Braun, J. / Wiese, R.: Sportgeschichte vor Gericht

 

Jutta Braun, René Wiese

Sportgeschichte vor Gericht

Ein Gutachten zu Dopingpraxis und SED-Unrecht im DDR-Sport

Arete Verlag
ISBN: 978-3-96423-127-7
132 Seiten, 17,50 €

 

Leseprobe des Verlags:
Inhaltsverzeichnis und Einleitung

Zitate:

Fragestellungen

Die Anwendung unerlaubter Mittel der Leistungssteigerung, kurz Doping, gehört zu den wenigen Bereichen, die nach 1989/1990 bei der_Aufarbeitung der SED-Dikta­tur als ..Geschichte vor Gericht“ einer juristischen Bewertung unterzogen wurden.
Zugleich bildet dieses Thema den Gegenstand bis heute anhaltender Debatten nicht nur über die Geschichte der DDR, sondern auch den Zustand der inneren Einheit Deutschlands. Die Frage, wer als ..Dopingopfer“ gelten kann oder nicht, war einer der Triggerpunkte aktueller Kontroversen um die DDR-Vergangenheit. Entsprechend eines seit gut zehn Jahren erkennbaren Anliegens der historischen Forschung wie der politischen Bildung, eine ,,Aufarbeitung der Aufarbeitung“ anzuregen, ist es auch im Fall der historischen wie geschichtspolitischen Verortung des Doping-Komplexes erforderlich, zunächst einige der wesentlichen Stationen der bisherigen historischen Aufklärung und öffentlicher Diskurse hierüber zu reflektieren. Denn die vorliegende Studie, die sich eine Auswertung von Gerichtsakten als bislang selten genutzter Quellengrundlage zum Ziel setzt, möchte hiermit ausdrücklich auf einige Defizite und blinde Flecken reagieren, die sich in der bisherigen Forschungslandschaft auftun.

Das … 1991 von Berendonk und Franke vorgelegte Werk „Doping: Dokumente: Von der Forschung zum Betrug“ ist bis heute ein Standardwerk der Aufklärung geblieben, auch weil es eine lodernde Anklage gegen Doping-Betrug in Ost und West darstellte und damit seiner Zeit weit voraus war. Im gleichen Jahr erstattete Werner Franke Strafanzeige gegen Verantwortliche des DDR-Sports. Das Dopingsystem wurde damit zu einem der Bereiche, in denen die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) ihre Untersuchungen zur strafrechtlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur aufnahm. Im Rahmen der bald anrollenden sogenannten „Dopingprozesse“ erhielten zahlreiche Funktionäre, Trainer sowie Ärzte und Ärztinnen Geld- und Bewährungsstrafen, darunter auch der ehemalige Präsident des Deutschen Turn und Sportbundes (DTSB) Manfred Ewald sowie der im Sportmedizinischen Dienst (SMD) für Doping zuständige Manfred Höppner. Zum ersten und einzigen Mal wurden damit die Vergehen eines kommunistischen Staatssports vor Gericht gestellt und abgeurteilt.
Zugleich wurden die Prozesse aus den Kreisen ehemaliger SED-Machthaber als „Siegerjustiz“ diffamiert – es gehe, so Egon Krenz, „nicht um Doping, es geht darum, daß hier Revanche genommen wird, weil die DDR im Sport gewonnen hat, weil sie besser war als die alte Bundesrepublik“.
Dieses Narrativ, das bis heute in verschiedenen Variationen in der politischen und publizistischen Landschaft präsent ist, ignoriert die Tatsache, dass es einer der wichtigsten Funktionäre des DDR-Sportsystems, Manfred Höppner, selbst gewesen ist, der durch seine offenherzige Präsentation von internen Staats-Dokumenten im Stern Ende 1990 die Aufklärungswelle mit vorantrieb. Es ignoriert auch die Tatsache, dass es sich bei den Nebenklägern der Verfahren sämtlich um Ostdeutsche handelte. Doch ist die Behauptung auch deshalb so zählebig, da sich die ehemals Verantwortlichen des DDR-Sports außerhalb der Verfahren weitgehend in Schweigen hüllten. Aus diesem Grund sind die Akten der Doping-Prozesse als Quelle von erheblicher Bedeutung: Denn hier kann erstmals präzise nachgelesen werden, wie sich die Verantwortlichen zu ihren Handlungen positionierten. Aus den Vernehmungen der Ärzte- und Trainerschaft sowie Sportfunktionäre werden nicht nur viele Details deutlich, die bislang von der Forschung nicht rekonstruiert werden konnten. Sie berühren zudem so zentrale Fragen wie die der Verantwortung und Handlungsspielräume in der Diktatur.

