BRD/DDR Dokumente, Protokolle, Berichte, Texte
Gerhard Treutlein: Hinsehen statt wegsehen – was man alles zur Entwicklung der Dopingproblematik in der Bundesrepublik Deutschland wissen konnte und kann
Im Frühjahr 2017 veröffentlichte Simon Krivec seine Dissertation
„Die Anwendung von anabolen-androgenen Steroiden im Leistungssport der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1960 bis 1988 unter besonderer Berücksichtigung der Leichtathletik“. Im Rahmen seiner Untersuchungen konnte er zu 39 ehemaligen Leichtathleten Kontakt aufnehmen, die ihm über ihr Dopingverhalten mit Anabolika berichteten. Er stellte u.a. fest, „dass mehr als 50 % der männlichen bundesdeutschen Leichtathleten in dem betrachteten Untersuchungszeitraum anabole Steroide eingenommen haben“.
Die Reaktionen glichen einem bekannten Schema: das Medienecho war enorm, doch die Ergebnisse wurden häufig so dargestellt, als wäre Doping in Westdeutschland früherer Jahrzehnte eine neue Erkenntnis. Kreise des Sports und der Politik reagierten ähnlich. Der Sportausschuss des deutschen Bundestages lud sogar zu einer nichtöffentlichen Sitzung mit den Tagesordnungspunkten ‚Anabolika-Doping in der westdeutschen Leichtathletik`und ‚Bericht zur Dopingaufklärung Freiburg‘ mit Andreas Singler ein. Vorgestellt und diskutiert wurden dabei keine Fakten, die der Öffentlichkeit vorzuenthalten wären, sondern solche, die allen Interessierten offen standen und stehen.
Angesichts dessen fanden sich eine Reihe von Autoren, die sich zum Teil seit Jahrzehnten für die Aufklärung der westdeutschen Dopinggeschichte engagieren, zusammen und erläuterten in Beiträgen für das ‚Doping Magazin 2/2017‘, dass es immer genügend Hinweise auf den Dopingmissbrauch in Westdeutschland gab und damit Möglichkeiten, das Problem offensiv anzugehen – doch statt dessen wurde vertuscht, geleugnet und unterstützt.
Prof. Gerhard Treutlein stellte doping-archiv.de/c4f seinen Text zur Verfügung. Er fasst darin die historische Entwicklung des Dopings in Westdeutschland zusammen und zeigt auf, dass diese sehr wohl in weiten Teilen bekannt war.
Hinsehen statt wegsehen – was man alles zur Entwicklung der Dopingproblematik in der Bundesrepublik Deutschland wissen konnte und kann
Im Westen nichts Neues? Ja, Fausto Coppi, Rudi Altig u.a.m. lassen grüßen!
Interview eines Journalisten von RAI (italienisches Fernsehen) mit dem italienischen Radidol Fausto Coppi in den 50er Jahren:
„Und Sie, Fausto, verwenden Sie la Bomba?“ (Mischung von Amphetamin, Koffein, Kokain)
Fausto Coppi: „Jedes Mal, wenn es notwendig ist.“
„Und wann ist es notwendig?“
Fausto Coppi: „Praktisch immer“. (Dokumentarfilm 1998 Rai Tre, Giancarlo Governi; Gilles Goetghebuer 2014, S.5, FAZ, 28.5.2007))Die Dopingentwicklung im Leistungssport lässt sich in vier Phasen einteilen.
1. ÜBERGANGSPHASE (STIMULANTIEN/ANABOLE STEROIDE)
Vom Doping mit Stimulantien zum Doping mit anabolen Steroiden – eine Zeit unterentwickelten Problembewusstseins und des Learning by Doing (50er, 60er Jahre)
– Fünfziger Jahre: Stimulantien als bevorzugte Dopingmittel.
– Ende 50er Jahre: beginnender Übergang von Stimulantien zu anabolen Steroiden – diese wurden von relevanten Ärzten als ungefährliche Alternative zu den als gefährlich eingeordneten Stimulantien angesehen.
– Allmähliche Verbreitung des Dopings mit anabolen Steroiden: Erst die Spitze der Männer in einzelnen Sportarten (Radfahren, Gewichtheben) und Disziplinen (Leichtathletik Würfe), ab Ende der 60er Jahre auch Anabolikadoping mit/durch Frauen, danach auch durch Jugendliche und im Breitensport.
– Beginnende Steuerung der Dopingversuchung über Normen und Erfolgserwartungen.
