1970er Jahre: DLV-Trainer und Dopingvorwürfe
DLV-Präsident Helmut Digel, 1994,
zu der Haltung gegenüber Doping in den Jahren zwischen 1970 und 1990 anlässlich der Enthüllungen um Trainer Spilker und dessen ‚Hammer-Modell‘:
„Doping war damals als Kavaliersdelikt der Normalfall im Sport und es kann nicht nur ein Trainer daran beteiligt gewesen sein.
…
Ich erwarte von denjenigen, die in den 70er und 80er Jahren diesen Mist gebaut haben, daß sie sich jetzt an der Aufklärung beteiligen und sich zu ihrer Vergangenheit bekennen.“
(Stuttg. Z., 26.2.1994)
(>>> Dopingaffaire Heinz-Jochen Spilker)
Die Sportler Gerhard Steines (Kugelstoßen) und Walter Kusch (Schwimmen) erzählten freimütig wie zu Beginn der 1970er Jahre die Anabolika das Terrain eroberten und letztlich alle im Hochleistungssport Tätigen davon wussten. Arbeitsphysiologe Prof. Theodor Hettinger, der selbst Versuche mit Testosteron bei älteren Männern durchgeführt hatte, sprach in einem Vortrag ‚Krafttraining‘, gehalten auf dem Internationalen Kongress für Wissenschaftler und Trainer in Mainz vom 26. bis 28.11.1971, den Missbrauch von Anabolika im Sport an und warnte vor schweren gesundheitlichen Schäden. Er hielt fest, dass mit Sexualhormonen eine deutliche Kraftsteigerung ermöglicht werden könnte und dass dies allgemein bekannt sei.
„Jeder Trainer und Sportler weiß heute um die Wirkung der sog. Anabolika. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen sind inzwischen mit diesen Präparaten durchgeführt worden (HETTINGER; HOLLMANN, KEUL, MELLER, MELLEROWICZ, STEINBACH, STOBOY u.a.). Die Anabolika werden heute leider sehr häufig von jungen Sportlern in unverantwortlich hoher Dosis eingenommen. Es soll übrigens daran erinnert werden, daß der „Leistungsrat“ des DLV zu dem Problem Anabolika bereits vor einigen Jahren Stellung genommen hat. Der Leiszungsrat sieht die Anabolika als Dopingmittel an, unabhängig davon, ob sie nachgewiesen werden können oder nicht.“
Prof. Gerhard Treutlein wird anlässlich des 3. Runden Tisches des DLV zum Thema Doping in der MRZ vom 25.1.1993 wie folgt zitiert:
„Im Herbst 1972 sprach sich auf einer Trainertagung im Mainz, bei der es auch um die Frage ging, ob man Anabolika an Athleten verabreichen solle, eine Mehrheit dafür aus, obwohl Anabolika damals schon als Dopingmittel gekennzeichnet waren.“ .. „Augenzwinkernd bis ganz offen“ habe sich damals eine Dopinggesellschaft herausgebildet, die „Leistungsentwicklung und Wert der Gesellschaft in Verbindung gebracht hat“. In dieser Zeit wurde „die Lüge zur Institution“.“
Die Beschaffungswege waren zu Beginn der 70er Jahre vielfältig. Hausärzte, Kollegen, Trainer konnten die Pillen besorgen. Ein Zeitzeuge erwähnte gegenüber den Autoren Singler und Treulein einen Bundestrainer:
„Wir haben sie vom Trainer in die Hosentaschen gesteckt bekommen oder woanders hin. Wir haben sie also einfach von ihm bekommen. Es wurde nicht gesagt, woher und wie, und es wurde nicht viel gefragt, wir haben sie einfach bekommen. … Über Probleme wurde nicht gesprochen und Dosierungen. Ich denke, das ging da auch so über den Daumen, ja, mal so zwei, drei oder vier (Tabletten, d. Verf.).“ (Singler/Treutlein, S. 191)
Richard Westerhoff, ab den 1950er Jahren Vereinstrainer in Iserlohn und Dortmund beschreibt 2011 die Situation Ende der 1960, Anfang 1970er Jahre wie folgt:
