Christophe Brissonneau, Jeffrey Montez de Oca
Doping in Elite Sports
Voices of french sportspeople and their doctors, 1950-2010
Routledge 2018
Die beiden Wissenschaftler füllen mit ihrem Buch eine große Lücke in der Aufarbeitung der Dopinggeschichte Frankreichs. Obwohl es viele Berichte von Sportlern und ihrem Umfeld über das Dopinggeschehen vor allem im Radsport gibt, obwohl seit den 1960er Jahren das Thema in den Medien immer wieder präsent war, obwohl es Bücher sehr engagierter Sportärzte gibt, die sich schon früh gegen die Dopingpraxis aussprachen und Analysen erstellten und nicht zuletzt, obwohl Frankreich eines der ältesten staatlichen Anti-Doping-Gesetze hat, fehlt bis heute eine umfassende alle Sportarten betreffende und die Politik und Sportverbandsebenen einschließende Aufarbeitung. Hierfür könnte die deutsche Forschung zur Dopinggeschichte trotz verbliebener Mängel und Unklarheiten Vorbild sein.
Das vorliegende Buch ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Forschungsergebnisse zu den Sportarten Radsport, Leichtathletik, Ringen, Gewichtheben und Bodybuilding mit dem Schwerpunkt auf der Rolle der Ärzte bestätigen weitgehend deutsche Ergebnisse trotz unterschiedlicher Organisation des Sports. Nicht ohne Einfluss blieb dabei das Wettrüsten im Sport zwischen Ost und West und die Faszination, die insbesondere vom erfolgreichen DDR-System auf Trainer, Ärzte und Sportler ausging. Waren in den 1960er Jahren die Vorbilder, insbesondere in der Leichtathletik die USA, mit der ein reger Sportleraustausch herrschte, wurde mit den Erfolgen des Ostblocks deren Rezepte immer attraktiver. Unbekannt war auch in Frankreich nicht, dass vor allem im kommunistischen DDR-Staat intensiv gedopt wurde.
Die Autoren führen den sportlichen Leistungsfortschritt in Frankreich wesentlich auf den internationalen Austausch des Sportpersonals und der Sportler zurück und darauf, dass die Politik, der Staat, an den Erfolgen teil haben wollte. Die Rolle des Staates wird insbesondere bei den Gewichthebern und Ringern deutlich, die im französischen zentralistischen Sportsystem stark abhängig waren von der staatlichen Unterstützung u.a. auch hinsichtlich ihres weiteren beruflichen Werdegangs. Daher sahen und sehen sie wenig individuelle Möglichkeiten nein zu Doping zu sagen, wenn die Erwartungen anders sind. Insgesamt handelt(e) es sich über die meisten Sportarten hinweg um ein sehr geschlossenes System mit starren Vorgaben und Anforderungen.
Zitat aus dem Buch, S. 138:
Initially, the use of pharmacology was haphazard and empirical as athletes and coaches were largely left to their own divices. They relied heavily on interactions with foreign athletes and coaches; initially in the US and then in the east. But as the state became directly involved and directed the sport system from the mid-1970s on, a whole medical apparatus developed that supported athletes and directed them to the use of pharmacology. It ist ironic that even when the athletics federation, the state and international organisations created programmes to eliminate doping, athletes could use those programmes to advance their pharmacological knowledge and acts.
Siehe hierzu das Interview mit Brissonneau in der Libération vom 30.1.2018: Christophe Brissonneau : «De Gaulle a choisi le modèle sportif de la RDA» .
Die Analyse der Bodybuilder-Szene sollte darüber Aufschluss geben, wie sich eine Dopingkultur in einem nicht-olympischen Sport ohne jegliche staatliche Ansprüche und Förderung entwickeln konnte, eine Dopingkultur, die die ausgeprägteste zu sein scheint. Grob gesagt, halten die Autoren fest, dass niemand als Doper geboren wird, sondern dass langwierige, sehr komplexe Sozialisierungsprozesse stattfinden. Das lässt sie auch hoffen, dass in den letzten Jahren nach dem Festina-Eklat 1998 zumindest in Frankreich die alte Dopingkultur gebrochen wird.
