Doping in der BRD – 1970er Jahre
1977/1983 Grundsatzerklärungen für den Deutschen Spitzensport des DSB und des NOK
Nach den Vorkommnissen während der Olympischen Spielen 1976 in Montreal wurde in Westdeutschland die Debatte um Doping offen und kontrovers ausgetragen (>>> Kolbe-Spritze u.a.). Die Meinungen waren nicht einheitlich. Insbesondere um die Sinnhaftigkeit der Anabolika wurde heftig gestritten und einige Zeit sah es fast so aus, als könnte eine offzielle Freigabe durchgesetzt werden. So hatten die deutschen Sportmediziner sich im Oktober 1976 auf einem Kongress des Deutschen Sportärzte-Bundes in Freiburg für die ärztlich kontrollierte Freigabe der Anabolika bei Männern ausgesprochen. Diese Erklärung wurde jedoch im Mai 1977 aufgehoben, nachdem der DSB und das NOK sich für eine deutliche Antidopingstrategie entschieden und eine erste gemeinsame Erklärung [1] hierzu abgeben hatten.
Am 11. Juni 1977 wurde dann diese Haltung von DSB und NOK mit einer Grundsatzerklärung für den Leistungssport fest gezurrt.
Diese Erklärung beinhaltet ein klares Bekenntnis zu ärztlich-medizinischer Betreuung der Athleten, die als unerlässlich gilt, gleichzeitig wird einer medikamentös-pharmakologischen Leistungsteigerung eine Absage erteilt. Zur Begründung wird neben ethischen, psychologischen, ärztlichen und pädagogischen Gründen auf die internationalen Regeln verwiesen.
Erarbeitet wurde diese Grundsatzerklärung von einer Kommission unter Leitung von Prof. Ommo Grupe, Sportwissenschaftler und Präsidiumsmitglied des DSB, Dieter Graf Landsberg-Vehlen, Präsident der Deutschen Reiterlichen Vereinigung und Vizepräsident des Deutschen Sportbundes (DSB) und Heinz Fallak, von 1974–1988 Vorsitzender des Bundesausschusses Leistungssport (BAL) und von 1974–1988 Präsidiumsmitglied in DSB und NOK. Mit der Geschäftsführung wurden Jan Kern (BAL) und Helmut Digel (Universität Tübingen) beauftragt. Die Generalsekretäre von DSB Karlheinz Gieseler und NOK Walter Tröger nahmen an den Sitzungen entsprechend ihren zeitlichen Möglichkeiten teil. Die Sitzungen fanden an 5 Tagen statt: 26.11.1976, 14./15.1.1977 und 24./25.2.1977. [2]
Die Kommission war nach den Ereignissen in Montreal eingesetzt worden um die Manipulationen im Sport zu untersuchen. Ein Untersuchungsbericht wurde jedoch nie veröffentlicht. (>>> öffentliche Sachverständigenanhörung / Diskussion im Sportausschuss)
Neben Leitlinien wurden Verpflichtungen für die Verbände und die darin Aktiven formuliert und Wünsche an die Sportmedizin, die Politik und andere gesellschaftliche Partner festgehalten.
Kommentare:
Dr. W. Hollmann wird in der FAZ am 7. Mai 1977 wie folgt zitiert:
„Die Anti-Doping-Erklärung von Willi Weyer und Willi Daume, bei aller persönlichen Wertschätzung vor beiden Männern, ist von rührend anmutendem Niveau. Ihr Verhalten gleicht dem Ingenieur, der einen Mondflug vorbereitet und sich dabei der Materialien von Peterchens Mondfahrt bedient.“
Die Zeit schreibt am 11.11.1977:
„Das Vorhaben des Deutschen Sportbundes (DSB), der medizinischen, pharmakologischen und technischen Manipulation durch eine Anti-Doping-Charta zu begegnen, ist zwangsläufig so lange ein Versuch am untauglichen Objekt, wie der Wille und die Möglichkeit zu steter Kontrolle fehlen. Hatte DSB-Präsident Willi Weyer noch Anfang des Jahres lautstark und entschieden für „Kontrollen auch auf unterster Ebene“ plädiert, so sprach, sich jüngst, knapp vier Monate nach Verabschiedung der Charta, die wissenschaftliche Kommission des Bundesausschusses für Leistungssport während einer Tagung in Beckstein (Taunus) „gegen alle etwaigen Kontrollmaßnahmen beim Training der Spitzensportler“ aus.“
aus der Praxis:
Manfred Ommer, Sprinter in den 70er Jahren, gab im März 1977 zu mit Dianabol Vizeeuropameister geworden zu sein.