Eine breite Quellengrundlage hat der Vizechef des Sportmedizinischen Dienstes Manfred Höppner in seiner zwar vielfach zitierten, erstaunlicherweise historisch aber nur partiell ausgewerteten Akte „IM Technik“ durch Gespräche mit seinem Führungsoffizier beim Ministerium für Staatssicherheit (MfS) selbst erschaffen. Bemerkenswert ist, dass sich auf den Hunderten von Seiten en Detail das Unbehagen, zuweilen auch das Erschrecken nachlesen lässt, das Höppner selbst, aber auch Ärzte oder Trainer im Rahmen der Dopingpraxis beschlich. Zugleich wird in den Ermittlungsakten etwas kenntlich, das ebenfalls aus der Darstellung des DDR-Sports bislang weitgehend ausgeblendet blieb: Der Druck, der auf allen Beteiligten lastete, nicht nur den Sportkadern, sondern auch den Organisatoren des Dopingsystems, von Manfred Ewald bis hin zu einzelnen Ärzten. Hier wird deutlich, auf welche Weise das „Sportwunderland“ Teil einer Diktatur war, deren Mechanismen sich Einzelne nur um den Preis des Ausscheidens aus ihrem beruflichen Teil-System entziehen konnten. Die Möglichkeit einer öffentlichen Debatte, etwa über Kinder-Doping, war schlicht nicht vorhanden, ebenso endeten Versuche, Proteste im Inneren des Apparats zu artikulieren, regelmäßig in Disziplinierungsmaßnahmen.

Vor allem, und dies ist ein wichtiger Ausgangspunkt unserer Studie, ist es ein erheblicher Unterschied, ob ein junger Mensch in der Diktatur oder in einer Demokratie mit der Erwartung, Doping zu konsumieren, konfrontiert wird. Diese Differenzen und ihre Konsequenzen für den Sportalltag anhand konkreter Situationen und Beispiele zu verdeutlichen, ist wesentliches Anliegen dieser Arbeit. Die vorliegende Studie orientiert sich an wissenschaftlichen Fragestellungen über den Zwang und die Bereitschaft zum Mitmachen in einer Diktatur. wie sie in Konzepten wie „Herrschaft und. Eigensinn“ formuliert und unlängst etwa in Forschungsgruppen zur Frage der „Freiwilligkeit“ in der Diktatur aktualisiert und weitergeführt wurden.

