und Jugendsportschulen zu entsenden, sodass sich ernsthafte Rekrutierungsprobleme im Spitzensport einstellten. …

ORGANISIERTE LÜGE: AUSREISE- UND DOPINGKONTROLLEN

Es war ein Lügengebäude, das mit viel Energie von der Sportpolitik und den Sportfunktionären errichtet worden war. Manfred Höppner selbst brachte die Hypokrisie des Systems auf den Punkt: So ergebe sich der ,,hohe Geheimhaltungsgrad“ der Dopingpraxis ,,in erster Linie aus dem Umstand, daß wir uns damit im Widerspruch zur offiziellen Sportpolitik befinden.“

Der Sportmediziner und langjährige Direktor des Zentralinstituts in Kreischa Stanley Ernst Strauzenberg formulierte rückblickend: ,,Trotz aller Beschwichtigungsversuche bleibt doch die Tatsache unumstößlich, dass die Sportmediziner der DDR, genauso wie alle anderen weltweit im Doping involvierten Sportärzte daran beteiligt waren, den Sportler bzw. die Sportlerin zum Lügen zu veranlassen; zu einer Lüge, die alle beteiligten Athleten, so gut sie auch im Alltag verdrängt gewesen sein mag, mindestens dann sehr deutlich empfunden haben dürften, als der Olympische Eid gesprochen wurde.“


lm Oktober 1972 nach dem Schock des Doping-Falls Slupianek, verfügte Manfred Ewald das System der Ausreisekontrollen am Dopingkontroll-Labor im Zentratinstitut (Zl) Kreischa … .
Wie wichtig diese Form der Abdeckung des Dopings wurde, kann an einem internen Versprechen Manfred Ewalds abgelesen werden: Wenn bei den nächsten Olympischen Spielen 1980 ,,bei den DDR-Sportlern keine positiven Fälle nachgewiesen werden“ könnten. sollten „die Mitarbeiter des ZI Kreischa mit hohen staatlichen Auszeichnungen geehrt werden“.
… [und] seitdem auch der Testosteron-Spiegel in Doping-Kontrollen [Anfang der 1980er-Jahre] einbezogen wurde, war es nicht mehr möglich, kurz vor dem Wettkampf noch Testosteron-Spritzen zu setzen. … die Sportler und Sportlerinnen konnten bei weit entfernten Wettkampforten, und aufgrund der notwendigen Zeit der Akklimatisierung im Gastland, beim Abflug noch nicht ,,sauber“ sein … ,,Würde ein vorheriges Absetzen der Anabolika erfolgen, könnten einige Mannschaften ihre gewohnten Leistungen nicht bringen“, so Höppner. … [Wegen des hohen Risikos positiver Tests] gab es, wie ein leitender Sportmediziner in den 1990er-lahren vor Gericht kundtat, ,,oft für einzelne Spitzensportler, die Medaillen holen sollten, Sonderflüge.“ Sie ,,sollten nicht zusammen mit der Olympiamannschaft ausfliegen, da sie sonst zu früh die u. M. hätten absetzen müssen. …

Ausblick

Ein hochrangiger DTSB-Funktionär erklärte am Ende seiner Vernehmung: ,,Abschließend möchte ich zu meiner persönlichen Verantwortung im Zusammenhang mit der U.M. Verabreichung sagen, dass ich die gesamte Praxis des Anabolika-Einsatzes im Leistungssport gekannt habe. Ich habe aus der Überzeugung einer politischen Notwendigkeit diese Praxis auch mitgetragen.“

… Es war, das ist häufig detailliert beschrieben worden, nicht nur ein sportlicher, sondern auch ein ideologisch geführter Kampf. Doch gilt es auch hier, das Bild zu differenzieren: Denn zwischen der Sowjetunion und der sehr erfolgreichen DDR – 1984 hatte sie bei den Olympischen Winterspielen in Sarajewo erstmals sogar den ,,großen Bruder“ auf den zweiten Platz verwiesen – trat eine zunehmende Vereisung des Verhältnisses ein. Im DTSB diskutierte man im März 1984 den Eindruck eines ,,gegenwärtigen regelrechten ,Krieges‘ zwischen den Sportleitungen der UdSSR und der DDR“.

