Christophe Brissonneau, Olivier Aubel, Fabien Ohl
L’épreuve du dopage
Sociologie du cyclisme professionnel
Presses Universitaires de France – PUF (10 juin 2008)
Die Doping-Versuchung
Die bekannt gewordenen Dopingaffairen der letzten Jahre, viele Aussagen und Berichte belegen die Annahme, dass der Radsport eine ausgeprägte Dopingkultur besitzt. Weist er besondere Strukturen, besondere Bedingungen auf, die Doping begünstigen? Ist er anfälliger für Doping als andere Sportarten, wie es die öffentliche Diskussion nahelegt oder ist er lediglich Sündenbock? Beides dürfte zutreffen. Um besser vergleichen zu können, bedarf es eingehender Analysen der einzelnen Gruppierungen bzw. Subkulturen, die noch fehlen. Doch unabhängig davon, wie verbreitet Doping in anderen Sportarten ist, für nachhaltige Veränderungen im Radsport ist solch ein Vergleich nicht Voraussetzung, notwendig ist vor allem die Reflexion über die eigenen Realitäten.
Die Autoren leisten hierzu einen wichtigen Beitrag. Sie verfolgen die Entstehungsgeschichte und den gesellschaftlichen Hintergrund der engen Beziehung zwischen Hochleistungs(rad)sport und Doping, arbeiten die sozialen, sozialpsychologischen und sozioökonomischen Bedingungen, die Radsportler zu Dopingmitteln greifen lassen, heraus und machen den schleichenden Prozess, in dem sich vieles vollzieht, erfahrbar. Sie möchten nicht denunzieren, nicht anklagen, sondern Erklärungen finden, verstehen.
Sie führten 20 Interviews mit leistungsstarken Amateuren und Profis. 4 Fahrer waren anfangs/während der 70er Jahre, 9 anfangs/während der 80er Jahre, 4 anfangs/während der 90er und 3 im Jahre 2000 aktiv. Einige fuhren auch die Tour de France. 3 Fahrer hatten lediglich Vitamine genommen, alle anderen zusätzlich Corticoide und viele Amphetamine, anabole Steroide, Wachstumshormone bis hin zu EPO.
Gegliedert ist das Buch in 2 Teile, in einen theoretischen und in einen, der die befragten Fahrer, deren Sozialisation, Erfahrungen und Einstellungen stärker in den Mittelpunkt rückt.
Die Autoren zeichnen das Bild einer ausgeprägten Dopingkultur des französischen Radsports und untermauern dieses mit den Aussagen der befragten Leistungssportler. Sie belegen eine Kultur, die über viele Jahrzehnte gewachsen und heute sicher noch vorhanden ist bzw. wirkt. Es wird verständlich, warum der Radsport in diesem Ausmaß in Doping-Affairen verstrickt ist und warum auch heute noch trotz verschärfter öffentlicher Wahrnehmung und der Zunahme repressiver Maßnahmen, kein Ende der Dopingfälle abzusehen ist: Die Sozialisation von Menschen und gewachsene Strukturen kann man nicht einfach verändern, es genügt nicht, den Schalter umzulegen.
Da es nur wenig Literatur gibt, die so konzentriert den soziologischen Hintergrund des Dopings im Radsport aufschlüsselt, greife ich etwas ausführlicher, wenn auch bruchstückhaft, einige relevante Aspekte auf, es sind aber bei weitem nicht alle.
Teil I: Die Entwicklung der Normen und der sozialen Bedingungen
Im ersten Teil wird der gesellschaftliche Rahmen diskutiert, innerhalb dessen sich die leistungsstarken Amateure und Profis bewegen. Es werden die normativen Gegebenheiten, mit denen die verschiedenen Akteure dieses Sports (Sportler, Funktionäre, Trainer, Leiter, Mediziner) konfrontiert sind und leben, im Lichte der historischen Entwicklung aufgezeigt und analysiert. So wie sich einerseits die Arbeitsbedingungen der Radfahrer an sich ändernte Technik, Betreuung und Trainingsbedingungen anpassten, wandelte sich andererseits die Gewichtung ethisch-moralischer Gesichtspunkte, die Einschätzung gesundheitlicher Gefahren und damit die Vorstellung dessen, was Doping ist. Am Beispiel der Rollen der Ärzte lässt sich dies gut aufzeigen. Hatten sie anfangs die Aufgabe, Krankheiten und Verletzungen zu betreuen, bildete sich langsam eine Medizinerschaft heraus, welche die Sportler leistungsmäßig auf hohem Niveau halten wollte und sollte. Dies gelang mit immer zahlreicheren verfüfbaren pharmazeutischen Mitteln, zu denen ganz selbstverständlich verbotene Dopingmedikamente gehörten, denn es galt die Maxime, dass der Hochleistungskörper Ersatzstoffe dringend benötige. Immer wichtiger wurde die Frage, inwieweit der angeblich die Gesundheit beeinträchtigende Leistungsport gesünder gestaltet werden könne. Zum Credo wurde, Mittel, die Mängel ersetzten, konnten kein Doping sein. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich Mediziner als Leistungsdiagnostiker und Trainerersatz etablieren konnten.