Das Buch endet mit einer kurzen Betrachtung über die Verflechtungen der Dopingforschung mit anderen gesellschaftlichen Bereichen. Immer mehr medizinische Forschungsaufträge durch Anti-Doping-Agenturen wie AFLD und WADA gehen Wissenschaftler, die nicht aus dem Sport- und Anti-Doping-Umfeld kommen. Dafür wird immer deutlicher, dass die Themen wie z.B. Regeneration, Ermüdung, Aufmerksamkeit, Funktion des menschlichen Körpers, die in Verbindung stehen zur Leistungssteigerung, von hohem Wert sind für außersportliche Institutionen und Strukturen wie z. B. das Militär, das heute wie früher an entsprechenden Studien hohes Interesse zeigte und zeigt. Die Autoren schließen mit der Frage: Produziert die Doping-Devianz der Elite-Sportler auch Vorteile für den Rest der Gesellschaft?
Das Buch ist auf englisch geschrieben (was man sich von einigen wegweisenden deutschen Analysen auch wünschen würde) und könnte damit eine breite Reichweite erzielen, wert wäre es, doch leider ist die gebundene Ausgabe sehr teuer. Das eBook dürfte daher eher passen.
Im Folgenden wird aus zwei Bereichen der Forschungsergebnisse zitiert bzw. werden näher vorgestellt.
Suchtproblematik im (Rad)Sport
Brissonneau greift einen Aspekt auf, der auf deutscher Seite immer noch wenig beachtet wird, in Frankreich aber schon lange Teil der Dopingdiskussion ist: Das Suchtpotential, das nicht nur im Radsport steckt. Er schreibt hierzu:
Eine Karriere im Profiradsport führt gegen Karriereende häufig in die Drogensucht. Unsere Interviews zeigen, dass Drogensucht häufig ihre Wurzeln in der driiten Phase der Karriere hat, wenn der Fahrer im Profiranking angekommen ist. Die Freude am Radsport, die während der Amateurzeit vorhanden ist, schwindet mit den Anforderungen des Profitrainings, das die Fahrer häufig als monoton und sehr fordernd beschreiben. Zusätzlich verlangt das Kilometerfressen ein Training bei jedem Wetter. Der Griff nach Amphetaminen oder dem Pot belge kann helfen die Zeit zu überbrücken oder Schmerz zu unterdrücken. Am Ende der Tour de France, während der Kriterien, während der Wintermonate und auf Parties, greift der Radsportler schon mal zu psychoaktiven Substanzen.
Gruppendruck macht es schwierig, nein zu sagen, niemand ist gerne Außenseiter. Heutzutage nehmen aktive Fahrer keine Amphetamine oder Mischungen wie den Pot belge während der Vorbereitungsphasen von Rennen und während Rennen mehr, da diese keine Leistungsvorteile bringen und leicht nachweisbar sind.
Auch wenn viele Sportler gelegentlich nach psychoaktiven Drogen greifen, muss festgestellt werden, dass deren Konsum nicht automatisch mit Suchtproblemen einhergeht. Das zeigen Interviews sowie die Auswertungen der Anonymen Doping-Hotline ecoute dopage. Dennoch führen viele Sportlerkarrieren in einer Drogensucht. Das betrifft auch Profifußballer Holsstein et. al. 2015), deren Karriereende zwar selten abrupt kommt aber absehbar wird, doch der Spieler braucht häufig 1 bis 2 Jahre bis er sich dessen klar wird. Die Erkenntnis kann dann eine existenzielle Krise auslösen, denn der ehemalige Spieler muss sich ein neues Leben und eine neue Identität schaffen. Einem Radsportler geht es genauso. Einer der Interviewten beschreibt diese Phase, als er sein letztes Team verlassen musste, als Trip durch die Hölle. Nach Verlassen dieser besonderen Welt, die seinem Leben einen Sinn gab, scheiterte er daran, sich neu und selbstbewusst aufzubauen und zu stabilisieren. Er ist nicht mehr der Radsport-Gott, wie ein Interviewter meinte, er ist nichts besonderes mehr; er ist ab jetzt normal, durchschnittlich, alles wird sinnlos.