Der Kontrast zu juristischen Betrachtungsweisen, wie etwa im ausgelaufenen Zweiten Dopingopfer-Hilfegesetz (DOHG), sei an einem einfachen Beispiel erläutert: Faktoren wie psychischer Druck oder Wissen um Nebenwirkungen waren für das juristische Raster des DOHG als explizit irrelevant erklärt worden. Für die historische Beantwortung der Frage aber, ob die Dopingpraxis der DDR repressiv war, ob das System junge Menschen missbrauchte, sind eben diese Aspekte zentral. Die etwa mehrfach überlieferte Drohung durch Funktionäre gegenüber Athletinnen, im Falle einer Dopingverweigerung kein Abitur machen zu dürfen, hätte laut DOHG bei einer volljährigen Person nicht zur Einordnung als Doping-Opfer führen dürfen.
Für die Realität eines jungen Menschen, für dessen Handlungsspielräume, ist ein solcher Einschüchterungsversuch durch einen hochrangigen Sportfunktionär jedoch zentral – und ebenso für die Beantwortung der Frage, ob es im DDR-Sport zu Missbrauch und Instrumentalisierung von Sportlern und Sportlerinnen gekommen ist. Im Zentrum unserer Studie steht deshalb die Frage, welche Handlungsspielräume vorhanden waren, und welche physischen und seelischen Stellschrauben bedient wurden.
Damit einher geht auch die grundsätzliche Frage nach dem Ausmaß politischer Repression im Leistungssport. Zweitens möchten wir noch einmal verstärkt den Blick auf die Verantwortungsträger des Systems lenken, die mittlerweile aus dem historischen und sportpolitischen Fokus gerückt sind: Das gilt vor allem für die Funktionäre, die Ärzte- und die Trainerschaft. Denn sie alle agierten als Teile einer politisch motivierten Anweisungskette, an deren Ende die Dopingeinnahme von Athletinnen und Athleten stand.

Anhand von einzelnen Themenkomplexen wird in Kapitel 1 auf der Grundlage der Prozessmaterialien ein detailliertes Bild von der Lebensrealität im Dopingsystem und seinen repressiven Strukturen gezeichnet. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei dem sogenannten „wilden“ bzw. „unkontrollierten“ Doping, also Doping-Vergaben, die sich außerhalb der festgelegten Anwendungskonzeptionen bewegten.

Demgegenüber zeigen die hier gewonnenen Erkenntnisse, dass ein beständiges Überschreiten der selbst gesetzten Grenzen – sei es durch Manfred Höppner oder andere Ärzte, durch Trainer oder auch durch Clubs und Sportvereinigungen – zu den zentralen, prägenden Merkmalen des Dopings in der DDR gehörte. Das System konnte entweder aus „clubegoistischen“ Motiven, aufgrund der Prämienfixierung von Trainern oder wegen der Sonderrolle einer Sportvereinigung wie Dynamo partiell gesprengt werden. Vor allem aber wurde der Doping-Rahmen immer dann gezielt überdehnt, wenn – was häufig vorkam – die Sorge regierte, man werde international schlecht abschneiden. Diese Praxis offenbart nebenbei, wie abhängig sich der DDR Sport – trotz aller heute anderslautender Dementi – von der Vergabe unterstützender Mittel, insbesondere Anabolika, machte.

Doping in der DDR wird auch als Bestandteil der Sportpolitik des Kalten Krieges kontextualisiert. Denn das Betrugs- und Missbrauchssystem reichte weit über die Grenzen der DDR hinaus. Ein Abhängigkeits- und Druckverhältnis herrschte zwischen der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten auch im Sport. Zudem gab es eine klandestine Kooperation zwischen Dopingärzten in Ost- und Westdeutschland und zahlreiche Mitwisser in internationalen Dopinglaboren und Ärztekommissionen.
Neben der Verantwortlichkeit der Systemträger werden weitere inhaltliche Schwerpunkte gesetzt: Die Frage des Minderjährigen-Dopings erhält in der Darstellung in Kapitel 2 einen besonderen Stellenwert. Dies liegt nicht allein in der besonderen Schutzwürdigkeit von Kindern und Jugendlichen begründet. Auch die retrospektive Darstellung von Verantwortungsträgern, dass der „Einsatz unterstützender, dem Doping zuzuordnender Mittel“ damals „ausschließlich für ausgewählte Kadersportler vorgesehen“ war, „die in der Regel erwachsen waren“, ist hier zu hinterfragen – generell ist zu prüfen, inwieweit sogenannte Nachwuchs- und Anschlusskader bereits regulär in das Dopingsystem  einbezogen waren. René Wiese untersucht zudem, welche Rolle die ideologische Erziehung und das Verhältnis zwischen Athleten und Trainer spielten. Zudem fragt er, weshalb die Kollegien der Kinder- und Jugendsportschulen vor einer unübersehbaren Doping-Realität offenkundig die Augen verschlossen bzw. wie ein Aufbegehren der Pädagogen hier auch mit Repression beantwortet wurde.

