Dr. Rainer Hartwich
Dr. Rainer Hartwich, Jahrgang 1949, promovierte am Institut für Pharmakologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena und machte 1980 seine Facharztprüfung für Innere Medizin. 1980 ging er zum VEB Jenapharm, wo er die Aufgabe übernahm, eine Abteilung für Klinische Forschung aufzubauen. Er leitete diese Abteilung von 1982 bis 1987. Damit gehörte er zu den 16 Personen, die in „irgendeiner Form mit den Forschungs-, Entwicklungs- und Herstellungsarbeiten im Komplex 08 beim VEB Jenapharm befasst waren,“ und „für dieses Thema zur Geheimhaltung verpflichtet waren.“ (Latzel, S. 109) Im Oktober 1987 übernahm er eine Stelle als Chefarzt am Nachbehandlungszentrum für Geschwulstkranke Weißenberg/Weißeneck der Bezirks-Lungenklinik Gera-Ernsee, ein zweites Arbeitsverhältnis bestand jedoch bei Jenapharm weiter.
Rainer Hartwich war kein Dopinggegner, auch kein Systemgegner, aber er blieb zumindest in einer Angelegenheit, der Verwendung des Dopingsubstanz STS 646, aufmerksam und stellte sich und anderen Fragen, auch unangenehme. Nach der Wende ging er vergleichsweise offen mit seiner Arbeit und seine Haltung um.
Klaus Latzel konnte Rainer Hartwich für seine Forschungen über den VEB Jenapharm persönlich interviewen. Dabei suchte er auch zu erfahren, welche Einstellungen und Motivationen dem Verhalten des Arztes zugrunde lagen.
Die folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auf die Ausführungen von Klaus Latzel, Staatsdoping, 2009. Sie werden ergänzt durch Zitate aus Giselher Spitzer, Sicherungsvorgang Sport, 2005.
Einverständnis und Interesse
Hartwich wurde nach seinem Einstieg bei Jenapharm schnell bedeutet, dass auch Doping zu seinem Job gehöre. Er habe anfänglich keine besonderen Skrupel gehabt gegenüber dem Einsatz von Dopingmitteln, zumal er dachte
„es geht um erwachsene Menschen, die das aus freiem Willen und aus freiem Erleben heraus tun.“ Sein Interesse war geweckt, denn „für jemand, der von Sport etwas versteht oder der vielleicht selbst auch ein bisschen Sport lebt, der von Pharmakologie und von Medizin etwas versteht, ist dieses Thema Leistungssteigerung – das gibt’s ja nicht nur im Sport, das gibt’s ja überall – hochinteressant. Und von der Theorie her macht jemand, der Nootropika entwickelt, also in Richtung kognitive Steigerung arbeitet, im Prinzip nichts anderes als jemand, der Substanzen in Richtung körperliche Steigerung entwickelt.“
Es war ihm zudem wichtig dazu beitragen zu können, dass die DDR einen Bereich hatte, hier der Sport, in dem sie ihre Überlegenheit gegenüber dem großen Bruder UDSSR und dem Westen zeigen konnte. Besonders die politische Auseinandersetzung zwischen Ost-und West mit der begleitenden Embargopolitik des Westens, die zu schwierigen Engpässen auch in der Versorgung mit Medikamenten führte, hatte der Arzt als demütigend erfahren.
Rainer Hartwich hegte anfänglich keinerlei Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Anabolikaforschung und -anwendung, doch laut eigener Aussage habe er bereits nach einem halben oder einem Jahr einen ‚Knacks‘ bekommen, als Prof. Michael Oettel, Direktor für Forschung und Entwicklung beim VEB Jenapharm, auf ihn zu kam und von ihm die Durchführung einer Studie über die Wirkung zentralnervöser Substanzen auf die Leistungssteigerung forderte. Gegenüber Forschungen in Richtung Bewusstsein und Bewusstseinsveränderung hatte er Berührungsängste. Er weigerte sich nicht, aber er tat erst einmal nichts dafür. „Ich habe es einfach ausgesessen, aber ich merkte, dass Oettel offenbar im Rahmen dieses Staatsplanthemas auch gewisse Verpflichtungen eingegangen war, und er drängte mich immer mehr.“ So machte Oettel die Studie selbst.
