Gamper, Michael: Die Doppelkultur des Sports

Der Kampf der zwei Sportkulturen

Der Sport entwickelte sich im 19. Jahrhundert in zwei Richtungen: Hier die nach Vorbildern strebende hehre Welt des Amateurismus, dargestellt in der olympischen Bewegung des Pierre de Coubertin, da der professionalisierte Sport, in Europa vor allem der Rad- und Boxsport, für den die moralischen Werte Fairness und Chancengleichheit nur eine untergeordnete Rolle spielten. Beide Welten existieren weiterhin, nähern sich aber an. Einerseits verschwindet der Amateurismus und die Mechanismen der Kapitalisierung des Sports greifen und verändern die Strukturen nachhaltig, andererseits werden die Rufe nach den ethischen Werten immer lauter vorgebracht. Hinzu kommt, dass zunehmend weite Teile der Gesellschaft für sich selbst die Optimierung des Körpers und des Geistes mit Hilfe von Medikamenten oder Eingriffen akzeptieren. Daraus entstehen Widersprüche und Spannungen, die sich an der Dopingproblematik gut zeigen und deren Auflösungen die Akteure wahrscheinlich überfordert, zumindest ist ungewiss, wohin die Reise geht.

Michael Gamper, Sportpublizist, beschreibt und analysiert das Dilemma in einem Artikel für den schweizer Tages-Anzeiger, 15.9.2006:
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Auszüge:

Der Kampf der zwei Sportkulturen

Doping ist ein Problem für die Sportelite aus Funktionären, Sponsoren und Journalisten. Die Masse ist demgegenüber indifferent, weil sie ein anderes Sportverständnis hat.

Von Michael Gamper

Für Sportbegeisterte war der Sommer 2006 gleich im dreifachen Sinne heiss. Die Körper erwärmten sich vor Grossleinwänden auf Grund der erhöhten Temperaturen, die Emotionen stiegen dank spannender Spiele und attraktiver Rennverläufe, und die Gemüter erhitzten sich angesichts von Bestechungs- und Dopingskandalen. Während die Verruchtheit des Sports, die Bereitschaft seiner Akteure zu Missbrauch und Betrug, offenbarer denn je wurde, während die Medien diese Entwicklung flächendeckend als ein Sodom und Gomorrha des beginnenden Jahrtausends verurteilten, versammelten sich in Stadien, auf öffentlichen Plätzen und an Landstrassen grössere Mengen denn je, um Fussballern und Radfahrern zuzujubeln.

Die Diskrepanz ist gross: Einerseits entrüsten sich Politiker, Funktionäre und Journalisten über die moralische Abgründigkeit des Sports, anderseits erfreuen sich die Massen scheinbar unberührt davon an den Spektakeln. … Dieser tiefe Graben ist freilich nicht eine Entwicklung der Gegenwart. Er hat seinen Ursprung im Entstehungszusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft und der modernen Sportbewegung.

… Seit der Französischen Revolution galten die sich spontan zusammenrottenden Mengen der Grossstädte als Gefahr staatlicher Ordnung, die jederzeit etablierte zivilisatorische Standards niederreissen konnten. Gustave Le Bon, der Verfasser der «Psychologie des foules» von 1895, sprach der Masse immerhin moralische Indifferenz zu. Er berichtete von Massen, welche die schlimmsten Taten begangen hätten, aber auch von solchen, die Beispiele von Moralität gezeigt hätten, zu denen ein Einzelner nicht fähig sei. Le Bon sprach aus, was viele dachten, … Die Mehrheit als keiner verlässlichen Überzeugung fähig und sie einer ethisch gefestigten Führung bedürftig zu erachten, wurde zum Allgemeinplatz der Kulturkritik.

Menschenformung durch Sport

Im Milieu der zivilisationspessimistischen Strömungen des späten 19. Jahrhunderts entstand auch das ideologische Konstrukt, das wir bis heute unter dem Namen «Sport» kennen. Pierre de Coubertin, der Begründer der olympischen Bewegung, erhielt für sein Sportkonzept entscheidende Einflüsse von den Public Schools, den Eliteinstitutionen des englischen Schulsystems, er stand aber auch stark unter dem Eindruck des Niedergangs des eigenen Landes. … Sport schien ihm das probate Gegenmittel zu sein, um den «degenerativen» und nivellierenden Tendenzen, dem Versinken in Krankheit und Mittelmass, entgegenzuwirken. Sport war für Coubertin eine Beschäftigung, die den Einzelnen leistungsorientiert, stark, widerstandsfähig, teamfähig machte, kurzum: die ihn physisch und psychisch auf die komplexen Anforderungen des modernen Lebens vorbereitete. Um nutzbringend zu sein, mussten die Leistungen mit Respekt für den Gegner und unter fairen Bedingungen erbracht werden. Materielle Interessen durften keine Rolle spielen, weshalb der olympische Sport den Amateurismus verlangte.