– Auswirkungen des Informationsaustauschs bei internationalen Wettkämpfen.
– Der Wiener Sportmediziner Prokop: „Ich weiß, daß mindestens ein Drittel aller Athleten in Tokio (OS 1964) gedopt war. Ich nenne natürlich keine Namen.“
– Versuchungssteigerung durch den Konkurrenzdruck bei Ost-West-Ausscheidungen (in der gesamtdeutschen Mannschaft stellt der stärkste Mannschaftsteil den Delegationsleiter).
– 1967: Erster Versuch des IOC zu einer Einordnung der anabolen Steroide als Dopingmittel.
– Dr. med. Max Danz (DLV-Präsident): „Ich halte Dianabol nicht für ein Dopingmittel, sondern für ein langsam echt aufbauendes Kräftigungsmittel auf anaboler Basis, das ich laufend in meiner Praxis verordne. Ich kann nicht verstehen, wie man zu der Auffassung kommt, es sei mit der Einnahme von Dianabol eine Wirkung zu erzielen wie mit der Doping-Peitsche.“ (Die Zeit, 16.8.1968)
In den 60er Jahren werden erste Warnungen vor Nebenwirkungen und Langzeitfolgen des Anabolika-Dopings formuliert.
– Wirksame Medikamente beinhalten das Risiko erheblicher Nebenwirkungen (siehe z.B. Äußerungen des Tour-de-France-Arztes Dumas, des österreichischen Olympiaarztes Prokop u.a.m.).
– Artikel von Brigitte Berendonk (zweifache Olympiateilnehmerin, Athletensprecherin) in der „Zeit“ 1969 „Züchten wir Monstren“? – weitsichtige Vorhersage der weiteren Entwicklung. Warnungen vor den Nebenwirkungen von Anabolika durch ihren Mann, den Krebsforscher Prof. Dr. Werner Franke.
– Im Auftrag des IOC wies der Mainzer Apotheker Horst Klehr die an den Olympischen Spielen 1972 teilnehmenden Mannschaften auf die Einordnung anaboler Steroide als Dopingmittel hin.
2. ANABOLE PHASE DER 70er/80er Jahre
Eine Phase der Unterdrückung von Problembewusstsein und zunehmender Heuchelei – Was man alles wissen konnte, aber ausgesessen wurde:
– Verschärfung der deutsch-deutschen Konkurrenz (und damit der Dopingversuchung) durch die Vergabe 1966 der Olympischen Spiele 1972 nach München.
– Ergebnis des „learning by doing“: Versucht wird, was noch nicht verboten ist, was noch nicht nachgewiesen werden oder was bei Dopingkontrollen kaschiert werden kann.
– Zunehmende Abwehrhaltung des organisierten Sports gegenüber Dopingkritikern und deren Forderung nach dopingfreiem Sport (Einordnung als „Feinde des Sports“, „Nestbeschmutzer“, „Verräter“, z.B. des Mainzer Apotheker Horst Klehr, des Heidelberger Krebsforschers und Antidopingvorkämpfers Werner Franke, international z.B. des Dr. de Mondenard in Frankreichund Sandro Donati in Italien).
– Wirkungsloses Verbot der anabolen Steroide durch IAAF und DLV 1970 (die Verbotsregel wurde kaum kommuniziert).
– Doping als Profilierungschance für einige Ärzte und Trainer (Umgehung des Werbeverbots für Ärzte durch ihre Präsentation mit von ihnen behandelten erfolgreichen Sportlern).
– 1972 – 1975: Eine Heidelberger Gruppe unter Leitung von Prof. Dr. F. Pfetsch hatte vom BISp einen Forschungsauftrag zur Erklärung von Leistungsentwicklungen erhalten. Im 1974 eingereichten Schlussbericht waren im Kapitel „Sportmedizin und Doping“ Bemerkungen zum Zusammenhang zwischen Anabolikaeinsatz und Leistungsentwicklung enthalten; damit war die Tabuisierung des Problems verletzt. Der BISp-Direktor und DLV-Präsident Kirsch bestellte Gutachten (ausgerechnet von Keul und Klümper) zu diesem Kapitel, die vernichtend ausfielen. Nach einer Zensurauflage erschien das Buch 1975 (Pfetsch/Beutel/Stork/Treutlein: Leistungssport und Gesellschaftssystem. Schorndorf), mit massiv gekürztem Kapitel zur Wirkung von Anabolika (vgl. Singler/Treutlein 2000, S.357 ff., siehe dort den eingereichten Text und die Gutachten von Keul und Klümper).
