Giselher Spitzer
Wunden und Verwundungen
Sportler als Opfer des DDR-Dopingsystems
Eine Dokumentation
Sportverlag Strauß, 2007
Rund 10 000 Sportlerinnen und Sportler aus dem Nachwuchs- und Hochleistungsbereich waren dem DDR-Zwangsdopingsystem seit den 1960er Jahren unterworfen. Schätzungsweise 1000 von ihnen trugen schwere körperliche und seelische Schäden davon, zudem sind signifikant viele Kinder der Athleten gezeichnet.
Die vorliegende Dopingopfer-Dokumentation ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes, das zwischen 2004 und 2006 u. a. von der Humboldt-Universität Berlin unterstützt wurde. 52 ausführliche Interviews konnten von Birgit Boese mit Dopingopfern geführt werden. Unter ihnen finden sich viele Teilnehmeri/innen an Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen. 24 in der DDR auf olympischem Niveau betriebene Sportarten sind vertreten. Alle befragten wurden in jungen Jahren, je nach Sportart schon im Vorschulalter, für den Sport ausgewählt. Alle erhielten sie ‚unterstützende Mittel‘, darunter befanden sich harte Dopingmittel. Zugegeben wurde dies von den verantwortlichen Trainern und Medizinern nie. Die Athleten hinterfrugen die häufigen Gaben nur selten. Viele Mittel wurden zudem versteckt verabreicht z. B. mit Getränken, Riegeln oder Kaugummis.
Uwe Trömer:
„Es waren, na ich glaube, mindestens sechs, wo dann halt so gesagt wurde, okay, das ist die „KMA-Tablette“ (Kalzium-Magnesium) und das sind Vitamin D und B und C oder (…) Also ich hab‘ versucht, es immer irgendwie zu umgehen, weil mein Heimtrainer halt immer gesagt hat: „Jungs, und nehmt keine Tabletten, die sie euch dort geben (…) Also, dass da eventuell Doping mit verabreicht wurde, das ist mir alles erst viele Jahre später bewusst geworden. Eigentlich erst, seitdem dieser Aufarbeitungs- prozess läuft.“
>>> Uwe Trömer
Vier Interviews werden im Buch anonymisiert aber vollständig abgedruckt. Eines stammt von Uwe Trömer, Radsportler, der mit seinen Erfahrungen an die Öffentlichkleit ging und dessen Aussagen ihm daher nachträglich zuzuordnen sind. Im Weiteren werden Passagen der 52 Interviews unter einzelnen Aspekten aufgeführt.
Das Buch ist nicht vergleichbar mit anderen zum Thema Doping. Es besteht überwiegend aus Gesprächsausschnitten. Dabei finden sich inhaltliche Wiederholungen, denn die Schicksale sind ähnlich. Es gibt keine geschönten Formulierungen, denn es ist das gesprochene, ungeglättete Wort zu lesen. Es ist anstrengend und es kann einem selbst ‚an die Nieren‘ gehen. Teilweise schwerkranke Menschen beschreiben, wie sie zwangsgedopt wurden, wie sie von Trainern, Ärzten, Funktionären skrupellos benutzt, missbraucht und bei Nichtfunktionieren ausgestoßen wurden und mit welchen Folgen sie heute zu leben haben.
Jetzt könnte man sagen, das war Realität in einem totalitären System. Bei uns war und ist das anders, nicht vergleichbar.
Ärztegeheimnis:
„Später mal, musste ich mal einen Orthopäden aufsuchen und den Arm röntgen lassen (…ca. 1995…). Als er die Röntgenbilder vom Ellenbogen auswerten wollte, fragte er mich: „Sind das Dopingknochen?“ Ich bejahte und fragte, wie er darauf kommt, da sagt er: „man sieht es an den Muskelansätzen, die sind kräftiger ausgeprägt, als normal“ und zeigte es mir auf den Bildern.“
Ärztewahrheit:
Verbands- und Dopingarzt Dr. Huber: „Für Hunderttausende von nierenkranken oder krebskranken Menschen sind EPO und Anabolika lebensrettend. Es ist nicht erforscht, ob EPO oder Anabolika Langzeitschäden hinterlassen.“ (die Welt, 16.12.2003)
Sicher, diese gnadenlosen Zwangsverhältnisse machen den Unterschied. Doch mir wurde beim Lesen bewusst, wie schmal der Grat ist, auf dem wir uns mit unserem Sportsystem bewegen.
Das DDR-System beruhte auf Unmündigkeit, Abhänggkeit, auf Gehorsam, Ausbeutung und Erpressung. Mündige Sportler waren nicht gefragt. Und unabhängig vom Doping sind Schilderungen dabei, die nur mit Missbrauch zu umschreiben sind, man kann es auch bereits Folter nennen. Das klingt hart aber ähnliche Tendenzen und Beziehungen findet man auch außerhalb totalitärer Staaten.
Viele Trainer / Athleten-Beziehungen basieren auf Repression und Abhängigkeit, auch bei uns. Der ‚harte Hund‘ ist noch immer zu finden, Mitsprache und Widerrede sind nicht unbedingt die Eigenschaften, die man an den Schützlingen am meisten schätzt.
Trainer und Mediziner sind Autoritätspersonen, sie genießen nicht selten uneingeschränktes Vertrauen. Diese Haltung war eine Grundlage der Geschehnisse in der DDR, ihren Anordnungen wurde gefolgt, nach dem Warum wurde nicht gefragt. Diese Haltung war Voraussetzung der im Buch zitierten Schicksale und sie ist Voraussetzung vieler Dopingkarrieren bei uns. Und dieses Nichthinterfragen, die entsprechende Erziehung und Erwartungshaltung, müssen sich daher auch andere aus dem Umfeld der Sportler vorwerfen lassen, auch bei uns.
Das Buch klärt somit nicht allein über Vergangenes auf, sondern es kann helfen, Zusammenhänge zu sehen, Verstehen zu lernen, Gegenwärtiges zu hinterfragen und gibt wichtige Hinweise für die Dopingprävention.
Monika