… Wer Sport im coubertinschen Sinn ausübte, sollte zu autonomer Selbstführung fähig werden und so anderen als Vorbild dienen; die Unterschichten aber, so Coubertin, seien dazu nicht in der Lage. Die modernen Olympischen Spiele, die 1896 erstmals stattfinden konnten, waren als Propagandainstrument gedacht, um in einem auf antike Traditionen bezogenen kultischen Rahmen den neuen modernen Menschen zu feiern.

Diese Vorstellungen einer Umformung der westlichen Gesellschaften durch Elitenbildung erhielten durch die Ereignisse des Ersten Weltkriegs einen entscheidenden Dämpfer. Die Menschenmaterialschlachten führten Coubertin vor Augen, dass auch die Massen sportlich erzogen werden mussten, um solche Gräuel hinfort zu vermeiden. Die olympische Bewegung wurde deshalb auf neuen Kurs gebracht: Sport wurde nun als universales Mittel der Menschenformung verstanden. …

Der Zweck heiligt die Mittel

Bei diesem Unterfangen aber erwuchs dem olympischen Modell eine hartnäckige Konkurrenz. … Um 1900 entstand in einigen Bereichen körperbetonter Wettkämpfe ein Verhältnis von individueller Meisterschaft und öffentlichem Interesse, das es den Akteuren erlaubte, aus dieser Betätigung ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Radfahren und Boxen formierten sich rasch zu solchen professionalisierten Sportarten, und auch das gesamte genuin nordamerikanische Sportsystem bildete sich in dieser Weise aus. In diesen Milieus spielten ethische Ideale eine geringe Rolle. Fairnessgedanke und Chancengleichheit hatten hier keine Bedeutung, es zählten der Erfolg und der Unterhaltungswert. Zum Erreichen der Ziele waren alle Mittel recht, und einzelne Disziplinen wie das Sechstagerennen waren auf Grund ihrer Anforderungen darauf angelegt, dass leistungsfördernde medizinische Massnahmen angewendet werden mussten. Die Massen wiederum waren die Träger dieses Organisationsprinzips des Sports: In Form von Eintrittsgeldern finanzierten sie die Wettkämpfe und damit das Auskommen der Profisportler.

Doppelkultur – im Spiegel der Stadien

Aus dieser Doppelkultur des Sports ging auch ein doppeltes Interesse an den Massen hervor, das seinen Ausdruck in der Institution des Stadions fand. … Die mit pädagogischen Absichten errichteten frühen Stadien wollten die Zuschauer für den aktiven Sport gewinnen … So spielten ästhetische Grundsätze, nämlich eine geometrisch funktionale Sachlichkeit, bei der Errichtung der Stadien in Nürnberg (1928) und Amsterdam (1931) eine entscheidende Rolle, während wissenschaftliche Rücksichten, die durch psychophysikalische Experimente ermittelte ideale Sichtdistanz zwischen Zuschauer- und Innenraum, für das Wiener Stadion von 1931 prägend waren.

In ganz anderer Tradition entstanden die zahllosen Stadien, die von England ausgehend zwischen 1880 und 1930 in fast allen europäischen und südamerikanischen Städten als Spielorte privater Fussballklubs errichtet wurden. Sie bestanden meist nur aus Bretterzäunen und Holztribünen und wurden jeweils den Platzbedürfnissen gemäss erweitert. Sie zeichneten sich durch einen engen, rechteckigen Zuschnitt und eine unmittelbare Ausrichtung auf das Spielfeld aus. Die Zuschauer waren darin dicht zusammengedrängt, was die emotionale Bindung untereinander und an Spieler und Ort förderte. Die auf Publikumseinnahmen angewiesenen Vereine nutzten so das Stadion als einen gewinnorientierten Ort der Massenunterhaltung, den sich die Stadtbevölkerung als Forum folkloristischer Kreativität und lokaler Vergemeinschaftung aneignete.

