2019 Perikles Simon: Big Data im Sport : Athleten als Versuchskaninchen
Perikles Simon, Sportmediziner an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, verfasste einen Gastbeitrag für die FAZ, der am 20.11.2019 erschien, in dem er sich mit den Trends technischer Leistungsoptimierung befasste und die damit verbundene, nicht mehr zu kontrollierende Erfassung persönlicher Daten hinterfragt.
Wer sich mit Möglichkeiten der Körper- und Leistungsoptimierung beschäftigt und bereit ist, neue Technologien, Methoden und Analyseprogramme zur optimalen Unterstützung der sportlichen Betätigung anzuwenden, kann schnell den Überblick verlieren. Das betrifft sowohl Hobby- und Amateursportler*innen als auch Hochleistungsathlet*innen. Die Entwicklungen gehen rasant voran. Was bedeutet das für die Zukunft des Sports und den Anti-Doping-Kampf? Die Beispiele die Perikles Simon nennt, lassen erahnen, dass neue Denkansätze nötig werden, sowohl um den Hochleistungssport der Zukunft zu verstehen und vielleicht auch neu zu lenken, als auch um den gemeinen Hobbysportler in seinem Tun begleiten zu können.
Inwieweit die jüngst vorgestellte vorläufige POTAS-Analyse der Sommersportarten zu den deutschen Erfolgschancen im internationalen Vergleich mit diesem rasanten Fortschreiten inhaltlich mithalten konnte oder ob das aufwändige Werk schon bald im Papierkorb landen wird (neben der harschen Kritik, die sich die Analyse bereits aus vielfältigen anderen Gründen gefallen lassen muss), wird sich zeigen. Simons Ausführungen lassen erkennen, warum Elitesportler*innen sich Trainingsgruppen wie dem Nike Oregon Project zuwenden. Eine riesige Herausforderung zeichnet sich mit diesen Entwicklungen zudem für den internationalen Anti-Doping-Kampf ab.
Der Artikel wird im Folgenden gekürzt und mit Zitaten wiedergegeben. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte den Gastbeitrag am 20.11.2019:
Perikles Simon: Big Data im Sport : Athleten als Versuchskaninchen
Big Data im Sport : Athleten als Versuchskaninchen
„Im Herbst beginnt für manch sportliche Familie eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Material-, Technologie- und für die Fortschrittlichen auch eine Datenschlacht. Von der Funktionswäsche bis zum Sportgerät, Gewohntes wird hinterfragt. … Sie überlegen, ob es sich lohnt, auf das neue im Helm integrierte Webcam-System umzusteigen; ob Sie vor allem mit dem „Quantified-Self“-Ansatz Ihrer Kollegin, die jetzt zusätzlich zur Herzratenvariabilität auch noch einen neuen hochfrequenten Drei-Achsen-Beschleunigungssensor zur Aufzeichnung ihrer Daten einsetzt, mithalten können und wollen.
Jetzt haben Ihnen die Kinder zum Glück gespoilert, früher hieß das gesteckt, dass das Smart-watch-kompatible Multisensor-System, das Sie sich schon zu Weihnachten wünschen wollten, nur seniorenmäßig top ist, weil es ein Einkanal-EKG-Signal liefert. …Ihre beim Skifahren hochfrequent gemessenen Abfahrtsdaten samt der ermittelten Maximalgeschwindigkeiten sind Spielerei, und zum Check-up beim Sportmediziner – Thema EKG und optimale Herzfrequenzkorridore für Ihr Training – waren Sie auch schon. Ihnen kommt es deshalb vor allem auf die Daten vom neuen Drucksensor in den Einlegesohlen ihrer Skischuhe in den technisch anspruchsvolleren Passagen an. …“ …
Mess-Chichi macht noch keinen Meister
Doch was diese generierten Pseudo-Big-Data tatsächlich aussagen, ob damit etwas anzufangen ist, weiß niemand so genau.
