Bette / Schimank: Gibt es einen Weg aus der Dopingfalle?
Die Soziologen Karl-Heinrich Bette und Uwe Schimank sehen den Hochleistungssport durch seine Siegesorientierung in einer Falle, aus der er mit eigenen Kräften nicht herausfinden kann. Politiker, Medien, Wirtschaft, Publikum und Sport profitieren, sehen aber nicht ihre eigene Verantwortung. Soll sich etwas ändern an der Doping- und Bertrugskultur, wird dies nur möglich sein, wenn alle Gruppierungen gemeinsam, und zwar weltweit, mitarbeiten. Das scheint ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen zu sein, doch ohne Hoffnung sind die Autoren nicht.
In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29.12.2007, „Der Hochleistungssport in der Dopingfalle“, legen sie Ihre Ansichten dar. Wesentlich ausführlicher analysieren die beiden Autoren die Gesamtproblematik in ihrem Buch ‚Die Dopingfalle‘ (doping-archiv.de-Buchbesprechung).
DER HOCHLEISTUNGSSPORT IN DER FALLE
„Das Doping-Thema ist in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil der Kommunikation über den Sport geworden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen einzelne Athleten, aber auch Trainer, Sportfunktionäre, Manager, Ärzte oder Apotheker, denen der Vorwurf gemacht wird, hinter einer Fassade der Regeltreue perfide Täuschungsakte vollzogen, unterstützt oder geduldet zu haben, um sportliche Leistungen zu steigern und um tatsächliche oder nur befürchtete Nachteile gegenüber Konkurrenten aus der Welt zu schaffen. Als Antriebsfaktoren werden übersteigerte Erfolgsmotive, Ruhmsucht, Geldgier und insgesamt moralische Verkommenheit unterstellt. Entsprechend einfach fallen die Reaktionen aus. Das Motto lautet: „Haltet den Täter und bestraft ihn!“ Nur mit Kontrolle, Strafe und einer begleitenden ethischen Aufrüstung könne der mittlerweile existierende „Doping-Sumpf“, so die Meinung, nachhaltig trockengelegt werden.
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In einer soziologischen Perspektive steht fest: Doping ist nicht das Resultat isolierter individueller Entscheidungen, die etwa auf Grundlage eines schlechten Charakters oder fehlgeleiteter Siegesambitionen getroffen würden. Doping ist vielmehr als ein „normaler Unfall“ anzusehen, der sich im heutigen Spitzensport aufgrund genau benennbarer sozialer Bedingungen immer wieder neu ereignet. Die starke Doping-Neigung, die in vielen Disziplinen zu beobachten ist, wird strukturell erzeugt. Sie ist das unbeabsichtigte Ergebnis des Zusammenwirkens unterschiedlichster Interessen aus Leistungssport, Wirtschaft, Politik, Massenmedien und Publikum. “ (…)
Es herrscht die Logik des Leistungssports, ihr haben sich die Athleten und Athletinnen bedingungslos zu unterwerfen:
„Handlungsleitend für alle, die in Wettkämpfen gegeneinander antreten, ist das Dual von Sieg und Niederlage. Diese Leitorientierung hat unerbittliche Wettkämpfe institutionalisiert und weltweite Konkurrenzen auf Dauer gestellt. Einer kann immer nur gewinnen. Der Zweite ist bereits der erste Verlierer. Das olympische Motto drückt diese auf Steigerung und Überbietung ausgerichtete Logik unmissverständlich aus: Schneller, höher, stärker.
Beim Publikum ist Spannung das Korrelat von Situationen, die dieser Logik unterliegen. Sportliche Wettkämpfe vertreiben dadurch die Langeweile und eignen sich für Heldenverehrungen und für das Ausleben von Affekten und Gemeinschaftsbedürfnissen. Das Sportpublikum taucht im Kontext der Doping-Problematik als eine unorganisierte „Masse“ auf, die durch ihre Nachfrage nach sportlichen Höchstleistungen soziale Aufmerksamkeit selektiv verteilt: Verehrung für die Erfolgreichen und Aufmerksamkeitsentzug für die Verlierer.“ (…)
die verschiedenen Akteure
Durch das Publikumsinteresse werden die anderen Akteure auf den Spitzensport aufmerksam. Zunächst sind es die Massenmedien.