Der Drogenkonsum beginnt gerne, wenn der Fahrer nach Trainingszeiten allein verbringen muss und wird vor allem nach längeren Trainingsunterbrechungen auf das Trainings ausgeweitet. Diese Selbstmedikation bei psychischen Problemen beeinflusst des Fahrers Fähigkeiten und dessen Leistungsvermögen, was wiederum zu erhöhter Medikation führen kann. Diese Spirale kann dann zur Entlassung vom Team und zum Karriereende führen. Die Drogenabhängigkeit erklärt sich danach nicht allein aus der Einnahme von Drogen sondern in Verbindung mit den Lebensumständen der Sportler.
Doping im (Rad)Sport, die Rolle der Sportmedizin und der -ärzte
Im Doping Magazin 2/2018 wurde das Buch vorgestellt. Gerhard Treutlein passte hierfür einen Kommentar von Christophe Brissonneau, in dem er die Ausführungen zum Radsport erläutert, an und übersetze ihn weitgehend. doping-archiv/c4f erhielt die Erlaubnis, den Text zu übernehmen. Vielen Dank.
Doping im Spitzensport
Aussagen von französischen Top-Athleten und ihren Ärzten
Christophe Brissonneau ist ein französischer Sportsoziologe, der sich schon lange mit der Dopingthematik beschäftigt. In seinem neusten Buch (in Kooperation mit Montez de Oca) geht er zwanzig Jahre nach dem Festina-Skandal – nicht nur in Frankreich ein einschneidendes Ereignis – auf der auf der Basis von 55 Interviews mit ehemaligen Dopern Fragen nach wie „Warum ist Doping nach wie vor im Leistungssport so weit verbreitet?” oder “Bringt Doping im Spitzensport auch Profite für den Rest der Gesellschaft mit sich?”
An Hand seines reichhaltigen empirischen Materials zum französischen Spitzensport kann er zeigen, wie sich die Konzeption von Doping im Lauf der letzten 100 Jahre entwickelt hat, (sein Schwerpunkt liegt auf der Zeit von 1950 bis 2010). Nach Brissonneau war (und ist) der Spitzensport eine Sonderwelt, mit eigenen moralischen Standards, gesteuert durch außerordentlich hohe Leistungserwartungen und von der Medizin bestimmten Trainingsvorgaben. Die Analyse der Interviews mit Athleten und Ärzten zeigt, wie die Verwendung von Dopingsubstanzen im Lauf der Jahrzehnte ein integraler Bestandteil des Trainings von vielen französischen Spitzensportlern wurde. Eingebettet in komplexe und auch paradoxe moralische Argumentationen mündete sie in soziale und politische Prozesse ein, mit dem Ergebnis einer durchgehenden Doping-Kultur, was am Beispiel von Radsport, Leichtathletik, Gewichtheben, Ringen und Bodybuilding gezeigt wird. Parallel dazu entwickelte sich eine Antidoping-Politik, deren Effektivität hinterfragt wird.
Eine besondere Rolle spielen in diesem Buch Sportmedizin und Sportärzte. Die offizielle Sportmedizin war formal gegen Doping. Für deutsche Leser dürfte vor allem die Identifizierung von Sportarzttypen sein; ihr Verhalten und Handeln war durch ihre Nähe oder Distanz zum Spitzensport und den Spitzensportlern bestimmt.
Brissonneau teilt sie in folgende Kategorien ein:
a) Ärzte mit großer Nähe zum Spitzensport und den Spitzensportlern Verbandsärzte teilen mit ihren Patienten die Leidenschaft für den Sport. Während Training und Wettkampf haben sie kontinuierlich Kontakt; die Wettkampfergebnisse sind für sie sehr bedeutend. Gleichzeitig sahen sie aber, wie Spitzensport Psyche und Gesundheit der Athleten gefährdet. In dieser Dilemma-Situation leiten sie die Berechtigung ab, zum „Wohle“ ihrer Patienten “vernünftige” Dosierungen von Medikamenten (inklusive Anabolika) zu geben, um die Gefährlichkeit des Spitzensports zu reduzieren. Das ist für sie kein Doping; sie würden es aber als Doping bezeichnen, wenn das Gleiche bei Amateuren gemacht würde.