„Gegen Anabolika gab es keine Vorbehalte. Sie dürfen das nicht von heute aus betrachten. Vom damaligen Standpunkt aus wurde es erst anrüchig, weil man sich einen unredlichen Vorteil gegenüber den Konkurrenten verschaffte. Von gesundheitlichen Folgen wusste man nichts. … Zu den Olympischen Spielen von München 1972 sind manche Mannschaften schon Wochen vorher angereist. Ich habe den Plan für die Belegung der Sportplätze gemacht und war eingeteilt, die Hammerwerfer zu betreuen. Sie trainierten nicht mit den anderen zusammen, sondern ein bisschen außerhalb auf einem Wurfplatz. Deshalb war ich relativ dicht dran. Sie haben alle geschluckt. … Das kann ich nicht sagen. Was ich sagen kann ist: Sie haben das Zeug nicht gegessen, sondern gefressen. Auf ihren Tischen standen reichlich Anabolika. Die Überzeugung war: Viel hilft viel. Das war kein Geheimnis. Und es hat niemanden gestört. …
Bei einem Lehrgang für Lehrwarte und Trainer des DLV hat uns Dr. Mader über Anabolika informiert. … Er hat uns dargelegt, dass Anabolika nicht schädlich seien. Es veränderten sich zwar die Leberwerte. Aber wenn man das absetzte, wären die Werte nach sechs Wochen wieder normal. Wir haben auch gelernt, dass der Einsatz von Anabolika bei Männern im Langstreckenlauf witzlos wäre. Bei den Frauen, sagte Mader damals, würden die Mittel eine Leistungssteigerung bewirken; ich weiß nicht mehr, ob zwei oder vier Prozent. Das sind Welten, wenn sich eine Läuferin von 40 auf 38 Minuten verbessern kann über 10.000 Meter. … er hat nur die Wirkung dargelegt … Er hat unterschieden zwischen Männern und Frauen. Uns sollte klar werden, dass es gesundheitlich keine Probleme geben würde. Es wäre ja hirnrissig gewesen, dass er mit seiner Erfahrung einen solchen Vortrag hielte, wenn er gegen den Einsatz der Mittel gewesen wäre. … Mir haben damals Trainer erzählt, vor allem Trainer von Frauen, denn bei denen wirkte es besonders, wann und in welchen Mengen sie es nehmen. Nur: Ich kann keine Namen nennen, weil ich es nicht beweisen kann. Einige waren aber sicher auch derselben Überzeugung wie ich, dass man junge Mädchen nicht durch solche Mittel für ihr ganzes Leben zeichnen darf. … Ich glaube, dass viele Trainer vernünftig waren. Bei uns ging es nicht um Erfolge um jeden Preis. …
Ich kann mich noch an die ersten Broschüren erinnern, die vorgeblich gegen Doping waren. Darin wurde genau beschrieben, wie es wirkt. Die Nebenwirkungen wurden nicht erwähnt. Das waren Gebrauchsanweisungen. Ich habe sie noch in meiner Bibliothek. Damals habe ich mir gesagt, den Scheiß verwahrst du, damit du sagen kannst: Leute, ihr wart Heuchler!“ (FAZ, 2,10,2011
Im Zuge der 1976/1977 intensiven Diskussion um die verbreitete Dopingpraxis, in der insbesondere die Leichtahletik Farbe bekennen musste, wurden auch Namen von Trainern öffentlich genannt, die dem Doping nicht abgeneigt gegenüber standen. Nicht öffentlich war das Geständnis von Rudi Altig, der 1977 vor der Grupe-Kommission angab, dass zu seiner Zeit als Bundestrainer von 1971-1975 die Fahrer Anabolika zu sich nahmen (Digel, 2013).Die Darstellung der Affairen um Trainer lässt besonders deutlich werden, wie vernetzt das Dopingsystem war, wie es durch Funktionäre und Ärzte gestützt wurde.
einige Vorkommnisse aus der Leichtathletik
Speerwurf-Bundestrainers Wilfried Hurst, 1977:
„Ich finde es auch bedenklich, wenn in diesem Zusammenhang die Begriffe Anabolika und Doping ständig synonym verwendet werden. Aus jedem Indikationszettel von Anabolikapräparaten, die beispielsweise mein Großvater zur rehabilitativen Zwecken verschrieben bekam, geht hervor, daß es sich hier um reine Eiweißaufbaumedikamente handelt. Damit soll aus meiner Sicht als Bundestrainer der wilden Verwendung von anabolen Steroiden nicht das Wort geredet werden, aber ich halte es für unfair, einen Arzt ständig unter Beschuß zu nehmen, dem ein sehr großer Teil der deutschen Spitzensportler seine Leistungsfähigkeit verdankt“.