„Radio, Fernsehen und Zeitung informieren ihre Hörer, Leser und Zuschauer nicht umfassend-neutral über Sportereignisse, sondern bevorzugen die Erfolgreichen. Verlierer werden kritisch kommentiert oder gar nicht erwähnt. Durch ihre Fähigkeit, Informationen mit Hilfe technischer Errungenschaften zu vervielfältigen und zu verbreiten, sind die Medien zu wichtigen Bindegliedern in der Verwertungskette des Spitzensports geworden. Denn sie wecken die Interessen von zwei weiteren Arten von Akteuren, die durch ihre spezifischen Einflüsse dazu beitragen, dass im Spitzensport eine starke Doping-Neigung entstehen konnte, nämlich von Wirtschaft und Politik. Sponsoren geben Geld in den Sport, um das wirtschaftlich Wichtige mit Hilfe sportlicher Akteure und Situationen zu steigern. Der Sport ist nicht nur ein attraktives Werbemedium, sondern auch ein interessanter Absatzmarkt für Konsumgüter. Die Politik subventioniert den Spitzensport vor allem, um Begleitaufmerksamkeit für Politiker und deren Wiederwahlinteressen herzustellen.“
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Diese Mitspieler erkennen jedoch nicht, oder leugnen ihre Rolle, die sie selbst hinsichtlich der Dopingproblematik spielen und weisen den Athleten und dem Sport die alleinige Verantwortung zu, wobei von ihnen widersprüchliche Forderungen ausgehen.
„Politiker zeigen sich entrüstet, wenn Sportler des Dopings überführt werden, fordern ein härteres Durchgreifen der Verbände und beteiligen sich mit Steuergeldern an der Doping-Bekämpfung. Bei ausbleibender Medaillenausbeute kürzen sie allerdings die Fördergelder für die weniger erfolgreichen Sportarten. Sponsoren wissen, dass nur ein als „sauber“ erscheinender Sport langfristig ihre Werbe-Interessen bedient. Sie schreiben deshalb Anti-Doping-Klauseln in ihre Athletenverträge, aber wechseln beim Versagen der von ihnen geförderten Athleten ebenfalls schnell zu den erfolgreichen Sportlern oder Mannschaften über.“ (…)
Aus diesen Konstellationen ergeben sich als wichtigste Konsequenzen:
„Die sportliche Siegesorientierung ist durch die dem Sport von außen verfügbar gemachten Ressourcen geradezu entfesselt worden.
(…) So geraten die Aktiven durch den immer weiter eskalierenden Erfolgsdruck in eine Situation, in der sich die starke Nachfrage nach hochkarätigen Leistungen durch Publikum, Medien, Politik und Wirtschaft nicht mehr mit den eigenen körperlichen und psychischen Möglichkeiten in Einklang bringen lässt. Durch die Entfesselung des Siegescodes kommt es zu einer Totalisierung des Leistungssports und zu einer Überforderung von Körper und Psyche.
Die inneren Kontrollmechanismen, die der Sport in Gestalt von Fairplay-Orientierungen traditionell ausgebildet hat, geraten immer mehr unter Druck. (…) Ungewollt, aber unvermeidlich wird ein heimliches Experimentieren in den Grau- und Verbotszonen der Leistungsförderung angeregt. Doping-Möglichkeiten werden von den Sportlern nicht mehr gemäß Fairness-Normen verworfen, sondern unter Kosten/Nutzen-Gesichtspunkten abgewogen und gegebenenfalls klammheimlich ergriffen. Doping ist somit eine strukturell vorgeprägte rationale Wahlhandlung: Sozial als legitim angesehene Ziele wie sportliche Erfolge und Siege werden mit illegitimen Mitteln verfolgt.“ (…)
Verantwortlichkeiten
Für die Autoren ergibt sich daraus, dass das Dopingproblem nicht gelöst werden kann, wenn es bei der bislang vorherrschenden Personenfixierung und damit verbundenen Kontroll-, Sanktions- und Ethikprogrammen bleibt.
„Die Ursachen und Dynamiken der Abweichung sind auf der überpersonellen Ebene komplexer gesellschaftlicher Konstellationen angesiedelt. (…) Letztlich handelt jeder Akteur aus seiner Sicht völlig rational: Wirtschaftsunternehmen wollen mit dem Spitzensport werben und Produkte verkaufen; staatliche Instanzen wollen Nähe zum Sportpublikum herstellen und die eigene Wählbarkeit steigern; Medien wollen ihre Einschaltquoten und Auflagen erhöhen. Und das Publikum will an spannenden Sportereignissen teilhaben. Das Resultat des Zusammenwirkens all dieser nachvollziehbaren und legitimen Interessen ist dann – Doping.“ (…)
Die nationalen und internationalen Sportverbände sind allerdings durch die an sie gestellten Forderungen, Höchstleistungen zu ermöglichen und gleichzeitig den Sport dopingfrei zu gestalten, überfordert bzw. finden sich in einer Falle wieder, aus der sie allein nicht herauskommen können. Wirksame strukturelle Maßnahmen müssten daher dringend ergriffen werden.