„Dopingprodukte dienen dazu, die Rennen besser bestreiten zu können. Regenationsprodukte sind Mittel, die helfen, sich schneller und besser Erholung zu können, und dann wiederum besser Rennen fahren zu können.“ (Bernard)
Schon in den 50er Jahren gehörte Doping zum Radsport, wurde aber nicht hinterfragt. Dies setzte sich fort. Die Mitteleinnahme einschließlich Drogen in den Folgejahrzehnten war für die wenigsten Betrug, ein Unrechtsbewusstsein existierte kaum. Ob der Konsum als Doping wahrgenommen wurde, hing häufig von dem konkreten Anlass ab. In Trainingsphasen durfte man zu gewissen Mitteln greifen, in wichtigen Rennen, schon wegen der angesagten Kontrollen, weniger. Kriterien und Sechstagerennen galten nicht als sportliche Wettkämpfe und unterlagen somit auch kaum sportlichen Auflagen. Diese Tradition bzw. Wertigkeit zeigte und zeigt sich auch in den oberen Amateurleistungsklassen.
Sehr deutlich wird, dass vor allem für Profis galt, der Radsport ist ein Beruf! Zu seinen Anfängen war der Profiradsport lediglich Mittel zum Zweck, diente dazu Zeitungen und Radfirmen zu puschen. Ökonomische Prinzipien gaben die Richtung vor, das änderte sich bis heute kaum. Mitte des letzten Jahrhunderts steckte der Sport zwar längerer Zeit in einer ökonomischen Krise, doch in den letzten Jahrzehnten wies er ständig wachsende Umsätze auf. Radsportsponsoring lohnte sich. Dabei wurde allerdings die sportliche Leistung der Fahrer immer unverhohlener zur Ware. Die wachsenden pharmazeutischen Möglichkeiten verbesserten das Produkt, ein Hinterfragen der Dopingrealitäten seitens der Geldgeber fand wohlweislich nicht statt.
Teil II: der Verlauf der Radsportkarrieren
„Die Radsportkultur nimmt man so auf, ganz für sich allein … es ist eine Kultur. Ich lernte sie durch die Älteren vor mir, sie haben mir alles beigebracht. (…) Ich habe den Eindruck, dass ändert sich etwas. Es gibt eine Trainingskultur.
Was hat man unter dieser Kultur zu verstehen?
Es geht um Werte. Da gibt es Dinge, die sind heute etwas deplaziert. Z. B. lernte man damals, wenn man schnell sein wollte, durfte man nicht ins Schwimmbad gehen. Das lernte man während der Arbeit. Was das Essen anging, lernte ich schnell, dass Fritten nicht gut sind… Wenn man so begeistert ist, wie ich es vom Radfahren war, hört man zu und verinnerlicht all das Zeug.“ (Quentin)
Wie sahen die typischen Radsportkarrieren aus? Die Autoren betrachten 5 Phasen des Profitums, mit denen jeweils ein Dopingverhalten einhergeht, die sich fortlaufend bedingen: Erste Erfahrungen mit dem Radsport, das Erlernen des Metiers, dessen tägliche Ausübung, die Notwendigkeit des Siegens, das Ende der Karriere. (>>> Schaubild Karriereverlauf)
In den meisten der vorliegenden Fälle begann die Sozialisation hin zum Radsport früh in und mit Hilfe der Familie. Häufig übten Verwandte bereits diesen Sport aus. Dadurch finden die Kinder und Jugendliche schnell Kontakt zu Gleichgesinnten und zu in einen Club (Verein). Der Sport fördert die Gruppenzugehörigkeit durch gemeinsames Erleben von Spaß, Anstrengungen, gegenseitiger Hilfe und Solidarität trotz bestehender Konkurrenz. Nach und nach rückt der Körper mit seinen Reaktionen, wie Schmerzen, Ermüdung, Hochgefühlen uvm. in den Mittelpunkt des Denkens und der Gespräche. Ältere geachtete Sportler unterstützen und beraten. Sie verbreiten meist keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, wie neuere Trainingsmethoden, sondern geben eigene Erfahrungen und Rezepte weiter. Damit erfolgt eine frühe Prägung durch Tradition und Überlieferung. Fragen zu späterer Gesundheit und Ethik im Sport stellen sich in jungen Jahren nicht.