b) Große Nähe zum Spitzensport, aber ziemliche Distanz zu den Patienten, Sportärzte in der Hochschulmedizin sehen sich als Forscher mit geringem Kontakt zu Patienten; sie sind so nicht mit den Zwängen von Spitzensportlern oder Verbandsärzten konfrontiert. Bei der Entwicklung von Antidoping- Regeln und Gesetzen sind sie Berater von Ministerien, nationalen und internationalen Institutionen des Sports. Doping bezeichnen sie als Angriff auf Moral und Gesundheit der Nation, der man massiven Widerstand entgegensetzen müsse.
c) Große Distanz zum Spitzensport, Nähe zu Patienten
Der Festina-Skandal 1998 führte zu einer fast panischen moralischen Reaktion. Suchtexperten nutzten das entstandene Klima zur Konstruktion einer großen Gemeinsamkeit von Sucht und Doping. Der Kampf gegen Drogen war seit den 60er Jahren weitgehend ein Fehlschlag. Trotzdem nutzten solche Ärzte den Anstieg von Doping für an die Drogenbekämpfung angelehnte Vorschläge zur Verringerung der Risiken von Doping für die Gesundheit.
d) Große Distanz zum Spitzensport und zu Patienten.
Forscher in der Medizin – vor allem Endokrinologen – entwickeln Medikamente mit Hormonen, z.B. orale Kontrazeptiva für Frauen. Sie arbeiten außerhalb des Sports, sie orientieren sich an der Medizin- und nicht an der Sportethik. Ihren Patienten verschreiben sie z.B. Steroide mit dem Ziel eines hormonellen Ausgleichs, aber ohne Berücksichtigung von deren sonstigen Tätigkeiten.
Das Verbot von Steroiden im Sport interessiert sie nicht, sondern nur der angenommene Nutzen für ihre Patienten. Mediziner waren entscheidend für die Definition, was Doping ist. Je weiter eine Spitzensportkarriere fortschreitet, desto entscheidender wird die Rolle von Sportärzten. Parallel dazu verändert sich die Auffassung von Ethik und die Rechtfertigung des Konsums von nach den Dopingregeln illegalen Substanzen. Anabolika dienen demnach zunächst der Regeneration und dem Aushalten von höheren Trainings- und Wettkampfbelastungen; erst die Verwendung von Peptidhormonen wurde als Doping eingeordnet.
Nach dem Festina-Skandal wurde in Radteams die Überwachung von Training und Substanzgebrauch der Profis gründlicher. Spätestens seit 2003 veränderte sich die Mentalität einer neuen Generation von Radprofis; im Gegensatz zu vorhergehenden Profigenerationen wurde Doping jetzt als deviantes Handeln angesehen, ethische Standards wurden wieder wichtiger. Damit verschwand zwar Doping nicht völlig aus dem Radsport, aber es wurde individueller und war nicht mehr so durch Strukturen geschützt wie vor 1998. Die Dopingdevianz entwickelte sich zudem in den verschiedenen Sportarten unterschiedlich, auch abhängig von einerseits dem Einfluss von Sportministerium und Nationalem Olympischen Komitees, andererseits von privaten Sponsoren. Alle interviewten Athleten empfanden Doping als seine Art durch das olympische Prinzip des citius-altius-fortius bestimmtes zwanghaftes Handeln. Was sich aber auch zwischen 1960 und 2010 verändert hat, war und ist eine immer stärkere Tendenz in der medizinischen Forsc hung: der Suche nach Möglichkeiten des Enhancements, der Selbst- und Fremdoptimierung. Spitzensportler wurden (erneut) zu Versuchskaninchen, im Fadenkreuz von Sport-, Alltags- und Militärmedizin, verbunden mit entsprechendem Wissenstransfer zum „Menschen in extremen Forderungssituationen“.
Aus den Erkenntnissen wurden Ableitungen getroffen z.B. zu Magersucht, Herz-Kreislauf-Problemen, Schlafverzicht, Raumfahrt. Daraus ergibt sich schlussendlich die Frage: Kann die Devianz von dopenden Spitzensportlern auch zu positiven Erkenntnissen für die Gesellschaft insgesamt führen?
Christophe Brissonneau (University of Paris V Descartes)/Jeffrey Montez De Oca (University of Colorado Color
Monika, 2018