„Um es auf den Punkt zu bringen: Wer als Verband dauerhaft die offiziellen Anti-Doping-Regeln und die hiermit verbundenen Verhaltensstandards durchsetzt und die Doping-Sünder unbarmherzig aus dem Verkehr zieht, um so die Regeltreuen vor einer Anpassung durch Abweichung zu bewahren, wird von außen durch Ressourcen- und Achtungsentzug bestraft. Geld, Publikums- und Medienaufmerksamkeit gibt es schließlich nicht für erfolgreich durchgesetzte Anti-Doping-Maßnahmen, sondern aufgrund von Medaillen bei internationalen Meisterschaften – und dies in einem global betriebenen Spitzensport, in dem Doping in vielen Disziplinen an der Tagesordnung ist.
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Das heißt: Maßnahmen der Doping-Bekämpfung müssten unter all jenen Akteuren abgestimmt werden, die ihren Anteil an der Problemerzeugung beigesteuert haben. Kollektiv erzeugte Probleme lassen sich nur kollektiv lösen.“
gibt es Lösungswege?
„Auf dem Papier sieht alles recht einfach aus: Die Politik hätte ihre Interventionsmöglichkeiten gegenüber dem organisierten Sport selbstbewusst zu nutzen und müsste mehr als bisher die Vergabe der Fördermittel an faktisch geleistete Maßnahmen der Doping-Bekämpfung koppeln oder die Anti-Doping-Bemühungen der Verbände durch weitere gesetzgeberische Maßnahmen unterstützen. Wirtschaftsunternehmen müssten ihre Sponsorengelder nur noch an diejenigen Verbände vergeben, die ihre Athleten intelligenten Doping-Kontrollen unterwerfen. Veranstalter dürften nur diejenigen Sportler zu Wettkämpfen einladen, die sich nachweislich den Kontrollverpflichtungen der Verbände gefügt haben. Die Wissenschaft hätte justitiable Nachweisverfahren für bislang noch nicht nachweisbare Doping-Mittel zu entwickeln und – wie die Soziologie – ein Orientierungswissen über die soziale Komplexität des DopingProblems zu produzieren. Die Medien hätten dies durch eine kritische Sportberichterstattung zu unterstützen und Anti-Doping-Klauseln in die Verträge mit Sportverbänden zu schreiben. Das Sportpublikum sollte solche Maßnahmen durch Interesse oder gezieltes Desinteresse abstützen.
Allerdings sind bei einem solchen abgestimmten Bündel von Maßnahmen folgende Probleme zu erwarten und müssten durch einen „runden Tisch“ oder eine „konzertierte Aktion“ bearbeitet werden: Erstens ist die Einsicht der Konstellationsakteure in die eigene Verstricktheit in das Doping-Problem noch nicht weit verbreitet. Man verweist auf die Verantwortung der jeweils anderen und trägt so dazu bei, dass die Frage der Doping-Problematik auf Dauer gestellt wird. Erschwerend für die erfolgreiche Durchführung eines „Anti-Doping-Pakts“ aller relevanten Akteure kommt zweitens hinzu, dass diverse Teilgruppen – etwa einzelne Medienanbieter oder Wirtschaftsunternehmen – untereinander in schärfsten Konkurrenzbeziehungen stehen und nicht alle gleichzeitig an einem Strang ziehen. Ein drittes Hemmnis liegt in der Unwahrscheinlichkeit einer Internationalisierung des Pakts. Der Spitzensport hat sich zu einem „global player“ entwickelt. Ein „Konstellationsmanagement“ hätte nicht nur die internationalen Sportorganisationen zu erfassen, sondern auch die globalen Spieler in Wirtschaft, Politik und Massenmedien an einem „runden Tisch“ zusammenzubringen.“ (…)
Bette und Schimank sehen in ihrem Vorschlag eines „runden Tisches“ kein Patentrezept, sie sehen darin nur einen Weg, den man, wenn auch mit ungewissem Ziel, einschlagen könnte. bzw. ihrer Meinung nach, sollte, denn sie sehen keine andere Wahl.
„Sonst bleibt es bei der weitverbreiteten Defensivhaltung in der Doping-Bekämpfung, die die Risikoabwälzung bisher durchaus „erfolgreich“ nur zuungunsten der Sportler betreibt. Diese müssen die möglichen, teilweise äußerst gravierenden Gesundheitsgefährdungen des Dopings auf sich nehmen. Sie sind auch die Sündenböcke, die im Falle ihrer Entlarvung auf dem Altar hochgehaltener Werte geopfert und mit dem ganzen Inventar sozialer Degradierungszeremonien sanktioniert und diffamiert werden. Indem Wirtschaft, Politik, Massenmedien und das Publikum trotz ihrer eigenen Verstrickungen lediglich auf den Sport und dessen Sozialfiguren verweisen, wenn über Doping kommuniziert wird, entlasten sie sich selbst von einer Mitschuld. Dies kann man nur als bigott bezeichnen.“