Der zeitliche Aufwand für den Sport nimmt stetig zu, damit einher geht die Abkopplung von Freunden und weiteren Freizeitbeschäftigungen, auch von der Familie. Schnell sprechen sich die medikamentösen Gepflogenheiten herum. Während dieser frühen Phase werden zwar noch keine harten Dopingsubstanzen eingenommen, doch sie sind bereits gut bekannt. Aufbaupräparate sind Teil des sportlichen Alltags. Mit der Zeit bekommen neue Trainer, auch in Gestalt von Medizinern, immer mehr Einfluss. Wie oben bereits beschrieben, verwischen langsam die Grenzen zwischen Krankheit, körperlichen Schwächen und sinkendem Leistungsvermögen. Mediziner werden zum vertrauten Ansprechpartner. Da aber nach herrschender Meinung zur Aufrechterhaltung der Leistungsstärke eine medikamentöse Betreuung rund um die Uhr nötig wird, müssen die Sportler bereit sein, sich selbst zu versorgen. So lernen sie sich Spritzen zu setzen. Zu Beginn sind es Vitaminspritzen, doch das kann sich schnell ändern. Die erste Spritze wird häufig zu etwas besonderem, zu einer Akt der Initialisierung, der Einführung in den inneren Kreis, jetzt gehören sie dazu.
Die Dopingpraxis, die Anwendung verbotener Substanzen, lernten die Befragten in unterschiedlichen Phasen kennen – einige bereits während ihrer frühen Amateurzeit, andere erst als Profi. Betrug war es für keinen von ihnen. Doping wurde zum Muss, wenn der Körper voll leistungsfähig sein sollte. „Nur wer den Radsport nicht kannte, nicht verstand, konnte von Betrug reden.“ (S. 173) Bis in den Amateurbereich waren Amphetamine jahrzehntelang so etwas wie ein Basisprodukt im Radsport. Corticosteroide übernahmen diese Rolle, wobei die Produktpalette immer umfangreicher wurde, auch Wachstumshormone waren den meisten bekannt. Die Anwendung wurde in der Gruppe offen diskutiert. Ein Interviewpartner berichtet, wie sie im französischen Leistungszentrum INSEP Sportlern anderer Disziplinen Informationen und Ratschläge erteilten. Es dauerte nicht lange, dass auch diese sich immer häufiger bedienten. Beschaffungsprobleme gab es kaum, die Netzte waren im engen Kreis bekannt, auch Väter halfen. Dieses sich Dopen war kein individuelles sondern ein Gruppen-Verhalten. Erfahrungsaustausch war wertvoll, wichtig wurde vor allem, keine positive Probe abzugeben.
„Wenn ein Radsportler mit einem anderen über Doping spricht, geht er immer davon aus, dass der andere etwas nimmt.“ (Henri)
„Vor der Festina-Affaire was das normal. Man hatte nicht den Eindruck etwas Unrechtes zu machen, das gehörte zwingend zum Beruf dazu. Um Erfolg zu haben musste man nach Mitteln greifen. So waren die Sitten, das war typisch.“ (Damien)
Amateure mussten nicht zwingend dopen, wer Profi bleiben wollte, hatte laut Aussagen kaum eine Wahl. Vor allem in den 80-90er Jahren konnte das Verweigern des Dopens schnell das Karriere-Ende bedeuten. Generell galt, zu groß waren die Abhängigkeiten der Sportler von den Arbeitgebern, zu unsicher die Arbeitsverträge, mangelnde Leistung oder unangepasstem Verhalten gefährdete den Vertrag. Anlässe, diese Dopingmentalität zu hinterfragen, ergaben sich kaum, denn Selbstverständliches nimmt man hin. Das Leben spielte sich innerhalb enger Grenzen unter mehr oder weniger Gleichen ab, Außenkontakte waren rar und selbst wenn sie stattfanden, vorwiegend nach der Rennsaison, wurden kaum kritische Fragen von und in dieser ‚Außenwelt’ gestellt.
