1998 Andreas Singler und Gerhard Treutlein:
Verantwortung als Prinzip und Problem:
Zum Phänomen des Dopings aus ethischer und pädagogischer Sicht
Der Text erschien 1998 in dem Buch
‚Pädagogik als Verantwortung‘ – Zur Aktualität eines unmodernen Begriffs‘, herausgegeben von Thorsten Lorenz und Albrecht Abele, Deutscher Studien Verlag, Weinheim (Beltz-Gruppe).
Die Veröffentlichung des Beitrags erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Das Buch ist nicht mehr erhältlich.
Der Text zum Download:
>>> 1998 Singler Treutlein Verantwortung als Prinzip und Problem.pdf
Andreas Singler und Gerhard Treutlein sind die Autoren der Bücher
>>> Doping im Spitzensport – Sportwissenschaftliche Analysen zur nationalen und internationalen Leistungsentwicklung
>>> Doping – von der Analyse zur Prävention
sowie zahlreicher weiterer Veröffentlichungen zum Thema, die zum großen Teil hier auf doping-archiv.de zitiertsind..
Gliederung des Textes:
• Kurzfassung
• 1. Zum Prinzip Verantwortung
• 2. Doping und das Problem der Verantwortung
• 3. Verantwortungsmuster im Hochleistungssport
3.1 Doping und Verantwortung von Wissenschaftlern
3.2 Doping und ärztliche Verantwortung
3.3 Der dopende Athlet und die Spirale der abnehmenden Verantwortlichkeit
• 4. Doping aus lerntheoretischer Sicht
• 5. Pädagogsiche Schlussfolgerungen für die Dopingbekämpfung
• Anmerkungen
Zitate:
2. Doping und das Problem der Verantwortung
Komplexe Systeme verschließen sich häufig eindeutigen, im Sinne unmittelbarer Problemlösungen nutzbaren Analysen. Doping im Hochleistungssport bildet da keine Ausnahme. Den einzelnen Mitgliedern eines sozialen Systems wie dem relativ autonomen Hochleistungssport erschwert die Komplexität des Dopingphänomens das Erkennen und die Zuschreibung von Fremd- wie von Eigenverantwortung. Viele beteiligte Personen am Dopinggeschehen entwickelten daher eine Vorstellung der Machtlosigkeit gegenüber latent spürbaren, für konkrete Gegenmaßnahmen aber nicht greifenden Erscheinung. Die amerikanischen Soziologen Sykes und Matza gehen mit ihrer „Theorie der Neutralisierungstechniken“ von äußerer Abweichung von gesellschaftlichen Normen bei innerer Konformität aus: „Während [der Delinquent] anscheinend stark dem abweichenden System der delinquenten Subkultur zugetan ist, scheint er die moralische Gültigkeit des herrschenden normativen Systems anzuerkennen“ (Sykes und Matza, 1968, S. 362).
(…)
Die Vermutung, dass bei vielen dopenden Athleten und ihrem Umfeld (Trainer, Ärzte etc.) grundsätzlich von innerer Konformität trotz Abweichung ausgegangen werden kann, stützt eine italienische Studie von Scarpini (…).
Es wird somit nicht immer ganz einfach sein, beim Doping ursächlich Schuldige auszumachen. Lenk (1992, S. 70) fordert daher ein Verfahren der anteiligen Verantwortungsübernahme sowie eine Sensibilisierung des moralischen Gewissens. Dieses individuelle moralische Gewissen wäre auch dann anzusprechen, wenn im Sinne anteiliger Verantwortungszuschreibung die Mitglieder einer Organisation betroffen sind. Verantwortung dürfe dabei nicht lediglich zugeordnet werden, sie müsse vom Adressaten auch als solche empfunden werden. (Lenk, 1992, S. 70ff).
3. Verantwortungsmuster im Hochleistungssport
Systemtheoretische Überlegungen führen zu der Annahme, dass die Sytemlogik des Spitzensports mit seinem – von Pierre de Coubertin nicht allein leistungssportlich, sondern auch sittlich gedachten – Steigerungsimperativ des „citius, altius, fortius“ zwingend zum Doping führe. Ist also das System schuld? Und wer würde dann die Verantwortung dafür tragen?