– 1974: Verbot der anabolen Steroide durch das IOC (Reaktion in der BRD: Warnung vor den Kontrollen, z.B. durch den Freiburger Chef der Abteilung Sportmedizin Keul vor der Leichtathletiknationalmannschaft: „Setzt früher ab, um Positivkontrollen zu vermeiden“).
– Jeder prominente DDR-Flüchtling im Sport wie Mader, Hunold, Riedel u.a.m. wurden als Folge des Kalten Kriegs quasi als Heilsbringer begrüßt und sofort integriert. So blieben folgende Äußerungen Alois Maders kaum beachtet oder unwidersprochen: „Dem Problem der Leistungssteigerung im Sport unter Zuhilfenahme von Pharmaka unter Hinweis auf den hippokratischen Eid aus dem Wege gehen zu wollen, ist nach meiner Meinung vordergründige Drückebergerei, wie Pilatus wäscht man sich die Hände in Unschuld.“ (Leserbrief in der „Medical Tribune“ vom 6.5.1977). Oder vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestags 1977: „Es ist ziemlich sicher, daß Anabolika bei Frauen ebenso leistungssteigernd wirken wie bei Männern. Nach meiner Kenntnis ist das im DDR-Leistungssport ausprobiert worden. Es haben sich eindeutige Effekte in vielen Sportarten nachweisen lassen. Sie sind auch bei einzelnen Sportlerinnen mit deren freien Einverständnis angewandt worden. Die befürchteten gesundheitlichen Folgen sind bisher in keinem Fall eingetreten.“ (Protokoll des deutschen Bundestags, 1977, S. 143)
– 1976/77 als Folge der Kolbe-Spritze und der Luftklistieraktion (bei den Schwimmern) bei den Olympischen Spielen 1976 in Montreal:
– Einsetzung der Grupe-Kommission (-> Grundsatzerklärung für den Spitzensport)
– heftige Diskussionen in Medien und Podiumsdiskussionen
– 1976: Ministerialrat Groß vom für den Spitzensport zuständigen Bundesministerium des Innern (BMI) bei der Eröffnung der Abteilung Sportmedizin an der Universität Freiburg: „Was in anderen Staaten erfolgreich als Trainings- und Wettkampfhilfe erprobt worden ist und sich in jahrelanger Praxis bewährt hat, kann auch unseren Athleten nicht vorenthalten werden.“
– 1977: Aktuelles Sportstudio des ZdF im März 1977 (mit Berendonk, Keul u.a.), u.a. der Sprinter Ommer: „Diese Athleten trainieren tagtäglich und wollen einfach nicht hinterherlaufen oder hinterherwerfen oder hinterherspringen. Und dann wissen sie, daß es eben Mittel gibt, die ihnen helfen könnten, den internationalen Standard zu erreichen. Und was machen diese Athleten? Diese Athleten besorgen sich eben … Anabolika, wenn man davon ausgeht, daß sie eine Leistungssteigerung bringen.“
– Anhörungen im Sportausschuss des Bundestags, 1977: „Leistungsbeeinflussende und leistungsfördernde Maßnahmen im Hochleistungssport“, dort der sportpolitische Sprecher der CDU-Fraktion Wolfgang Schäuble „Wir wollen solche Mittel nur eingeschränkt und unter ärztlicher Verantwortung einsetzen, weil es offenbar Disziplinen gibt, in denen heute ohne den Einsatz dieser Mittel der leistungssportliche Wettbewerb in der Weltkonkurrenz nicht mehr mitgehalten werden kann.“
– Massive Warnungen Prof. Dr. Werner Franke vor den Nebenwirkungen des Anabolikakonsums, Verharmlosung durch Keul u.a.m..
– Aufstieg des Doping-Gurus Armin Klümper (Unterstützerszene durch Spitzensportler), Strippenzieher im Hintergrund: Joseph Keul.
3. PHASE DER WEIERENTWICKLUNG DER DOPINGPROBLEMATIK: GOOD GOVERNANCE? (70er Jahre bis heute)
Eine Phase zwischen Dopingablehnung in Sonntagsreden und heimlichem Fordern und Fördern von Doping.
– Aufforderung des DSB-Präsidenten Daume zum nicht mehr Reden über Doping (fast 10 Jahre relative Ruhe in den Medien).