„Jedenfalls hat Ihnen Ihr Kollege … erklärt, dass von dem bisschen Mess-Chichi allein noch kein Meister vom Himmel gefallen ist. Sie betrachten die Äußerung skeptisch, denn früher hat der Kollege vor der Abfahrt gerne einmal eine Ritalinpille seines Sohnes, der das Medikament wegen eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms verschrieben bekommen hatte, eingeworfen. Jetzt … hat er sich [aus den Vereinigten Staaten] einen Helm mitgebracht, samt integriertem Neuropriming mittels tDCS („Transcranial direct current stimulation“). Das Verfahren setzt das Hirn kurzfristig unter Strom und erhöht nachfolgend angeblich die Lernfähigkeit. Statt der Ritalinpillen (Methylphenidat) des Sohnes hat er sich zudem … die Designer-Pille 4-Fluoromethylphenidat im Darknet besorgen lassen. Die sind im Bodybuilding schon seit Jahren im Einsatz, denn sie fallen im Doping-Test noch nicht auf und putschen für wenig Geld noch ein bisschen länger auf. …“
Eine gesunde Ernährung gehört natürlich dazu, auch hierfür stehen neue Analyse- und Testangebote parat.
„Da gibt es den direct-to-consumer-Gentest über WGS („Whole genome sequencing“/„Bestimmung des kompletten Erbgutes“), mit dem ermittelt werden kann, welcher Sporttyp man ist und welche Trainingsformen und Ernährungsweisen zur Lebensweise und zu den individuellen Genen passen. Da die Ergebnisse solche Analysen durchaus noch Zweifel an der Richtigkeit hervorrufen können, bieten sich weitere Analysemöglichkeiten an wie z. B. die Mikrobiomanalyse (einer genetischen Bestimmung der Darmbakterienflora), die vielleicht weiterhelfen.“
„Um es abzukürzen: Die Fragen, die sich Ihnen als vermeintlich technikaffiner Sportler bis hier stellen könnten, beschäftigen unsere Spitzensportler mitunter auch, leider noch viel mehr. Dafür bin ich als Sportmediziner mit meinen forschenden Kollegen mitverantwortlich. Die oben genannten Technologien sind für Sie als Hobbysportler auf dem Markt der Sporteitelkeiten allesamt schon zu erwerben. Aber in der Forschung sind Sie nicht mehr auf dem neuesten Stand.“
Wir wissen es nicht
„Wir setzen beispielsweise neue optische Messsysteme ein, um Blutgefäßveränderungen unter der Haut während des Sports analysieren zu können. Kollegen aus der Informatik helfen uns, mittels tiefer neuronaler Netze als einem Anwendungsbereich der Künstlichen Intelligenz die umfangreichen Daten in Echtzeit zu prozessieren und diese dann mit kritischen leistungslimitierenden physiologischen Messgrößen abzugleichen. Das Ziel ist es, aufwendige, zum Teil blutige Messverfahren in der Leistungsdiagnostik zu ersetzen und den Leistungszustand aller Körperpartien auch regional besser einschätzen zu können.“
Damit ließe sich z. B. während eines Fußballspiels leichter abschätzen, ob ein Spieler erschöpft ist, oder ob ein potentielles Schussbein noch ausreichend belastbar ist.
Den Sportmedizinern erschließt sich mit den verschiedenen neuen Methoden manches Geschehen im Körper besser, doch um Leistung gezielt steigern zu können, reichen diese noch nicht aus.
„In einem anderen Bereich setzen wir die sogenannte „Liquid Biopsy“ ein, um Erbsubstanzmoleküle als Stressmarker zu messen. Die notwendige Messgenauigkeit des Verfahrens sieht so aus: Um mit einem kleinen Blutstropfen Leistungsdiagnostik möglich zu machen, müssen wir eine DNS-Menge, die im 200. Teil eines einzelnen Zellkerns steckt, nicht nur detektieren, sondern diese gemäß internationaler Labor-Richtlinien zuverlässig quantifizieren.“
In kriminologischen Speziallabors wird dieses Verfahren zur Quantifikation von Erbsubstanz an Tatorten eingesetzt. Es gab hierzu auch bereits ein Forschungsprojekt mit Fußballern der Bundesliga. Ob diese Technologien den Sportlern etwas bringen, ob sie sinnvoll sind – niemand weiß es.
„Verbesserte Formen dieser Messtechnologien, die anwenderfreundlich sind und schnellere Messungen zulassen, werden aber demnächst im Spitzensport zum Einsatz kommen, da sich die ganze DNA-Analytik und die optischen Messsysteme schnell weiterentwickeln. Zumindest in der Forschung durch Universitäten geschieht dies unter Einhaltung ethischer Richtlinien und nach entsprechender Genehmigung, während man sich wundert, warum die oben erwähnten „direct-to-consumer“-Gentests, die Firmen anbieten, nicht deutlich schärfer reguliert werden.“
Das Wettrennen zwischen Forschung an Elite-Universitäten und Forschung der Industrie ist längst entbrannt. Hobbysportler und Spitzensportler liefern mittlerweile riesige Datenmengen, auf die alle gerne zugreifen möchten. Insbesondere in den USamerikanischen Profiligen, insbesondere im Basketball, fallen gigantische Datenmengen an, da sämtliche Techniken des Bewegungsmonitorings flächendeckend eingesetzt werden. Die Football-Liga AFL z. B. ergänzt mit Beschleunigungssensoren in Helmen, um mögliche Hirntraumen durch Aufprall rechtzeitig erkennen zu können.