Aus normentheoretischer Sicht liegt auf der Hand, dass ein System seine Regeln nur dann schützen kann, wenn es entsprechende Maßnahmen sozialer Kontrolle einsetzt – in diesem Fall in erster Linie qualifizierte, ernst gemeinte Dopingkontrollen sowie die konsequente Einhaltung der Statuten bei positiven Befunden. Aber auch positive Sanktionen wären zu berücksichtigen: „Die Gruppe kontrolliert ihre Mitglieder, indem sie diesen Belohnungen bereitstellt, mit deren Entzug sie ihnen drohen kann“ (Homans, 1968, S. 325). Ohne solche stabilen Rahmenbedingungen, die im Sport zuoberst durch das Internationale Olympische Komitee bzw. die Welt-Fachverbände zu gewährleisten sind, können alle anderen notwendigen Maßnahmen wohl kaum greifen. Ohne sie kann wohl auch ein Empfinden für eigene Verantwortlichkeit, wie Lenk sie anmahnt, nicht ernstlich erwartet werden. (…)
3.1. Doping und Verantwortung von Wissenschaftlern
Angesichts beträchtlicher Probleme der Gefahrenabschätzung kann sich die Wissenschaft nicht mehr ohne weiteres auf ihren wertfreien Charakter zurückziehen. (…) Als wertverletzend kann eine auf Leistungsoptimierung ausgerichtete Dopingforschung angesehen werden (…). In der DDR waren Doping und Dopingforschung staatlich gesteuerte Geheimnisse. Wissenschaft und Geheimhaltung sind jedoch unversöhnliche Gegner, da „jede Geheimforschung überhaupt … wissenschaftsfremd, ja wissenschaftsfeindlich und von wirklich verantwortlichen Wissenschaftlern zu bekämpfen oder zu unterlaufen (ist)“ (Franke, 1993, S. 2).
Dem Wissenschaftler obliegt nach Hans Jonas aufgrund seines besonderen Wissens auch eine besondere Verantwortung. Er hat sich in spezifischer Weise Klarheit über die Fernwirkungen seiner Forschung bzw. Wissensanwendung zu machen. Versuche mit gesundheitsgefährdeten Medikamenten am Sportler sind daher immer fragwürdig. Nicht nur bezogen auf die untersuchte Gruppe selbst, sondern auch im Hinblick auf die mögliche Verbreitung von Anwenderwissen, das durch solche Experimente freigesetzt wird.
Dies hat nicht nur für die geheime DDR-Forschung (Berendonk, 1992) zu gelten, sondern z. B. auch für eine von der Bundesrepublik Deutschland geförderte Testosteronstudie an Skilangläufern (Jakob, Hoffmann, Fuchs, Stüwe-Schlobies, Donike und Keul, 1988, S. 41ff), mit der angeblich nachgewiesen werden sollte, dass Testosteron keine Leistungsverbesserungen und keine verbesserte Regeneration im Ausdauersport bewirke. (…) Dass aber Josef Keul als Mitglied der damaligen Forschergruppe behauptet, es sei damit nachgewiesen worden, alle anabole Steroide hätten generell keine Wirkung im Ausdauersport (Waldbröl, 1997), ist ein bedenkliches Beispiel für den Umgang von Wissenschaftlern mit – ethisch ohnehin auf fragwürdige Weise gewonnenen – wissenschaftlichen Ergebnissen. (…)
Insbesondere in der Pionierzeit der Sportmedizin in den 60er und 70er Jahren fand Dopingforschung selbst in Westdeutschland ohne hemmende ethische Bedenken statt. (…) Jedoch nicht nur der Naturwissenschaftler muss sich kritisch überprüfen, sondern die Sportwissenschaft insgesamt.. So leisten z. B. Trainingswissenschaftler, die manipulierte Leistungen als Richtschnur an die Praxis weitergeben, ihren Beitrag zum Problem der informellen Dopingerwartung im Hochleistungssport. Sportsoziologen, -pädagogen oder -philosphen sollten sich fragen, warum sie sich in den vergangenen Jahrzehnten so wenig an der Problemdurchdringung beteiligt haben.
3.2 Doping und ärztliche Verantwortung
Ein Arzt, der Dopingmittel verschreibt, verabreicht oder die Einnahme von Dopinmitteln beratend betreut, kann sich in einer ethischen Zwickmühle befinden. Um Überdosierungen zu vermeiden, nehmen Ärzte wohl nicht selten mäßigend die Beraterposition ein, in der aber bald schon die Rolle des Behüters von der des Machers nicht mehr klar zu unterscheiden sein wird.
Dem Arzt obliegt bei Verabreichung oder Verschreibung von Medikamenten die „Tatherrschaft“ (Link, 1987, S. 2549), da er allein die Folgen seiner Tat abschätzen kann. Ihn trifft auch moralische Schuld, wenn er negative Folgen zunächst nicht abschätzen kann oder will, diese aber später eintreten.