Die Welt der Amateure der oberen Leistungsebenen wies und weist viele Parallelen zu den Profis auf. Auch die Amateure haben Möglichkeiten, ihren Sport ‚beruflich‘ zu nutzen. Gute Amateure, die auf nationaler Ebene fahren, bekommen meist ein Gehalt von ihrem Club und hatten immer schon Gelegenheit, mit Rennen Geld zu verdienen, mussten sich dabei aber nicht selten mit den örtlichen ‚Mafias’, die die Ergebnisse schon im Voraus beschlossen hatten, arrangieren. Den ehrlichen sportlichen Wettbewerb suchte man hier vergeblich. Zudem hatten sie kaum mit Kontrollen zu rechnen.
Diese Dopingpraxis half den Fahrern nach ihrem Verständnis den Alltag zu bewältigen, die Leistungshierarchien wurden davon nicht berührt. Das änderte sich in den 90er Jahren mit EPO. Plötzlich fuhren Fahrer davon, die sonst nie eine Rolle spielten. Damit wurden Grenzen überschritten, das war eindeutig Doping – doch auch dies wurde im Peloton schnell zu Normalität. Man passte sich an. Als einschneidender erwies sich in einigen Teams die Entmachtung der Teamärzte und auch Teamchefs durch die Macht der externen Starmediziner wie Conconi, Ferrari u.a.. Andererseits konnte dieses Doping auch wieder das Team fest gegen die zunehmend misstrauischer werdende Umwelt zusammenschweißen.
Eine besondere Herausforderung für die Profisportler stellt das Karriereende dar. Hier geht die Studie insbesondere der Frage nach, inwieweit Radsportler gefährdet sind, drogenabhängig zu werden. Die befragten Sportler waren fast alle während ihrer sportlichen Laufbahn mit Amphetaminen und harten Drogen (Kokain, Pot belge) in Berührung gekommen. Die Autoren erkennen zwar keine erhöhte Suchtrate im Verhältnis zur Bevölkerung, schließen allerdings einen Zusammenhang zwischen Sport und Drogenabhängigkeit nicht aus. Es kann festgehalten werden, dass suchtgefährdete Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Drogenkarriere riskieren.
Fazit
Die Autoren analysieren den französischen Radsport. Wie sich die Situation in anderen europäischen Ländern darstellt, bleibt offen. Es dürfte jedoch Parallelen geben. Auch zu Deutschland, obwohl dieser Sport hier lange nicht diesen Volksportcharakter hatte. Es liegen aber viele Aussagen vor, die Ähnlichkeiten des Milieus und der damit verbundenen Dopingkarrieren erkennen lassen. Von deutschen Profis der letzten Jahrzehnte wissen wir, dass ihr Verhalten sich nicht wesentlich von dem ihrer französischen Kollegen unterschied. Es häufen sich auch die publizierten Hinweise, dass Doping bei deutschen Amateuren keine Unbekannte war und ist. Dieses Kapitel bedarf aber noch einer weiteren konzentrierten öffentlichen Aufarbeitung, noch wird massiv abgeblockt.
Ich bin überzeugt davon, dass die Dopingbekämpfung nur gelingen kann, wenn offener als bislang mit der Vergangenheit umgegangen wird. Dies muss sein, wenn die Doping-Präventionsarbeit von Verbands- und Vereinsseite ernst gemeint ist. Die vorliegende Studie schildert deutlich die Sozialisationsmechanismen, die den Radsport zu dieser hoch dopingbelasteten Sportart machten und liefert viele Argumente dafür, dass die Dopingkultur ohne die Änderung bestehender Strukturen schwer zu besiegen ist. Wer Antidoping ernst nimmt und für Prävention eintritt, muss die Vergangenheit mit allen Verstrickungen in Sportler-, Funktionsträger-, Mediziner- und Trainerkreisen zum Thema machen.
die Autoren
Christophe Brissonneau lehrt an der Pariser Universität Descartes. Zur Zeit leitet er ein Forschungsprojekt zum Thema Doping in Europa, welches vom Europäischen Parlament in Auftrag gegeben wurde.
Olivier Aubel ist Hochschullehrer an der Universität Marc Bloch in Straßburg und Mitglied des Laboratoire de sociologie du sport (SPOTS) der Universität Paris Sud XI Orsay.
Fabien Ohl ist Professor an der Gesellschafts- und Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne.
Interview mit Ch. Brissonneau über das Buch:
>>> l’humanité: « Le dopage, un moyen d’exercer son métier »
von Christophe Brissonneau können auf doping-archiv.de zwei Beiträge nachgelesen werden:
>>> Doping und Sportmedizin: ein schwieriges Verhältnis
>>> Die Rolle der Mediziner, ein Chatprotokoll
Monika, 2008