„Was zählt, ist nur der Erfolg. Der Athlet will gewinnen, und alles, was ihm dabei hilft oder auch nur Hilfe verspricht, ist gut und muß zumindest ausprobiert werden. Ein Mannschaftsarzt, der einemAthleten eine Apfelsine in die Hand drückt und ihn mit dem guten Rat in den Wettkampf schickt, sich noch einen Apfel zu kaufen, ist die längste Zeit Mannschaftsarzt gewesen.. Dafür sorgen die Athleten selbst…. Und der Arzt, von dem ich die richtigen Pillen habe, hat ja auch an der Dopingliste mitgearbeitet….“ (die Welt, 15.3.1977)
„Sehr viele Trainer – das ist auch nachweisbar – lehnen Anabolika überhaupt nicht ab. Dann kommt der Athlet mit den Funktionären der Verbände in Berührung. Hier stelle ich die Behauptune auf, daß ich noch keinen Verbandsfunktionär getroffen habe, der mir klipp und klar gesagt hat, daß er gegen Anabolika ist und daß er mir davon abrät. Im Gegenteil: Es liegen Beweise und Zeugenaussagen vor – auch von Athleten der Nationalmannschaft -, daß sogar Funktionäre der Verbände den Athleten zu der Einnahme von Anabolika geraten haben.“ (Sportausschuss 1977, S. 6/56)
[1] Doping-Erklärung DSB und NOK April 1977 (sid, 30.4.1977)
offizielles Kommunique
die Doping-Erklärung
Als Ergebnis der 124. Sitzung des Praesidiums des Deutschen Sportbundes, das sich am Wochenende im Frankfurter Haus des Deutschen Sports ausführllch mit der Vorlage der vom Deutschen Sportbund und vom Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland eingesetzten Kommission beschäftigte, haben der Praesident des DSB, Willi Weyer, und der Präsident des NOK, Willi Daume, folgende gemeinsame Erklärung abgegeben:
– „die Beeinflussung der sportlichen Leistung durch jegliche Manipulation am Athleten verstößt gegen die humanltären und ethischen Prinzipien des Sports, verletzt die Chancengleichheit und birgt die Gefahr gesundheitlicher Schädigung in sich. Aus diesen Gruenden werden jede medizinisch-pharmakologische Leistungsbeeinflussung und technische Manipulation am Athleten entschleden abgelehnt. Es ist dabei unerheblich, ob die verabreichten Medikamente zu kontrollieren sind oder nicht.
– Wirkungsvollste Alternative zu jeglicher Manipulation ist ein umfassendes Konzept von Förderungsmaßnahmen für den einzelnen Athleten und den gesamten Spitzensport. Dabei kommt der ärztllchen und pädagogisch-psychologischen Betreuung, der sozialen Unterstützung und der Aufklärung über die Gefahren von Manipulationen besondere Bedeutung zu.
– Der Deutsche Sportbund wird seine Dopingbestimmungen ergänzen. Die Verbände, in denen das Verbot medikamentöser Beeinflussung bislang noch nicht ausreichend geregelt ist, sollen dazu veranlasst werden, entsprechende Massnahmen zu ergreifen und diese Auffassung auch in ihren internationalen Federationen zu vertreten. Alle sportwissenschaftlichen Einrichtungen, insbesondere das Bundesinstitut für Sportwissenschaft, werden aufgefordert, sich intensiv mit Fragen von Training und Wettkampf zu befassen.
