Holger Schmidt, Zehnkampf
Zehnkämpfer Holger Schmidt, in den 1970er und 1980er Jahren aktiv in den Vereinen TV Wattenscheid und USC Mainz, gab den Autoren Andreas Singler und Gerhard Treutlein für ihre Studie Doping im Spitzensport Ende der 1990er Jahre ein Zeitzeugeninterview, in dem er seine Erfahrungen mir der Dopingkultur in der Leichtathletik schilderte. Das komplette Interview kann >>> hier nachgelesen werden.
Holger Schmidt erzählt wie er 1979 von Gießen nach Wattenscheid ging. Ihm wurde suggeriert mit entsprechenden Mitteln könne seine Leistung gut um 200 bis 300 Punkte steigern. Damit wäre er unter die Top fünf der Welt angekommen.
„Da gab’s kein Zögern, da habe ich den Trainer im Stich gelassen, durch dieses Ziel geblendet, würde ich heute rückwirkend sagen, bin eben hingegangen zu dem Trainer, der da ein ganzes Grüppchen um sich geschart hatte. Das war so ziemlich der Guru zu der Zeit, alle waren im hörig. So war das für mich ein fließender Übergang.“
Es handelte sich um den im Frühjahr 1979 aus der DDR geflüchteten Sprinttrainer Peter Hunold. Neu eingeführt wurde Doping in Wattenscheid offenbar nicht. Schmidt hatte den Eindruck, dass im Verein längst eine offene Haltung gegenüber der medikamentösen Leistungssteigerung herrschte. Die intensive Diskussion, die nach 1976 öffentlich hohe Wellen schlug und die Sportverbände gezwungen hatte scharfe Antidoping-Erklärungen abzugeben und sich vor allem auch gegen Anabolika zu positionieren, hatten hier ganz offensichtlich wenig praktische Auswirkungen.
„Offiziell hat keiner was genommen, das ist ganz klar. Und so war auch die Haltung der Vereinsführung. Ich weiß aber noch, damals war ein Europacup in Madrid, Vereins-Europacup, und ich war gerade in der Vorbereitung auf irgendeinen Zehnkampf, und ich sollte in Madrid im Einzel starten über 110 Meter Hürden. Und ich habe gesagt, ich kann nicht starten da, ich bin hier schon wieder drin (gemeint ist eine Anabolikakur, d. V.). So habe ich mit dem geredet (einem Vereinsfunktionär, d. V.). Sagt er: Da wird nicht kontrolliert, du kannst da ruhig starten.“
1979 wurde bei Schmidt anlässlich des Europacups in Dresden eine verunreinigte Dopingprobe festgestellt (ungewöhnlicher PH-Wert). Die Sache wurde durch den zuständigen DDR-Kontrollarzt vertuscht. Der Sportler behauptete jedoch, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht gedopt hatte.
Später beim USC Mainz hielt sich die Vereinsführung bedeckter. Die Athleten mussten sich selbst um ihr Doping kümmern. Allerdings stand der Bundestrainer noch für Auskünfte, wo und wann mit Kontrollen zu rechnen war, zur Verfügung
„… es war irgendwie klar, dass keiner erwischt wird. Du warst ein Vollidiot damals, wenn du nicht gedopt hast. 1976 wurde das alles etwas offensichtlicher, und im Nachhinein war ich enttäuscht, dass ich das erst so spät angefangen habe. Dass mich da einer in den letzten Jahren abgezogen hatte, das war nicht sein körperliches Talent, sondern der hat einfach früher die richtigen Sachen eingenommen.“
Schmidt hatte nach seinem Wechsel nach Mainz ein Jahr mit dem Dopen aufgehört, auch weil er nicht wusste, wie er an die Medikamente herankommen konnte. 1982 war das Problem gelöst. Er hatte sich mittlerweile orientiert und Mittel und Wege gefunden.
„In Wattenscheid habe ich das direkt vom Trainer bekommen, ich schätze, da habe ich diese alten Kamellen aus der DDR bekommen, und die haben mich ja nur platt gemacht. Mit Stromba bin ich besser zurecht gekommen. Das Verteilersystem in Mainz war so: das hast du dir einfach in der Apotheke kaufen können, unter der Hand. Manchmal hat man es auch auf Rezept bekommen, vom Arzt verschrieben. Die Tipps für die Apotheke kamen aus dem Verein, man hatte da ein Lokal gehabt, wo man nach dem Training immer hingegangen ist, und diese Leute hatten auch Zugang zur Bodybuildingszene, und da war dieser Apotheker dann auch.“
Die Athleten gingen offen damit um, tauschten freimütig Dosierungsempfehlungen und Erfahrungen aus. …
Der [Bundestrainer] wusste wie viele andere im Verband Bescheid, die nicht unbedingt fördern wollten, aber gesagt haben, ich lege die Ohren an, weil: es bringt ja Leistung, es hängt ja viel auch für mich ab. So war, würde ich sagen, die ganze Einstellung. Der Bundestrainer war auf gar keinen Fall die treibende Kraft. Der war da drin und das Fahrwasser lief so. Er war natürlich auch keiner, der aufgestanden ist und gesagt hat: Nur bis hierher, alles andere mache ich nicht mehr mit. …
Es war kein Unrechtsempfinden überhaupt da. Zu der Zeit, ich habe 1985 aufgehört, da wäre das lächerlich gewesen. Was wir von Fachleuten gehört haben, von Ärzten, war nur: alles kein Thema, alles kein Problem. Die einzige Sache, die mir vorgeführt hat, wie schizophren das ist, was wir tun, waren diese unendlichen Fahrten zu den Ärzten, diese unendlichen Marathonspritzensitzungen, die wir da bekommen haben. So was Beklopptes ist für mich heute überhaupt nicht mehr zu verstehen, zu einer Behandlung zu fahren und sich 30 oder 40 Spritzen geben zu lassen, um Leistungssport betreiben zu können.“
Alle machten es, also auch Holger Schmidt, so seine Aussage. Wichtig war lediglich 14 Tage vor dem Wettkampf mit den anabolen Steroiden aufzuhören um positive Kontrollen zu vermeiden. Niemand riet ab und vor gesundheitlichen Spätfolgen wurde auch von dem Arzt der Wahl nicht gewarnt. Dieser stellte bei Schmidt höchstens die Dosierung um, damit die Leistungsfähigkeit in den 10 geforderten Disziplinen gewährleistet war.
Monika 2011