„Ein Heer an Spezialisten kümmert sich um derlei Daten und lässt sich von Spitzenforschern ständig beraten, was sinnvoll und möglich erscheint, um die Leistung, aber auch die Regeneration zu steuern. Mehrere Gigabyte pro Spieler pro Saison kommen schnell zusammen. Das sind nur die Daten, die man von Firmen kaufen kann. Sie ähneln den Bewegungsprofilen im deutschen Profifußball, von denen wir Zuschauer nur einen Bruchteil als „Trackingdaten“ auf Statistikseiten freiverfügbar sehen. Falls diese Daten noch um eigene leistungsdiagnostische, physiotherapeutische, medizinische Daten und die Daten aus experimentellen Messsystemen ergänzt werden, lässt sich die Individualberatung der Sportler immer weiter vorantreiben.“
Mit diesen Daten können Teilleistungsschwächen und manche Beeinträchtigungen erkannt und mögliche Verletzungen verhindert werden. Doch das Abwägen zwischen unnötiger Schonung und tatsächlichem hohen Verletzungsrisiko bleibt ein schmaler Grat.
„Entsprechend sitzen in Champions-League-Vereinen wie Paris Saint-Germain eigens engagierte Spitzenforscher – beraten von Datenanalysten – und planen das Biomonitoring hauptamtlich. Davon sind wir selbst in der Fußball-Bundesliga noch weit entfernt.“
Daten auf Servern in der Karibik
„Das Forschungsgold der Zukunft liegt in den Algorithmen, die bei derlei beständig anfallenden Datenmengen eine erfolgreiche Nutzung ermöglichen. … Datenvolumen, Datenvielfalt, die Unterschiedlichkeit der Datensatzstrukturen und auch die Datenflussrate lassen erkennen, wie schnell wir im Sport mit Big-Data-Fragestellungen konfrontiert werden. Die großen Technologie- und vor allem die IT-Konzerne haben längst Forschungsabkommen über die Nutzung von Künstlicher Intelligenz zur Auswertung dieser sogenannten Physiom- und Genom-Daten mit den entsprechenden Forschungseinrichtungen an Elite-Universitäten abgeschlossen. Auch Ihre Mobiltelefon- und Smartwatch-Daten könnten hier schon Verwendung finden, wahrscheinlich ohne Ihr Wissen. Sie haben es nur angeklickt. Die Elite-Unis allein können ohne die großen Firmen nicht mehr vielversprechend in diesem Bereich forschen; sie brauchen schlicht und ergreifend Ihre Daten. Sie haben richtig gelesen: „Ihre“. Denn Sie sind hier gerade das Versuchskaninchen.“
Bewegungsprofile, Herzfrequenzen, eingesetzte Sensoren, Smartwatches, Smartphones mit entsprechenden Apps sowie der „direct-to-consumer“-Gentests füttern die Algorithmen. Auch wenn erst einmal nur über Populationen Prognosen erstellt werden können, ist anzunehmen, dass diese bald zielgenau Personen erfassen können.
„Bislang hat man aus den Facebook-Profilen von vielen Millionen Nutzern mit Hilfe des recht einfachen psychologischen Persönlichkeitsmodells der Big-5 (Rücksichtnahme, Geselligkeit, Perfektionismus, Aufgeschlossenheit, emotionale Labilität) Wahrscheinlichkeiten für die Wünsche und das Verhalten von Nutzern – sprich Konsumenten und Wählern – abgeleitet. Wie viel könnte dann später möglich sein, falls diese Informationen aus den Profilen mit Physiom- und Genomdaten gekoppelt werden? Erstaunlich ist, wie gut bereits ohne den Einsatz Künstlicher Intelligenz aus einer Genomanalyse eine 3-D-Gesichtsrekonstruktion möglich ist.“
Es gibt große Unterschiede zwischen den Forschungsmöglichkeiten großer Firmen und Universitäten. Firmen können bspw. auf einfache Einverständniserklärungen zurückgreifen, wohingegen für wissenschaftliche Studien aufwändige Aufklärungen unter Beachtung der Zustimmung einer Ethikkommission verlangt werden.