Verlangt wurde von ihm hin und wieder das Besorgen, Abzweigen und das Weiterleiten anaboler Steroide für die Praxisanwendung. So sollte er einmal 5.000 Tabletten Oral-Turinabol aus der Produktion für Forschungszwecke besorgen, die dann über Jenapharm-Direktor Wentzel an den FC Carl Zeiss Jena gingen. In den ersten Jahren übergab er auch die bei Jenapharm hergestellten STS-Substanzen (Mestanolon) im Rahmen des Staatsplanthemas 14.25 an Abholer des FKS weiter.
Fragen und Skrupel
Rainer Hartwich:
„Das Staatsplanthema war nicht bei Jenapharm aus dieser Substanz ein Arzneimittel für den normalen Betrieb zu machen. Das haben wir vielleicht gehofft, dass es das mal werden könnte, sondern, das war eher unerwünscht in diese Richtung zu denken, weil natürlich niemand Interesse hatte, dann hätte man das publizieren müssen, dann hätte man die Daten offen legen müssen, im zentralen Gutachterausschuss der DDR vorlegen müssen. Das war unerwünscht im Rahmen der Geheimhaltung.“
Daten wie dieser streng geheime Forschungsbericht. In ihm wird dargelegt, wie sich Doping-Substanzen im Körper verteilen und abgebaut werden. Wichtige Erkenntnisse, die heute bei der Behandlung der Opfer helfen könnten.
„Untersuchung zur Pharmakokinetik und Biotransformation von Oral-Turinabol und STS 646 beim Menschen.“
(mdr, 29.7.2003)weitere Zitate siehe unter Werner Franke, Nil Nocere
Offiziell wurden die Mittel für Forschungszwecke verwandt, doch Hartwich erfuhr niemals von Ergebnissen, zudem waren die von ihm weitergegebenen Mengen so groß, dass er etwa ab 1984 misstrauisch wurde. Er suchte gemeinsam mit Prof. Reinhard Hüttenrauch, Leiter der Abteilung Galenik, nach Prüfungsunterlagen, sie fanden aber nichts. Laut Gesetz bedurfte es für den Einsatz von Arzneimitteln Genehmigungen, die jedoch nicht vorlagen. Nachdem er das Problem 1986/1987 beim FKS gegenüber Schäker und Häcker angesprochen hatte und auf Granit biss, wandte er sich in Berlin an Dr. Gerecke, Sekretär des Zentralen Gutachterausschusses.
„Ich bin also dorthin und habe ihm die Situation geschildert, gerade was die STS 646 betraf, und gesagt, für meine Begriffe ist das, was da passiert, gegen die Gesetzlichkeiten dieses Landes, und als Sekretär des ZGA müssen Sie mir bitte erklären, warum das so ist. … er sagte, ja, da habe ich mich auch ein bisschen überfahren lassen. Wir haben das einfach so laufen lassen, weil es hieß, das geht euch nichts an. Er hat das dann aber nachrecherchiert und gesagt, ja, es stimmt, was Sie sagen, das geht wirklich seit zehn Jahren so, und er könnte ja in Leipzig einmal nachfragen, aber so richtig machen könne er da auch nichts.“
Hartwich wandte sich daraufhin brieflich an Dr. Peters im Ministerium für Gesundheitswesen. Die Antwort erfolgte über das FKS: „Barnikol stand ganz aufgeregt vor mir und sagte: Ich soll Ihnen von Professor Häcker ausrichten, noch so eine Eskapade, und Sie können ihre ganze berufliche Perspektive in diesem Lande in den Wind schreiben.“ Hartwich hatte auch die Firmenleitung von seinem Brief informiert. Er sprach zudem mit Dr. Manfred Höppner, dem Direktor des Sportmedizinischen Dienstes und machte weitere Eingaben beim FKS, als Reaktionen erhielt er Mahnungen und Drohungen.