(…)
Da es für gesunde Leistungssportler nach einer Entschließung des Deutschen Sportärzte-Bunds von 1977 (Berendonk, 1992, S. 333) keine medizinischen Indikation für die Einnahme von Anabolika und andere verbotene Substanzen gibt, macht sich der Arzt in vielfacher Weise schuldig; die Vorwürfe reichen vom Rezeptbetrug bis zur Körperverletzung, von der Beihilfe zum Betrug im Sport bis zur Selbstdarstellung durch Athletennähe und Sportlergunst. Bei im Sport tätigen Ärzten kann nicht selten ein „Verlust an professioneller Distanz“ (Berendonk, 1992, S. 279) zum Patienten festgestellt werden.(…)
3.3. Der dopende Athlet und die Spirale der abnehmenden Verantwortlichkeit
Chancengleichheit „jenseits von Unterschieden in technischer Leistungsfähigkeit, Taktik und Strategie“ /Lüschen, 1981, S. 200) und Fairplay sind zentrale Werte im Sport. Leistung kommt im Sport insofern ethische Bedeutung zu, als dass sie unter Berücksichtigung flankierender Werte erbracht werden soll. (…) Der sich (quasi abmontierten ethischen Bremsen) dopende Athlet orientiert sich einzig am Systemcode [Sieg/Niederlage] und gefährdet damit zusammen mit seinen vielen, sich ebenfalls abweichend verhaltenden Kollegen auf Dauer die Lebensfähigkeit des Systems. Robert K. Merton (1968) wies darauf hin, dass solche Zustände der Normlosigkeit, der Anomie, nicht als Summe vieler Einzelabweichungen zu begreifen sind, sondern als Systemfehler. Nach Merton wäre Doping als Resultat des Auseinanderklaffens von kulturell wünschenswerten Zielen und den hierfür sozialkulturell verfügbaren Mitteln zur Zielerrechung anzusehen. Die erhoffte Olympiateilnahme kann nur dann regelkonform angestrebt werden, wenn die Leistungsnormen als Zulassungskriterium bei ausreichendem Talent auch ohne Anabolika erfüllbar sind, was z. B. in vielen Kraft- und Schnellkraftdiziplinen in der Vergangenheit nicht der Fall war.
Die strukturellen Zwänge, die zum Doping im Hochleistungssport führen, nehmen den einzelnen natürlich nicht aus der Pflicht. Der Doper betrügt seinen Gegner und die Öffentlichkeit. (…)
In der Regel ist der Athlet die auffälligste Erscheinung beim Doping, er ist jedoch nicht der einzig beteiligte. Abweichende Verhaltensweisen benötigen immer auch eine abweichende Kompetenz: „Das Erlernen krimineller Verhaltensweisen schließt das Lernen … der Techniken zur Ausführung des Verbrechens, die manchmal sehr kompliziert, manchmal sehr einfach sind, … ein“ (Sutherland, 1968, S. 396).. Trainer, Ärzte, Wissenschaftler, Athleten (selbst Konkurrenten) oder auch Funktionäre können beim Erlernen dieser spezifischen abweichenden Kompetenz als Helfer fungieren. Obwohl hinter jedem Dopingfall wahrscheinlich immer mehrere am Betrug beteiligte Helfer stehen, treffen Sanktionen bei positiven Dopingkontrollen fast ausschließlich den Athleten.
(…) Der Athlet ist in der Kette, die die Mitglieder der Dopinggemeinschaft zusammenschließt, das schwächste Glied. Ihn treffen Maßnahmen der Dopingbekämpfung und Strafen zuerst, alle weiteren beteiligten Personen weitaus weniger oder überhaupt nicht. Vom Athleten ausgehend lässt sich eine von Rollenträger zu Rollenträger immer dünner werdende Linie nachverfolgen, die wir die Spirale der abnehmenden Verantwortlichkeitskette nennen wollen.
Zweifellos birgt diese negative Verantwortlichkeitskette ein beträchtliches Problempotential für die Dopingbekämpfung. Der Sport mit seinem Regelwerk kann alleine Doping nicht effektiv bekämpfen. Weitere Verantwortliche wie Gesetzgeber, Staatsanwälte oder etwa die Ärztekammern sind für die Problematik von Verstößen gegen das Arzneimittelgesetz, von Körperverletzung (selbst wenn es auf Verlangen erfolgt) oder von unethischen ärztlichen Handeln noch längst nicht hinreichend sensibilisiert. (…)
… Um Doping zu bekämpfen, muß nicht immer explizit darüber gesprochen werden. Übungsleiter/Trainer (und natürlich auch Lehrer haben die Möglichkeit, in den verschiedensten Situationen und über vorgelebtes Verhalten Maßstäbe für Jugendliche zu setzen, die diesen möglicherweise sogar unbewusst als Richtschnur dienen.
Vielen Dank für das Überlassen des Textes an Andreas Singler und Gerhard Treutlein.