– DSB und NOK bekennen sich uneingeschränkt zur Teilnahme an internationalen Wettkämpfen. Sie fordern die Öffentlichkeit auf, anzuerkennen, dass nicht nur Weltrekorde, Siege und vordere Plätze, sondern alle sportlichen Leistungen zu würdlgen sind.
– DSB und NOK appellieren an alle gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen, insbesondere an Parlamentarier auf allen Ebenen, Arbeitgeber, Gewerkschaften und Kirchen, die soziale Verantwortung für die Spitzensportler mitzutragen. Dabei kommt der Arbeit der Stiftung Deutsche Sporthilfe besondere Bedeutung zu.
– Probleme der Leistungsbeeinflussung betreffen auch die Eltern heranwachsender Sportler. Sie müssen sicher sein, dass ihre Kinder verantwortungsvoll betreut und auf dem Weg zur Spitzenleistung nicht manipuliert werden.
– Wir sind davon überzeugt, dass unsere Sportler auch beim Verzicht auf verbotene Leistungsbeeinflussung den internationalen Vergleich nicht zu scheuen brauchen.
– Der Bericht der Dreier-Kommission, der Prof. Ommo Grupe (Vorsitz), Graf Landsberg-Velen und Heinz Fallak angehören, wird am 25. Mai 1977 Gegenstand von Beratungen im NOK-Präsidium sein und bildet die Bassis für eine Grundsatzerklärung für den Spitzensport, die den Delegierten des SSB-Hauptausschusses am 11. Juni 1977 in Baden-Baden vorgelegt wird.“
[2] Helmut Digel, Assistent der Kommission im Interview:
Am 21.11.2012 berichtete Prof. Helmut Digel in einem Interview mit der FAZ etwas über die Arbeit dieser Grupe-Kommission. Digel war Assistent der Dreiergruppe, bestehend aus Ommo Grupe, Dieter Graf Landsberg-Vehlen.
Ende 2013 veröffentlichte Digel seine persönlichen Notizen als Protokollant der Dreier-Kommission, neben Jan Kern. Er hält darin drei Positionen fest, die sich nach der Befragung heraus kristallisiert hatten:
– Doping und Anabolikagaben an Athleten sind nicht zu verantworten (Mediziner H.E. Bock, Pharmakologen D. Palm, H. Klehr, ehemalige Athleten H. Meeuw, I. Mickler-Becker, Pfarrer H. Döring)
– Doping und Anabolikagaben sind unter bestimmten Voraussetzungen verantwortbar (Mediziner R. Felten, Trainer H. Planert, Pfarrer P. Jakobi, kein ehemaliger Athlet)
– Doping und Anabolika müssen zugestanden werden, da man ohne diese Medikamente im modernen Hochleistungssport chancenlos sei (Mediziner Dörr, Trainer Köberich, ehemaliger Athlet R. Altig; mit Einschränkunen M. Donike) (H. Digel, Verlorener Kampf)
Zitate aus dem FAZ-Artikel:
„1976 war ich geschockt von dem, was in manchen Sportarten üblich war. Gravierend war es im Gewichtheben, im Schwimmen, in der Leichtathletik und im Radsport. Für die Leichtathletik fanden wir immer mehr Zeugen, die von Doping bis in Leistungsklassen berichteten, in denen man nicht einmal an deutschen Meisterschaften teilnahm. …
Wir waren geschockt, als deutsche Sportmediziner uns sagten, man müsse dopen, wenn man international konkurrenzfähig sein möchte. Hans Erhard Bock, der Leiter der Medizinischen Klinik in Tübingen, war empört, als er hörte, dass sich der Mediziner Heinz Liesen in aller Konsequenz dazu bekannte, dass Leistungssteigerung zu den Aufgaben des Arztes im Sport gehöre. …
Wir wurden belächelt. Der Direktor des Bundesausschusses Leistungssport, Helmut Meyer, hielt uns für Idealisten, die nicht verstanden hatten, wie die Probleme des Hochleistungssports zu lösen seien. Er hatte sein Personal nach seiner Haltung rekrutiert. Der DDR-Sport war für diese Leute das Vorbild. Wer das nicht so sah, hatte keine Ahnung vom Hochleistungssport. …