Treffbericht 26.2.1988, IMS „Klinner“ (Hartwich):
„Aus Gesprächen mit Dr. Höppner konnte ich in Erfahrung bringen, dass er vom FKS im Glauben gelassen wurde, die Präparate seien geprüft und bestätigt. Meines Wissens wird die Substanz STS 646 in den Sportarten
– Gewichtheben
– Ringen
– Schwimmen
– Leichtathletik (Wurf und Sto0disziplinen)
eingesetzt.
Wie mir durch Dr. Höppner bekannt wurde, gibt es bereits von mehreren Verbandsärzten zur Substanz 646 gegenüber dem SMD Anfragen, dass diese Präparate auf den Verpackungen keine Bezeichnungen bzw. Kennzeichnungen haben.“
(Spitzer, Sicherungsvorgang Sport, S. 188)
Rainer Hartwich, als IM „Klinner“ bei der Staatssicherheit geführt, kritisierte auch in dieser Funktion bereits 1985 die Vergabe von ungeprüften Arzneimitteln an Sportler durch das FKS.
„Hartwich kritisierte dabei nicht prinzipiell die Anwendung von „unterstützenden Mitteln“, sondern er verwies auf die politische Brisanz im möglichen Falle der Entdeckung eines durch Doping bewirkten Körperschadens bei einem Sportler. Gleichzeitig verlangte er aber, „der Sicherheit der angewendeten Methoden für den betroffenen Sportler erste Priorität einzuräumen“, und er drängte auf die peinlich genaue Einhaltung der Bestimmungen des Arzneimittelgesetzes.“ (Latzel, S. 147)
Vor dem Hintergrund der Olympischen Spiele 1988 in Seoul formulierte IM ‚Klinner‘ u.a.:
„Wie mir durch Dr. Barnikol-Oettler (VEB Jenapharm) bekannt wurde, wurden durch das FKS für 1988 60 000 Tabletten dieser Substanz bestellt, das sind 20-30 000 Behandlungstage an Sportlern nur für 1988. Allein aus diesen Zahlen ist ersichtlich, wie viele Sportler mit diesem Präparat behandelt werden.
Weiterhin wurde mir bei meinem Aufenthalt Anfang Januar 1988 im FKS Leipzig bekannt, dass Prof. Häcker und Dr. Rademacher in die Granulat-Beutel Dynvital Anabolikasubstanzen STS646 untermischen wollen, welches eine grobe Verletzung gegen das Arzneimittelgesetz der DDR darstellt (nur inoffizieller Hinweis!).“ (G. Spitzer, Sicherungsvorgang Sport, S. 181ff)
Erfolge sah Hartwich nach seinem Vorbreschen nicht, er beobachtete, dass sich alles ‚ein bisschen relativierte, ein bisschen langsamer wurde.‘
Giselher Spitzer halt fest:
„Das Ministerium für Staatssicherheit und DDR-Sportmedizin ebenso wie die die einbezogene Sportwissenschaft waren der Initiative des IM nicht gefolgt. „Klinner“ hatte die bedenken auf offiziellen und inoffiziellen Wegen vorgetragen. Er wurde mit Kenntnis der MfS regelrecht genötigt und bedroht, die Produktion und Vergabe der Steroidsubstanz mit der Ordnungsnummer 646 nicht zu behindern.“ (Spitzer, S. 189)
Latzel stellte auch die Frage nach dem Wissen des Mediziners über das Alter der Sportler und Sportlerinnen, die am FKS mit Dopingmitteln behandelt wurden. Während ein anderer leitender Angestellte des VEB Jenapharm, der ebenfalls von ihm befragt werden konnte (aber anonym bleiben wollte), angab, keinerlei Hinweise über eine Anwendung von Dopingmitteln bei Jugendlichen gehabt zu haben, sprach Hartwich von Hinweisen, die dafür gesprochen hätten. Mit entsprechendem Wollen, hätte man einiges über die Forschung erfahren können.