– Im Verfahren gegen den geständigen Doper Walter Schmidt (Hammerwurfweltrekordler) erfolgte eine (geringe) Bewährungsstrafe von einem Jahr durch den Vorsitzenden des Rechtsausschusses des hessischen Leichtathletikverbands, Rüdiger Nickel, mit der Begründung, dass eine „Mitschuld des Deutschen Leichtathletikverbandes nicht ausgeschlossen werden konnte“ und „der Verband seiner Fürsorge- und Schutzpflicht gegenüber den Athleten nicht nachgekommen sei“ (Singler/Treutlein 20126, S. 213). Damit wurde erstmals öffentlich (ein einmaliger Vorgang!) die Schuld für Doping nicht ausschließlich beim Athleten gesucht.
– Vergabe der sogenannten Regenerationsstudie (Wirkung von Testosteron) durch das BISp an Keul, Kindermann, Liesen – als Konsequenz aus der Studie forderte Keul die Streichung von Testosteron von der Dopingverbotsliste.
– Rasche Zunahme der Zahl der Dopingmittel und -Methoden (EPO, Wachstumshormon usw.).
Spätestens seit den Ergebnissen der Grupe-Kommission, der Diskussion im aktuellen Sportstudio des ZdF und der Anhörung im Sportausschuss (alles 1976/77) war überdeutlich, wie Doping in der BRD funktioniert. Eine Bereitschaft zu mehr als verbaler Bekundung zum Kampf gegen Doping war nicht erkennbar, die Heuchelei wurde immer größer.
Verpasste Anlässe zur Selbstreinigung:
– April 1987: Tod der Mainzer Siebenkämpferin Birgit Dressel. Beeindruckende Trauerrede des DLV-Präsidenten Eberhard Munzert (u.a. mit Vorhaben zur Dopingbekämpfung). Abwehr gegen den Weckruf Munzerts vor allem durch den DLV-Trainer (und Rechtsanwalt) Jochen Spilker und Hans-Peter Sturm (Salamander Kornwestheim, Polizeipräsident von Stuttgart) u.a.m..
– Der Tod Dressels wurde im Gegensatz zu den Hoffnungen der Dopinggegner nicht zum Weckruf im Kampf gegen Doping.
– 1988: Dopingfall des Olympiasiegers Ben Johnson bei den Olympischen Spielen 1988 – trotz der Größe des Skandals erfolgte keine grundlegende Veränderung der Richtung des Spitzensports.
– Nationalistische Erfolgserwartungen und der Versuch des Umgehens von Dopingregeln nahmen weiter zu.
– Anti-Doping-Arbeitstreffen von 11 Delegationen am 12./13.12.1989 in Rom (für Deutschland Heinz Fallak und in Vertretung von Josef Keul Hans-Hermann Dickhuth) auf der Grundlage der im November 1988 geschlossene Vereinbarung zur Bekämpfung des Dopingmissbrauchs zwischen den USA und der UdSSR, darin 3. Punkt: „Alle Teilnehmer waren sich darin einig, daß man sich nicht ausschließlich auf Aktionen gegen Dopingmißbrauch durch Kontrollen und Sanktionen beschränken dürfe. Außerordentlich wichtig seien alle denkbaren Aktivitäten in einer konzentrierten Informations- und Erziehungspolitik.“ Verteilung des Berichts an Walter Tröger (Generalsekretär des NOK), Hans Hansen (DSB-Präsident), Geschäftsführung DSB, Willi Daume (NOK-Präsident), August Kirsch (Direktor des Bundesinstituts für Sportwissenschaft) und Josef Keul (Direktor der Abteilung Sportmedizin der Universität Freiburg, seit 1980 Chefmediziner der deutschen Olympiamannschaften).
– 1989/90: Nach dem Fall der Berliner Mauer wuchsen die Erkenntnisse zum staatlich gelenkten DDR-Doping. Integration von Doping-belasteten DDR-Trainern und -Funktionären in den gesamtdeutschen Sport, z.B. 30 DDR-Trainer durch den DLV.
– Schon im April 1990 wurden führende DDR-Dopingforscher als Referenten bei DLV-Trainerseminaren eingesetzt.
– Deutsche Wiedervereinigung (im Einigungsvertrag Schutz der DDR-Doping-Klitschen Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) Leipzig und des Dopinglabors Kreischa – sie durften nicht abgewickelt werden).