(Stuttgarter Nachrichten, 14.6.1977)
(Mit dem Arzt ist Armin Klümper gemeint, der kritisiert worden war.)
– DLV-Nachwuchstrainer Eberhard Gaede
Singler/Treutlein (Doping im Spitzensport, S. 206/207) zitieren aus einem Artikel der Tageszeitung die Welt vom 31.3.1977, in dem der damalige DLV-Nachwuchstrainer Eberhard Gaede beschuldigt wurde, einem jungen Hammerwerfer 1975 Anabolika ausgehändigt zu haben. DLV-Präsident Prof. Kirsch und andere leitende Funktionäre seien zwar von einem Arzt darüber informiert worden, doch disziplinarische Maßnahmen wurden nicht eingeleitet.
„Der Wormser Sportarzt Dr. Wolfgang-Karl Schuch belegt jetzt, daß der am Samstag in Leverkusen mit überwältigender Mehrheit wiedergewählte Präsident tatsächlich davon wußte, daß jugendlichen Athleten Anabolika gegeben werden. Diesen Vorwurf hatte Kirsch noch auf dem DLV-Verbandstag vor vier Tagen als ‚ungeheuerlich‘ abgetan.
… Die Eltern des 19 Jahre alten Hammerwerfers Hermann Mann aus Worms hatten bei ihrem Sohn das Präparat (Primobolan, d. Verf.), das zu den anabolen Steroiden gehört, gefunden. Sie gingen zum Sportarzt Dr. Karl Schuch. Der Mediziner erhielt von Hermann Mann die Auskunft, er habe das Medikament von DLV-Nachwuchstrainer Eberhard Gäde (Gaede, d. Verf.) (Darmstadt) bekommen. Davon schrieb Dr. Karl Schuch am 23. April 1975 einen Brief, in dem er fragte: ‚Hält es die Führung des DLV für richtig und wünschenswert, daß durch offizielle DLV-Trainer jugendlichen Nachwuchssportlern … zur Leistungssteigerung Anabolika wie Primobolan ausgehändigt werden?‘
Der Sportarzt erhielt keine Antwort von Professor Kirsch, auf den Brief angesprochen, erklärte (er), er höre davon zum erstenmal. Leistungssport-Referent Blattgerste allerdings hat den Eingang des Briefes schriftlich bestätigt und behauptet, seinen Präsidenten informiert zu haben. Blattgerste bestätigte auch, daß der DLV über Hammerwurf-Bundestrainer Karl-Heinz Leverköhne bei Gäde habe anfragen lassen, ob er Anabolika an Hermann Mann weitergegeben habe. Gäde verneinte, ein Rechtsverfahren wurde nicht eingeleitet, der Nachwuchstrainer ist weiter im Amt“ (Die Welt, 31.3.1977).
Kirsch hatte den Brief jedoch an Joseph Keul weiter geleitet, der in seiner Antwort heraus stellte, dass er von seiner ärztlichen Seite her keine Möglichkeit sähe Anabolika zu verbieten und dies auch für nicht ratsam erachtete, da damit dem unkontrollierten Einsatz durch die Athleten Tür und Tor geöffnet würde. Schädigungsmöglichkeiten gäbe es vielleicht, aber nicht sicher, und so könne er die, vor allem jugendlichen Athleten nur warnen. (Erik Eggers in G. Spitzer et al., 2013, S. 115f) 1977 in Reaktion auf den Artikel der Welt vom 31.3.1977 legte Gaede eine Erklärung vor, Mann nie mit Anabolika versorgt zu haben und der Athlet versicherte nie welche von dem Arzt erhalten zu haben. Damit war die Angelegenheit intern beendet.
– Wurf-Bundestrainer Christian Gehrmann
Kugelstoßtrainer der Frauen Christian Gehrmann musste sich in den 1970er Jahren mit am intensivsten gegen Dopingvorwürfe behaupten. Mit ihm waren auch die von ihm trainierten Frauen, insbesondere Eva Wilms, unter den Verdacht des Dopings geraten. Zum einen war die Glaubwürdigkeit eines sauberen Sports insbesondere in Bezug auf die Leichtathletik-Wurfdisziplinen in der Öffentlichkeit gleich Null, zum anderen löste bei vielen Beobachtern und Kommentatoren Gehrmanns Behauptungen, seine Erfolge stünden mit der Anwendung der Anti-Baby-Pille in Zusammenhang, Kopfschütteln aus.