Niemand war ahnungslos. Wer Zeitung las, konnte in den sechziger und siebziger Jahren erkennen, dass wir ein Doping-Problem haben. Es gab genügend Indizien und Selbstbezichtigungen wie die der Leichtathleten Ralf Reichenbach, Gerd Steines, Alwin Wagner und Manfred Ommer. Aber die Grundhaltung derer, die dagegen waren, war naiv. Ich war auch naiv. Ich habe gefordert, man solle keine ständige Kommission schaffen, man solle eine Ad-Hoc-Kommission zur Doping-Bekämpfung einrichten, damit es bereits einen Termin gibt, zu dem deren Arbeit zu Ende sei. Sehr schnell musste ich erkennen, dass Doping ein stabiles, systemimmanentes Dauermerkmal des Leistungssports geworden ist. …
Es wurde schon damals indirekt deutlich, dass vom organisierten Sport nach außen das Spiel des sauberen Hochleistungssports gespielt wurde, und nach innen hat man eine andere Moral entwickelt. Werner Göhner war Schatzmeister des Nationalen Olympischen Komitees und bespielte nach außen hin diese Bühne. Intern hatte sich seine Sportart, der Radsport, längst darauf geeinigt, dass er eine Medikamenten-Sportart war. Er hatte mit der Tour de France ein unlösbares Problem. Man muss sich vorstellen: Rudi Altig wurde damals Bundestrainer! …
1983 ergänzende Stellungnahme
1983 sahen sich DSB und NOK genötigt, die Grundsatzerklärung zu bestätigen, sich ‚uneingeschränkt‘ dazu zu bekennen. In einer Stellungnahme verabschiedet der Hauptausschuss des DSB eine ergänzende Stellungnahme, der am 5.11.1983 die Mitgliederversammlung des NOK zugestimmt hat. Darin werden vor allem Forderungen und Maßnahmen genannt, mit deren Hilfe eine schnellere inhaltliche Umsetzung der Grundsatzerklärung von 1977 gewährleistet werden soll.
>>> 1983_Grundsatzerklaerung von DSB und_NOK 4.6.1983.pdf
Beide Grundsatzerklärungen galten bis zur Wiedervereinigung als maßgebliche Richtschnuren des Handelns und Argumentierens. Insbesondere die Politik bezog sich immer wieder auf diese Grundsätze, wie es Kleine Anfragen von Parteifraktionen des Deutschen Bundestag belegen.
Die Umsetzung der Grundsätze in der Praxis scheint aus späterere Sicht zweifelhaft. Einiges deutet daraufhin, dass nach den Erklärungen Ruhe in die öffentliche Dopingdebatte einkehrte, zumal von Sportfunktionärsseite (Willi Daume) Schweigen angemahnt wurde. Das Problem war damit aber keinesfalls gelöst sondern brodelte unter der Decke heftig weiter.
Ein Beispiel für den Umgang mit den Leitsätzen ist die Testosteronforschung der Jahre 1985 bis 1990. Diese Testosteronforschung führte nach Bekanntwerden zu heftigen Auseinandersetzungen. Auch die Bundesregierung sah sich zu Erklärungen und Rechtfertigungen genötigt. Bis heute sind die Hintergründe nicht vollständig offengelegt:
>>> Testosteronforschung von 1985-1990
parlamentarische Bezüge:
Eine umfangreiche Darstellung der Doping-Diskussion in der Bundesrepublik nach den Dopingvorgängen während der Olympischen Spiele 1976 findet sich hier:
>>> Singler/Treutlein, Doping im Spitzensport, S. 220 ff
Darin wird auch ausführlich auf die Debatte im Sportausschuss des deutschen Bundestages 1977 eingegangen, in der die gesamte Bandbreite der Meinugen deutlich wurde:
>>> Öffentliche Sachverständigen-Anhörung vor dem Sportausschuss 1977