Das bilaterale Verhältnis war umso schwieriger, als der Sowietsport von seinen Satellitenstaaten auch sportpolitische Treue einforderte, etwa bei Dopingkontrollen: Die Abhängigkeit von der Sowjetunion zeigte sich etwa bei der Hallen-EM der Leichtathletik in Wien im Februar 1979, bei der Manfred Höppner als Beauftragter des Internationalen Verbandes für Dopingkontrollen eingesetzt war. Nachdem ihm ein positiver Fall einer sowjetischen Athletin bekannt geworden war, die über 1500 Meter den zweiten Platz belegt hatte, entschieden er und Manfred Ewald, das in solchen Fällen obligatorische ,,Negativgutachten“ zu erstellen … . internationalen Skandal bereitet hätte.

Doch war die DDR auch bereit, sich zu rächen, sollten sich sowjetische Kontrolleure künftig nicht ähnlich fürsorglich verhalten. So kündigte
Ewald an, dass er über sowjetische Verfehlungen im Doping ,,bis zu den Olympischen Spielen 1980 in Moskau Material sammeln will, um die Freunde gegebenenfalls zu zwingen, bei positiven Befunden unter DDR-Athleten ebenfalls Nachsicht zu üben.“

Hinter der Fassade der in zwei Lager geteilten Sportwelt existierten mithin Allianzen und Feindseligkeiten; die nicht ins ideologische Schema passten.
Das gilt auch für das Verhältnis zwischen ost- und bundesdeutschen Sportärzten. Im Rahmen internationaler Ärztekommissionen, auch bei wechselseitigen Visiten trafen sich die Kollegen aus der Bundesrepublik und der DDR, und tauschten hierbei ihren Doping-Kenntnisstand aus. Mehrfach besprachen sich auch ein Ost- und West-Berliner Leistungsmediziner, um sich über den Stand der diesseits und jenseits der Mauer und die damit verbundenen Gefahren auszutauschen [Stand 1977]. Der westliche Kollege sei für ein „Verdammung der Anabolika aus dem Trainings- und Sportmedizingeschehen“, da die ,,Wirkung dieser Medikamente in langer Sicht überhaupt noch nicht absehbar“ sei, so hielt der Arzt aus der DDR fest. Zudem hoffe der West-Berliner, dass ,,es zu einer Konvention zwischen West und Ost gegen die Anwendung von Anabolika nach Art der Saltgespräche“ komme, wozu Kontrollen während der Trainingsperioden notwendig seien. Zugleich habe er jedoch illusionslos eingeräumt, dass die bundesdeutsche Sportmedizin gegenwärtig eher darauf zuhalte, Anabolika verstärkt anzuwenden. Man sei entschlossen, unbedingt mit den sozialistischen Ländern in dieser Frage gleichzuziehen, um die ,,bereits ,weggeschwommenen Felle‘ wieder zurück zu gewinnen“.

Die Sportler und Sportlerinnen waren mithin letztes Glied in einem System und einer Kette aus Mitwissern, blockinternen und auch blockübergreifenden Absprachen und Konsultationen, das in seiner Gesamtheit bis heute noch nicht umfassend erhellt ist.

Doping in der DDR. das hat die Auswertung der Gerichtssakten deutlich untermauert, erschöpfte sich nicht in einem Sportbetrug, wie er überall auf der Welt anzutreffen ist. Maßgeblich waren hier die diktatorischen Strukturen, in die alle Beteiligte eingebunden waren. Es ist nicht unerheblich, ob ein junger Sportler oder eine junge Sportlerin in der Diktatur oder in der Demokratie in das Räderwerk des Leistungssportsystems gerät. Denn zwar gab und gibt es weltweit bedenkliche Abhängigkeitsverhältnisse von Athleten und Athletinnen gegenüber Autoritätsfiguren im Sport. Gewalt und Missbrauch, das sind Lehren nicht erst der jüngsten Zeit, begleiten notorisch auf unheilvolle Weise den Leistungsdruck. Doch unterlagen alle Beteiligte im geschlossenen System des DDR-Sports zusätzlich einem politischen Regime, das galt für den Nachwuchs an den Kinder- und Jugendsportschulen ebenso wie für die Olympiamannschaft und ihre Betreuer.
Die Protokolle der Dopingprozesse bieten eine Fülle an sachlichen Informationen über Ereignisse und Strukturen. Die Narrative der Aussagen erzählen zudem jedoch noch eine eigene Geschichte: Denn die Darlegungen der verantwortlichen Beteiligten, selbst wenn man sie als Ausflüchte interpretiert, zeigen doch, wie schwer es Ärzten, Trainern und Funktionären fiel, überhaupt im Nachhinein ihr Handeln zu rechtfertigen ….