Wie notwendig solche Erörterungen sind, zeigen aktuelle politische Debatten, die hinsichtlich des Minderjährigen-Dopings offenbar von Voraussetzungen ausgehen, die keinen Sitz in der historischen Realität haben. So wurde im Bundestag gefragt, inwieweit bei der Betrachtung Minderjähriger als Dopingopfer berücksichtigt worden sei, „dass es dabei nach Rechtsauffassung der Fragesteller auf das Wissen der Erziehungsberechtigten bzw. gesetzlichen Vertreter ankommt.“ Eine solche „Rechtsauffassung“ wäre vermutlich schwerlich entstanden, wäre den Fragestellern die Vorgehensweise der Doping-Verantwortlichen in der DDR hinreichend bekannt, vehement die Kommunikation zwischen Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern zu stören und zu unterbinden. Der sportliche Nachwuchs wurde nicht nur mit Schweigeverpflichtungen belegt, auch Ärzte und Funktionäre – das zeigen die Prozessakten eindeutig – waren angehalten, die Erziehungsberechtigten über Dopingvergaben nicht aufzuklären bzw. bei Nachfragen anzulügen. Um das „Wissen der Erziehungsberechtigten“ war es mithin schwierig bestellt gegenüber einem Sportsystem, das sich explizit ihnen gegenüber abschottete. Allerdings, und das zeigen die Akten ebenso, sickerte die Dopingpraxis trotz aller Geheimhaltungsversuche mit den Jahren durch, so dass immer mehr Eltern darauf verzichteten, ihren Nachwuchs in die Hände des Leistungssportsystems zu geben.

Bereits seit längerer Zeit wird zudem über Doping im Fußball der DDR spekuliert, doch fehlt bislang eine zusammenhängende Darstellung. Aus diesem Grund bietet hier René Wiese in Kapitel 3 anhand von Akten und neuen Zeitzeugeninterviews einen Überblick zum aktuellen Kenntnisstand. Da Sportmediziner und Funktionäre übereinstimmend aussagten, dass es im Fußball lange Zeit keine Konzeptionen gab, gleichwohl auch hier kräftig gedopt wurde, ist die Rekonstruktion der Vergabewege deutlich schwieriger als in anderen Sportarten.

Generell, dies sei abschließend bemerkt. muss das Verhältnis von Doping Ost und Doping West im Blick behalten werden. Die Auseinandersetzung mit der Doping-Vergangenheit entwickelte bereits im Jahr 1990 eine stark interaktive Eigendynamik zwischen Doping-Aufklärung Ost und Doping-Aufklärung West und erreichte eine Vehemenz und Gründlichkeit. wie sie in kaum einem anderen west-, geschweige denn osteuropäischen Staat anzutreffen war. Die Diktatur-Erfahrung der DDR, deren Dopingsystem nicht nur den üblichen Sportbetrug, sondern auch massive Körperverletzungen verschuldet hatte, führte zu einer moralischen Entrüstung, die letztlich auch den kritischen Blick auf die aktuelle Sportpolitik und ihre Schattenseiten schärfte. Denn auch das vereinte Deutschland folgt weiterhin unbeirrt der international gängigen Logik, dass ein erfolgreicher Spitzensport die Leistungsfähigkeit des gesamten Gemeinwesens spiegele – obgleich gerade in dieser Hinsicht die Erfahrung der DDR eine gänzlich andere historische Lehre erteilt hat.


Das Einleitungskapitel enthält auch einen Überblick zur strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Dopings.
Eine Zusammenfassung ist zu finden unter
>>> doping-archiv:  Die strafrechtliche Verfolgung und Aufarbeitung des DDR-Dopings

Zum Kapitel ‚Fußball und Dopingpraxis in der DDR‘ in dem Gutachten siehe
>>> doping-archiv: Doping und Fußball in der DDR