„Es muss erst wieder „Waffengleichheit“ hergestellt werden. Wer kommt schneller, unkomplizierter, kostengünstiger, kontinuierlicher, unkontrollierter an in Echtzeit erhobene, genaue und mit Ihren Social-Media-Daten verknüpfbare, möglichst valide Daten? Das war, je nachdem, wo Sie rumklicken, bislang die legale Variante. Jetzt gehen wir in den Keller und verknüpfen diese Daten noch mit dem beim Mobiltelefonkauf hinterlegten Kontodaten, dem Bild Ihres Personalausweises und der elektronischen Patientenakte. Das macht keiner? Das wäre kriminell? Das ist nicht so einfach möglich?
Wer wird die legale Variante bis an die Grenze ausloten? Die Universitäten, mit dem in der Forschung exzellenten Kollegen aus der Theologie in unserer Ethikkommission, ein multinationaler Datenkonzern, der Ihnen und Ihren Politikern ein unwiderstehliches Lockangebot per Mausklick macht, mit oder ohne Kooperationsvertrag mit uns, oder ein Staat, der sich über das letzte europäische Abkommen zum Datenschutz gelinde gesagt aufregt oder gar amüsiert?
Es ist wie beim Thema Doping im Spitzensport. Wir Forscher sprechen eines nicht aus, aber meinen genau das dafür sicher zu wissen: Der andere macht es schon, weil es so einfach ist. Wenn man es mit der Rechtsabteilung eines Datengroßkonzerns im Rücken betreibt – ja, dann ist es sogar wahrscheinlich alles legal, nicht wahr?“
Auch im deutschen Spitzensport kommen die bestehenden Möglichkeiten und Entwicklungen bereits vielfach zur Anwendung, nebeneinander und kaum hinterfragt. Nicht selten handelt es sich bei dieser Praxis um Polypragmasie und Paramedizin mit unabsehbaren Folgen.
„Athleten werden von Laien überzeugt, sich genetisch testen zu lassen, Nahrungsergänzungsmittel zuzuführen und auf nicht ausreichend getestete Technologie zu vertrauen. Das alles geschieht weitgehend unbegleitet, aber nicht selten motiviert von ehrgeizigen Bundestrainern, die ihrerseits weitgehend Unkundige hinsichtlich der angesetzten Maßnahmen sind. Im vergangenen Jahr haben Bundeskaderathleten aus unterschiedlichen Sportverbänden sich bereits einem Genom-Screening unterzogen. Ihre Daten liegen jetzt sehr wahrscheinlich auf Servern in der Karibik, denn dort hat einer der kostengünstigen Anbieter, der im Internet mit seinem Sitz in Dänemark wirbt, sein Hauptquartier. Eine Aufklärung von Sportlern über deren Risiken und den insbesondere in der Regel nicht vorhandenen Nutzen solcher Verfahren kommt leider für alle Beteiligten mitunter zu spät.“
Spitzenathleten, die eine professionelle Anforderungen stellen, sind daher besser aufgehoben in einem Umfeld, das Spitzenfachkräfte für Sporttechnologie, Leistungsdiagnostik und auch Sportmedizin zur Verfügung stellt. Solch ein kostenintensives Umfeld wird sich eher finden lassen, wenn Firmen zur Finanzierung bereit stehen.
„Ein Umfeld, das in beiden Systemen – staatlich wie firmenfinanziert – unter Umständen die Leistung der Athleten stärker in den Fokus rückt, als die Gesundheit und die nachhaltige persönliche Entwicklung. In unserem staatlich finanzierten Sportsystem meine ich zu erkennen, dass die Akzente vorrangig auf Leistung bei weitreichender Irrelevanz von Gesundheit und Gesundheitsberatung der Athleten gelegt werden. Das geht aus den Kriterien für die Mittelverteilung im Hochleistungssport hervor. Sollte Deutschlands Spitzensport mit staatlichen Maßnahmen wieder konkurrenzfähig werden wollen, müsste den Betreuenden der Athleten täglich ein Heer von Experten zur Seite gestellt werden. Denn diese Leistung wird Spitzensportlern in professionellen Zentren des Trainings und der Vermarktung geboten.
Daneben gibt es noch Höchstleister, welche ich als sympathische Extremisten bezeichnen möchte. Sie entziehen sich beiden Systemen so gut es geht und setzen schlicht auf Natürlichkeit.“