>>> Trainer Christian Gehrmann
Gehrmann überstand wie alle anderen in die Kritik geratenen Trainer diese Turbulenzen. Erst 1990 brach das Sytem Gehrmann auseinander.
– Hammerwurf-Bundestrainer Karl-Heinz Leverköhne
Der bereits erwähnte Bundestrainer Karl-Heinz Leverköhne musste sich 1977 Dopingvorwürfen stellen. Diskuswerferin Liesel Westermann zitiert ihn 1977 im Stern mit den Worten
„Wer das Zeug nicht nimmt, kommt bei mir nicht mal in den B-Kader. Wundere dich nicht, daß du die Olympia-Norm nicht schaffst, wenn du keine Pillen schluckst!“ (Der Stern, Nr. 28/1977).
Leverköhne war Trainer von Karl-Hans Riehm, der Doping zugab, aber den Trainer nicht belastete. Deutlicher wurde Horst Klehr vor dem Rechtsausschuss des Hessischen Leichtathletikverbandes (HLV), als es 1977 um die Dopingvorwürfe gegen Walter Schmidt ging. Klehr belastete Bundestrainer Karl-Heinz-Leverköhne während dieser Anhörung in Zusammenhang mit Anabolikaanwendungen des Hammerwerfers Karl-Hans Riehm. (Singler/Treutlein, S. 213ff) Dem Trainer wurde nie direkt Doping nachgewiesen.
– Sprint-Bundestrainer >>> Wolfgang Thiele
Wolfgang Thiele, in den 1970er Jahren erfolgreicher Sprint-Bundestrainer, geriet unter schweren Druck, als 1977 Silbermedaillengewinnerin Annegret Kroninger gestand, vor den Olympischen Spielen in Montreal mit Anabolika gedopt zu haben und ihre Staffelkolleginnen mit belastete. Der ehemalige Sprinter Manfred Ommer nannte den Namen des verantwortlichen Trainers: Wolfgang Thiele.
Im Aktuellen Sportstudio mit Harry Valérien und während der Expertenanhörung vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages wurde er deutlich.
„Dieses wollte ich eigentlich heute nicht anbringen, da mich aber Professor Dr. Kirsch etwas herausgefordert hat, möchte ich es heute schon sagen, daß Herr Thiele, der Trainer des Deutschen Leichtathletikverbandes mit Sprinterinnen – und hier haben wir ein besonderes Kapitel der Anabolika-Szene, nämlich Anabolika für Frauen -, also mit den Sprinterinnen in Berlin Trainingslehrgänge abgehalten hat, wozu er einen Herrn Dr. Maidorn hinzugezogen hat, der Vorträge über Anabolika gehalten hat, Anabolika in Form von Spritzen an die Mitglieder der Silbermedaillen-Staffel von Montreal verabreicht hat; und ein Mitglied dieser Staffel hat diese Aussage gemacht und ist auch bereit, diese per Eid zu wiederholen. Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Komik, daß Herr Thiele in der Zwischenzeit das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen hat; aber das sei nur am Rande erwähnt.“ (>>> Anhörung Sportausschuss, 28.9.1977, 6/119)
Thiele begleiteten über Jahrzehnte entsprechende Vorwürfe. Auch in den 80er Jahren soll er seine Sprinterinnen zum Doping angehalten haben wie Singler/Treutlein berichten indem sie in ihrem Buch Doping im Spitzensport Trainer Manfred Jung zu Wort kommen lassen. Jung hatte 1988, wenn auch anonym, das DLV-Präsidium auf Doping bei Sprinterinnen hingewiesen. Reaktionen erfolgten nicht. 1998 nennt er Namen. Es habe sich damals um Trainer Thiele gehandelt. (Singler/Treutlein, S. 254ff) Der Bundestrainer wird auch in Verbindung mit der Affaire um Trainer Jochen Spilker genannt, dessen Doping-System, >>> „Hammer-Modell“ genannt, 1990 aufflog und für viel Wirbel suchte. Thiele gehörte diesem System zwar nicht an, wird sogar als Kritiker genannt – jedoch nur als Kritiker der von Spilker und Co. angewandten Dopingmengen, nicht als genereller Dopingkritiker. (Singler/Treutlein, S. 262ff)