– Berendonk (1991) „Doping-Dokumente – von der Forschung zum Betrug“. Mit dem Buch wurden die zuvor immer wieder verlangten Beweise für systematisches Doping geliefert. National und international wurde zur Schadensbegrenzung abzuwiegeln versucht: IOC-Präsident Samaranch und IAAF-Präsident Nebiolo: „It is a german affair“ (bewährte Aussitz- und Eingrenzungsmethode: „nur die DDR“, „nur der Radsport“, „nur die Russen“ usw.) bis heute. Statt Berendonk und Franke für die enorme Aufklärungsarbeit zu loben, wurden sie in 26 Prozesse verwickelt, die sie alle gewannen.
– Hoberman (1992): Mortal Engines, zeigte die Entwicklung und Verstrickung der deutschen Sportmedizin in die Dopingproblematik; Hoberman ging auch ausführlich auf den Tod von Birgit Dressel ein.
– Als Folge der Klagen von Werner Franke kam es zu den Berliner Prozessen gegen Dopingtäter der DDR (In Urteilsbegründungen Bezeichnung von Doping als Verbrechen).
– Richthofen- und Reiterkommission (1991) dokumentierten jahrzehntelanges Wissen und Duldung von westdeutschem Doping durch die Verantwortlichen im organisierten Sport. Politik (Sportausschuss des Bundestags) und organisierter Sport beließen es bei Warnschüssen („Haushaltssperre“).
Medaillenorientierte Sponsoren, profilneurotische Funktionäre, erfolgsabhängige finanzielle Förderung von Sportlern und Trainern führten in die Dopingfalle des Suchens nach Erfolg um jeden Preis. Unter Spitzensportlern, Trainern und Funktionären galt nicht Doping als Verbrechen, sondern dessen öffentliches Eingeständnis (siehe den Umgang z.B. mit Alwin Wagner)
4. PHASE DER INTENSIVIERTEN AUFKLÄRUNG – ZUNEHMENDES WISSEN ZUM DOPING IN DER BRD, u.a.
– Bette/Schimank (1995): „Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung“ (grundlegendes Buch zur Theorie des Dopings).
– Singler/Treutlein 2000 „Doping im Spitzensport“ – weitgehende Beschreibung des Dopings in der BRD (vorwiegend am Beispiel der Leichtathletik) – praktisch keine Reaktionen des organisierten Sports oder der Politik. Über 60 Besprechungsexemplare wurden von Journalisten beim Verlag abgerufen; über 600 Exemplare wurden durch mich an relevante Akteure in Sport und Politik verschenkt – alle konnten wissen!
– Veröffentlichungen als Ergebnis des DOSB/BISp-Forschungsauftrags zur Dopinggeschichte Deutschlands (1950 – 2007)
– Spitzer (Hrsg.) (2013): Doping in Deutschland: Geschichte, Recht, Ethik. 1950-1972.
– Spitzer/Eggers/Schnell/Wisniewska (2013): Siegen um jeden Preis: Doping in Deutschland: Geschichte, Recht, Ethik 1972-1990.
– Krüger/Becker/Nielsen/Reinold (2014): Doping und Anti-Doping in der Bundesrepublik Deutschland 1950 bis 2007. Genese – Strukturen – Politik.
– Als Folge des Dopingskandals um das „Team Telekom“ (2007) setzte die Universität Freiburg zwei Kommissionen ein.
1. Schäfer/Schänzer/Schwabe (2009, kleine Kommission): Abschlussbericht der Expertenkommission zur Aufklärung von Dopingvorwürfen gegenüber Ärzten der Abteilung Sportmedizin des Universitätsklinikums Freiburg (Abschlussbericht)
2. Die zweite (große) Kommission für die Evaluierung der Freiburger Sportmedizin unter Leitung von Prof. Dr. Letizia Paoli führte zu auf der Webseite der Universität Freiburg veröffentlichten Gutachten, u.a.:
– Singler/Treutlein (2014): Herbert Reindell als Röntgenologe, Kardiologe und Sportmediziner: Wissenschaftliche Schwerpunkte, Engagement im Sport und Haltungen zum Dopingproblem.
– Singler: Systematische Manipulationen im Radsport und Fußball: Wissenschaftliches Gutachten zu neuen Erkenntnissen zum Doping in der Bundesrepublik Deutschland im Zusammenhang mit dem Wirken von Armin Klümper.
– Singler/Treutlein (Mitarbeit: Lisa Heitner): Joseph Keul: Wissenschaftskultur, Doping und Forschung zur pharmakologischen Leistungssteigerung.
