Singler/Treutlein: Dropout durch Doping

Doping-Prävention / Anti-Doping

2005 Andreas Singler / Gerhard Treutlein:
Dropout durch Doping: Wenn der Spitzensport Gefahr läuft, sich selbst aufzulösen

>>> Singler/Treutlein: Dropout durch Doping

Warum steigen junge Menschen, die über viele Jahre hinweg konsequent trainierten und Leistung erbrachten und zu vielen Hoffnungen Anlass boten, plötzlich aus? Gerade im Spitzensportbereich ist die Zahl der Talente einigermaßen überschaubar, Verluste hinterlassen Lücken, die nicht immer leicht zu ersetzen sind, ganz abgesehen von den bereits investierten Kosten. Das Problem ist durchaus erkannt und wird erforscht. Hauptsächlich werden für den Abbruch der Sportlerkarriere Gründe aus den Bereichen Beruf, Gesundheit und Leistungsentwicklung genannt, die begleitet werden von emotionalem Erleben. Eine weitere mögliche Ursache wird allerdings kaum erwähnt: Doping.

Vor dem Hintergrund der aktuellen Dopingdebatte und der damit bekannt gewordenen verbreiteten Dopingmentalität in einigen Sportdisziplinen scheint es jedoch an der Zeit zu fragen, ob und wie das Thema Doping zum Aussteigen beiträgt, aktives und passives Dropout begünstigt.

Andreas Singler und Gerhard Treutlein (>>> Zentrum für Dopingprävention in Heidelberg) analysierten das Problem und lenken den Blick anhand von Beispielen auf mögliche negative Entwicklungen innerhalb des Sports selbst. Sie machen deutlich, dass nicht nur Sportler und Sportlerinnen betroffen sind sondern ebenso Trainer, Funktionäre, Ärzte und andere Rollenträger des Systems.

Beispiele:
Der ehemalige BDR-Verbandsarzt Dr. Wolfgang Stockhausen beschreibt in dem Buch ‚Doping im Radsport‘ von Ralf Meutgens
seine Erfahrungen mit dem Dopingsystem im Radsport, das er nicht länger mittragen wollte und konnte – Stockhausen stieg aus.

Siehe auch die im Interview geschilderten persönlichen Erfahrungen von >>> Sascha Serverin.

Der Artikel wurde 2005 in der „Revue internationale des sciences du sport et de l’education physique“ in französischer Sprache erstmals veröffentlicht.
Die Autoren behandelten das Thema auch in ihrem Buch
‚Doping – Von der Analyse zur Prävention‘, 2001

ZITATE

… Nicht selten werden in Alltagsdiskussionen etwa gesellschaftliche Hintergründe für das Ausscheiden von aktiven Sportlern angeführt: Jugendliche sähen sich einem zunehmend ausdifferenzierten Freizeitangebot auf dem sportlichen wie nichtsportlichen Sektor gegenübergestellt, heißt es da etwa. Sie würden sich ferner immer weniger körperlich betätigen, zudem lasse die Bereitschaft zum langfristigen Engagement nach usw. Darüber hinaus steht, wie wissenschaftliche Studien aufzeigen, einer Fortsetzung der Leistungssportlichen Karriere nicht selten die Berufsausbildung entgegen (siehe z. B. BETTE et al. 2002, 133 ff.). Auch der so genannte „Juniorengraben“, also ein für viele schwer überwindbarer Leistungsunterschied zwischen Jugend- und Erwachsenensport, wird seit mehr als 30 Jahren für viele Ausstiegsentscheidungen verantwortlich gemacht (BETTE et al. 2002, 188 ff.).

Dass das Ausscheiden vieler talentierter Sportler, aber auch anderer Rollenträger aus dem Leistungssport nicht nur aus struktureller, sondern auch aus ethischer Sicht mit dem Sport selbst und der Art, wie er betrieben wird, zu tun haben könnte, darüber wurde selten gesprochen. Völlig übersehen und erst durch die Autoren in die Diskussion eingeführt wurde ein besonderer Aspekt: dass Dropout auch durch das im Spitzensport über alle Systemschranken hinweg verbreitete Doping erfolgen kann (siehe SINGLER/TREUTLEIN 2001, 313 f., und 2002, 18 – 22)2. Anzeichen hierfür gab es zwar durchaus. Da aber sowohl im Osten wie im Westen das Thema Doping als Gegenstand öffentlicher und z. T. sogar interner Kommunikation tabuisiert war, verbot sich eine dahingehende Reflektion praktisch von selbst.

Doping führte, wie am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland aufgezeigt werden kann, zu einem Ausscheiden zahlreicher Rollenträger aus dem Spitzensport. Es handelt sich daher um eine Dropoutursache mit eklatanten Auswirkungen auf den Sport. Daher plädieren die Autoren an dieser Stelle für eine Erweiterung der Dropoutdefinition über die Athletenrolle hinaus. Danach wären Dropouts als solche Personen zu definieren, die dem Spitzensport in welcher Funktion auch immer verloren gehen. Durch diese Erweiterung des Dropoutbegriffs werden die immensen sozialen Schäden deutlich, die der verbreitete Missbrauch von Medikamenten zum Zweck der Leistungssteigerung im Leistungssport hinterlassen hat.

Dropout findet aus Akteurssicht häufig passiv, also gegen seinen Willen statt. Der Betroffene wird z. B. – und sei es nur für besondere Topereignisse – aus dem Spitzensport entfernt. In Extremfällen wurden sogar schon Nachwuchsathleten, die keine Anabolika einnehmen wollten, nicht mehr zu Bundeskadermaßnahmen eingeladen (vgl. SINGLER/TREUTLEIN 2000, 253 f.). Im bundesdeutschen Frauensprint war spätestens seit 1976 davon auszugehen, dass eine Athletin, die die Anabolikaeinnahme verweigerte, kaum mehr eine Chance hatte, in die DLV-Frauensprintstaffel unter Bundestrainer Wolfgang Thiele aufgenommen zu werden (siehe z. B. DEUTSCHER BUNDESTAG 1977, 119 f.).

Auch der passive Dropout betrifft selbstverständlich wieder alle Rollenträger im Sport.

Dropout durch Doping kann ferner nicht nur direkt, sondern auch indirekt erfolgen. Schon Anfang der 70er Jahre führten dopingkritische Trainer und Wissenschaftler eine steigende Zahl von Verletzungen auf die Einnahme von Anabolika zurück. Selbst ungedopte Athleten können solchen Fehlentwicklungen indirekt zum Opfer fallen, wenn sie nämlich einer dem dopingfreiem Training nicht zuträglichen Methodik folgen, die dann zu Verletzungen oder zu Übertrainingszuständen führt. Nicht wenige beenden dann aus Frustration ihre Karriere. …

Siehe auch:

Anna Baron-Thiene: Das Dropout-Phänomen – Eine Untersuchung an Eliteschulen des Sports in Sachsen, 214 Dissertation
Aeschimann, Walter: Tabuisierte Rücktrittsgründe, NZZ 23.6.2016