„Und alle, die sagen, sie hätten es nicht gewusst: Im besten Fall wollten sie es nicht wissen, oder sie waren zu faul, oder sie schwindeln.“ (Klaus Latzel, S. 205-217)
weitere Untersuchungen und Forschungen
1984 bis 1988 wurden dann bei Jenapharm präklinische Studien zu STS 646 durchgeführt. Einiges deutet laut Latzel daraufhin, dass Jenapharm begann ernst zu machen mit der „Entwicklung der STS 646 zum Arzneimittel, während das FKS weiterhin seine klinischen Versuche an Mitarbeitern und Sportlern mit dem STS 646 durchführte, für die Jenapharm die Substanzen bereitstellte.“ (S. 133) Weitere Untersuchungen fanden beim Institut für experimentelle Endokrinologie in Berlin, beim ZIMET und beim Zentralinstitut für Ernährung in Rehbrücke statt.
Nachdem Hartwich 1987 Jenapharm verlassen hatte, blieb aber dennoch vertraglich an die Firma gebunden. So leitete der Chefarzt in Weißeneck 1987 und 1988 „vergleichende Untersuchungen des ZIMET zur Pharmakokinetik und Biotransformation von Oral-Turinabol, STS 646 und Substanz XII an freiwilligen gesunden Probanden.“ 1989 holte er im Auftrag des Forschungsdirektors Dr. Hösel von Jenapharm beim Ministerium für Gesundheitswesen die Zustimmung für die Klinische Prüfung Stufe III ein. STS 646 wurde als vielversprechendes Geriatrikum gesehen, unter dieser offiziellen Prämisse wurden auch die Forschungsreihen angeordnet. Im Februar 1990 stellte Hartwich dann die Ergebnisse der Klinischen Prüfung III vor, danach hatte sich STS 646 nicht bewährt. Die Klinische Prüfung III steht jedoch auch in Verbindung mit dem Staatsplanthema 14.25, in dessen Aufgabenblättern für 1988 für Jenapharm die „Fortsetzung der Erzeugnisentwicklung der STS 646 für die Leistungssportforschung (klinische Prüfung 3)“ festgehalten wurde.
Eingebunden war Hartwich zudem schon 1982 in das Forschungsvorhaben um die Substanz XII, einem Metaboliten von Oral-Turinabol. Auch XII sollte auf den Einsatz im Sport zur Leistungssteigerung untersucht werden. In einem mehrjährigen Untersuchungs- und Forschungsprogramm in Verbindung mit dem ZIMET und der Unterrichtung des FKS wird Hartwich als Leiter von „Untersuchungen zur Pharmakokinetik und Biotransformation von Oral-Turinabol im Vergleich zur Substanz XII und STS 646 beim Menschen“ genannt. Aus einem Stasi-Aktenvermerk geht hervor, „Zum Thema ‚Komplex 08‘ teilte der Kandidat noch mit, dass er gegenwärtig umfangreiche klinische Untersuchungen zu neu entwickelten Anabolika in der Akademie / Klinik in Erfurt selbst testet. Die Untersuchungsergebnisse übermittelt er an das FKS in Leipzig.“ (Spitzer, S. 182)
Hartwich war zudem mit dem Krebsmittel Tamoxifen befasst, ein Mittel das im bei Gewichthebern Krebsgeschwüren vorbeugen sollte, die sich in deren durch Dopingmittel degenerierten Brüsten entwickeln konnten.
nach der Wende
Nach der Wende musste Rainer Hartwich seinen Job an der Klinik Weißensee aufgeben, nachdem eine Überprüfung seine Stasitätigkeit offengelegt hatte. (der Spiegel, 3.7.2000). Danach arbeitete er als Chefarzt im Repotenz-Zentrum der Heinrich-Mann-Klinik in Bad Liebenstein (der Spiegel, 2.8.2004).
Monika