– Singler (Mitarbeit: Lisa Heitner): Doping beim Team Telekom/T-Mobile: Wissenschaftliches Gutachten zu systematischen Manipulationen im Profiradsport mit Unterstützung Freiburger Sportmediziner.
– Singler/Treutlein: Armin Klümper und das bundesdeutsche Dopingproblem: Strukturelle Voraussetzungen für illegitime Manipulationen, politische Unterstützung und institutionelles Versagen.
FAZIT
Wenn wir dem Satz aus der Soziologie zur Einordnung der verpassten Möglichkeiten zur Dopingbekämpfung folgen: „Nicht Handeln ist auch Handeln“ (Bette, nach Geser 1968), bleiben vor allem das Wegsehen und Nichthandeln von Politik und organisiertem Sport zu hinterfragen, z.B.: Wie viel Wissen muss denn noch produziert werden, bis nicht mehr behauptet werden wird, man wisse nicht ausreichend etwas über die Dopingvergangenheit der BRD, man könne deshalb nicht weitergehend gegen Doping vorgehen und für eine umfassende moderne Dopingprävention sorgen? Ehrlicher und gründlicher Kampf gegen Doping war in der Bundesrepublik nicht erwünscht; mit viel Heuchelei wurde verdeckt, was an Doping im Spitzensport ablief und abläuft. Nicht wenige Athletinnen und Athleten zahlten dafür mit ihrer Gesundheit und zum Teil mit ihrem Tod. Offen bleibt die Frage, welchen Spitzensport der Staat fördern kann und soll: Dopingbekämpfung in Westdeutschland – eine Geschichte des Versagens der Antidopingpolitik.
Wo nur Leistung gefordert wird, ist Ethik hinderlich. Dopingfreier Spitzensport und international erfolgreich sein = die Quadratur des Kreises!
Einige Aspekte der Doping-Strukturen in der BRD
– In jedem Land hängt die Struktur des Dopings vom Gesellschaftssystem ab.
– Im Vergleich zum staatlich gelenkten DDR-Doping (top-down-Strategie) war das westdeutsche Doping wesentlich komplexer und entwickelte sich ohne (offensichtlichen) staatlichen Druck.
– Die Dopingentwicklung in der BRD war nicht staatlich organisiert und gelenkt, staatlicher Druck erfolgte vorwiegend indirekt über Normen und Erfolgserwartungen (Medaillen für nationalen Prestigegewinn). Nur am Erfolg orientierte staatliche Förderung verschloss/verschließt die Augen vor dem dadurch ausgeübten (Doping-)Druck – Medaillen für staatlichen Prestigegewinn …
– Der Impuls zum Anabolikadoping kam in der Frühzeit meist von den Athleten selbst.
– Doping erfolgte zunächst fast immer nach dem Motto „Learning by Doing“ –ohne Begleitung durch kompetente Ärzte.
– Die Verharmlosung von Nebenwirkungen war vorherrschend.
– Doping erfolgte meist in kleinen, nach außen zunehmend abgeschotteten Gruppen. Wer da hinein wollte, musste sich anpassen oder ausscheiden (? Bette/Schimank: Anpassung durch Abweichung).
– Minderjährigendoping war die Ausnahme.
– Doping wurde stillschweigend durch das Umfeld (Funktionäre, Ärzte, Trainer, Politiker) akzeptiert, gefordert und gefördert. Die angebliche Dopingbekämpfung in der BRD zeichnet sich durch Nichthandeln und organisierte Unverantwortlichkeit aus.
– Die Geheimhaltung war in der BRD nicht so einfach wie in der DDR (Rolle von Privatleuten und investigativen Journalisten).
– Doping war und ist überall gefährlich, damit auch in der BRD.
– Das unzureichende Offenlegen der Dopingvergangenheit begünstigte den Dopingmissbrauch der nachfolgenden Jahrzehnte. Durch Nichthandeln (Dopingbekämpfung) wurde Doping ermöglicht.
– Als Ursachen für die die Entwicklung der Dopingproblematik wurden und werden durch Verantwortliche in Politik und Sport nicht strukturelle Mängel hervorgehoben, sondern fast ausschließlich deviantes („charakterloses“) Handeln einzelner Personen.
DSB/DOSB/NOK (autonomer Sport) hatten und haben keine Durchgriffsmöglichkeiten auf die Fachverbände (Beispiel: Der verurteilte Doper Spilker als Rechtswart und Vizepräsident des LSB Thüringen). Die Selbstreinigungskräfte des autonomen Sports funktionierten/funktionieren nicht.
Gerhard Treutlein, 2017