Im Prozess der allgemeinen gesellschaftlichen Durchsetzung und der Globalisierung des Sports nach 1945 gingen die beiden Traditionen vielfältige institutionelle Verbindungen ein, als zwei Kulturen des Sportverständnisses bestanden sie jedoch weiterhin. … Von Beginn weg befand sich der Olympismus im Schulterschluss mit dem Nationalismus. Einerseits gaben die Olympischen Spiele dem nicht professionalisierten und deshalb von staatlicher Unterstützung abhängigen Sport eine Plattform, auf der nationale Antagonismen und später während des Kalten Krieges Konflikte zwischen politischen Blöcken ausagiert werden konnten. Anderseits fügte sich das auf Erziehung und Gesunderhaltung angelegte Ideal körperlicher Betätigung gut in die Ziele westlicher Wohlfahrtsstaaten, in denen die nutzbringende Verbindung von Turnen und Armee an Bedeutung verloren hatte.

«Guter» Sport, der auch der Jugend zugemutet werden konnte, etablierte sich als fairer, gesundheitsorientierter, «olympischer» Sport. Sponsoren und Werbeindustrie förderten diese Entwicklung zusätzlich. Sie orientierten sich zwar am Spitzensport und unterstützten die publikumswirksamen Sportarten und Athleten, weil nur die Massenorientierung den gesteigerten Rücklauf der ausgegebenen Summen in Aussicht stellte. Doch verlangten sie von ihren Werbeträgern, dass diese, zumindest auf ihrer der Öffentlichkeit zugewandten Oberfläche, sich dem olympischen Ideal fügten. Dass die Internationalisierung des Sports immer auch ein Machtkampf gewesen ist zwischen Olympismus und Professionalismus, bei dem es um Prestige, Einfluss und vor allem Geld ging, kristallisiert sich am eindrücklichsten an der Dopingproblematik. Dort sahen sich sportartenspezifische Kulturen, in denen die effiziente Nutzung leistungsfördernder Mittel Teil des professionellen Selbstverständnisses gewesen war, seit den späten 1960er-Jahren einem zunehmenden Druck des olympischen Sportgedankens ausgesetzt, der zuvor in ihrer Geschichte nie eine wichtige Rolle gespielt hatte.

Dies gilt in besonders drastischem Masse für den Radsport, aber auch für den Fussball und erst recht, seit einigen Jahren, für die nordamerikanischen Profisportarten Baseball und Football. Im Gegenzug professionalisierten sich klassische Amateursportarten wie Leichtathletik und Schwimmen immer stärker, womit auch in diesen Sparten der Anreiz für Doping stark anstieg. Manifest wird dieser Kampf der zwei Kulturen im Vorgang der Dopingbekämpfung, in dem von der diskursmächtigen Partei relativ willkürlich Stoffe und Praktiken verboten werden, deren Gebrauch sie nicht effizient kontrollieren und bestrafen kann – ein Kampf, der darauf angelegt ist, nie gewonnen werden zu können.

So installierte sich ein doppelbödiges System: In den Medien und in den offiziellen Reden von Funktionären und Politikern wird Sport so diskutiert, als ob er nach olympischen Prinzipien funktioniere, während die Profisportler so handeln, wie sie es nach professionellen Kriterien der Leistungsoptimierung tun zu müssen glauben. Die einzigen wirklichen Träger der Sportideale sind die Amateursportler. Der grossen Menge der Sportkonsumenten aber sind Ideale wie Fairness und Chancengleichheit ziemlich egal. …

Die Krise des Systems als Chance

Von Zeit zu Zeit freilich wird dieses zynische System erschüttert, wenn Dopingpraktiken von Sportstars nachgewiesen werden können. … Doch an deren Zerstörung haben die Akteure kein Interesse. Und das Publikum unterhält sich am Skandal, es empört sich über die verletzten Ideale, doch mit den ersten grossen Emotionen verebbt auch das Interesse am Gegenstand. … Effizienzsteigerung, Verbesserung von Zweck-Mittel-Relationen um jeden Preis sind zu allgemeinen Prinzipien in den westlichen Gesellschaften geworden. Intuitiv erkennt deshalb auch die grosse Menge, dass dopende Sportler nur im System «Sport» als abnormal gelten.

Dopingskandale stürzen deshalb nicht den Sport in eine Krise, sondern bloss das bestehende System und den olympischen Sportbegriff. Sie sind so immer auch eine Chance, den Sport als Ganzes, in seinen Bedingungen und Bedeutungen, neu zu verhandeln. Diese Chance aber wird vertan, wenn an Stelle dessen bloss über schärfere Dopinggesetze debattiert wird.