BRD / DDR – Vergangenheit
2014 Hansjörg Kofink: Gedanken, Meinungen, Kommentare
„Sport muss sich als Bastion der Natürlichkeit begreifen“.
Der Philosoph Gunter Gebauer sieht Doping als Ausdruck eines Optimierungswahns und der Anpassung des Menschen an künstliche Modelle. Sportliche Leistung müsse aber allein durch Training und Talent erworben werden. (FAZ 24.10.2014)
Diese Formulierung verlagert menschliche Verantwortung auf eine Institution: Sport ist eine Sache. Es sind Menschen, die durch ihr Tun den Sport (un)menschlich machen!
Gegenposition
Sport kann ebenso wenig zu irgendetwas erziehen wie etwa lateinische Grammatik oder Algebra. Mit und durch Sport können individuelles und soziales Verhalten, das von der Gesellschaft als wertvoll und erstrebenswert akzeptiert wird, demonstriert, erlernt, geübt und erworben werden. Sportliches Tun, Handeln im Sport sind ein ideales Übungsfeld für Erziehung und Bildung.
Der Sport erlaubt aber auch Verhaltensweisen und provoziert ihre Nachahmung, die Bildungs- und Erziehungszielen völlig zuwiderlaufen, weil der aktuelle Erfolg solchen Verhaltens von weiten Kreisen der Gesellschaft gebilligt wird, so z. B. Egoismus und Intoleranz, Aggressivität und Überheblichkeit, Arroganz und Narzißmus. Auch wirtschaftliche Interessen, finanzielle Abhängigkeit und die Methoden der modernen Werbung stehen Bildung und Erziehung, nicht nur im Sport, eindeutig im Weg. Deswegen genießen Bildung und Erziehung den Schutz der Verfassung.
(DEUTSCHER SPORTLEHRERVERBAND (DSLV) E.V. STATEMENT ZUM ARBEITSKREIS 11 des DSB-Kongresses “Menschen im Sport 2000“ “Wozu erzieht der Sport? Sportliche Bildung und Bildungsinstitutionen“, Verfasser: Hansjörg Kofink – DSLV – Statements zum Kongreß „Menschen im Sport 2000“, 1988 DSB Frankfurt, S.148ff.)
So sah das der US-Sport Ende der 60er Jahre
If the pleasures of competition and joys of victory are worth keeping, sport must realize that it is HIGH TIME TO MAKE SOME RULES
(High Time to Make Some Rules, B. Gilbert, Sports Illustrated, 7.7.1969)
So sah das ein Bundesverfassungsrichter 2007
Sport kein Staatsziel
Im Zuge einer Debatte um die mögliche Aufnahme des Sports als Staatsziel in das deutsche Grundgesetz fasste der ehemalige Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm die positiven und negativen gesellschaftlichen Auswirkungen des Sports folgendermaßen zusammen:
Sport trägt zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei, sät aber auch Zwietracht.
Sport fördert die Völkerverständigung, ist aber auch für Nationalismus anfällig.
Sport hält zur Fairness an, wird aber auch Anknüpfungspunkt für Gewalt.
Sport leistet einen wichtigen Beitrag zur Gesundheitsvorsorge, er ist aber auch Quelle großer gesundheitlicher Schäden und ihrer sozialen Folgekosten.
Da es im Sport längst nicht mehr nur um Ruhm, sondern auch um Geld geht, zieht er unlautere Praktiken an.
Doping ist nur die sichtbarste.
(Dieter Grimm: Gold-Medaillen genügen. FAZ, 29.1 2007, S. 35
So sehen und sahen es die Betroffenen
Doug Logan (USATF):
„Der Vorstandsvorsitzende des amerikanischen Leichtathletikverbandes (USATF), Doug Logan, kritisiert die „Pillenkultur“ in den Vereinigten Staaten und plädiert für lebenslange Sperren bei erstmaligen Doping-Vergehen. Vor Vertretern der amerikanischen Nahrungsergänzungsmittelindustrie sagte er in Scottsdale (Arizona), die Bereitschaft der Bevölkerung, Nahrungsergänzungsmittel einzunehmen und die Lobbyarbeit der Industrie gegen gesetzliche Einschränkungen bei der Herstellung und dem Vertrieb der Stoffe trügen dazu bei, dass das Doping-Problem in der Leichathletik nach wie vor „monumentale Ausmaße“ habe.
„In welcher Kultur wissen schon Neunjährige über die Wirkung von Steroiden und fragen ihre Trainer und Mentoren danach?“, sagte Logan. „In einer Kultur, in der Nahrungsergänzungsmittel dazu genutzt werden, die Jugendlichkeit zurückzuholen, Gewicht zu verlieren, die Verdauung zu regulieren, Muskeln zu vergrößern, Falten verschwinden zu lassen, Geschlechtsorgane zu vergrößern und Fußpilz zu bekämpfen.““
(„Dann sind wir eine pharmazeutische Freakshow“, Das Dopingproblem der Leichtathletik, von Christoph Becker, FAZ 30.1.2009, )
Toni Innauer:
„… Wenn man den Erfolg als absolut höchstes Gut setzt und dem alles unterordnet, lässt man den Menschen auf der Strecke – im Spitzensport, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, die vom Wettbewerb dominiert sind. …
..- So toll auch die Geschichte des Leistungsprinzips ist, so wertvoll das Leistungsstreben auch als kultureller Motor ist, so gefährlich ist es auch, wenn man die Spielregeln nicht ständig pflegt und weiterentwickelt. …
… Ich habe das Vertrauen verloren, dass der saubere Athlet und seine Arbeitsbedingungen mit seriösen, intelligenten Methoden geschützt werden – und darum geht es mir. Ich habe international nicht die entsprechenden Anstrengungen dafür erkennen können. …“
(„Am Sport kann man ablesen, dass wir übertreiben“. Im Gespräch: Skisprunglegende Innauer, Das Gespräch führte Christiane Moravetz, FAZ 18.3.2010)
Sportlerinnen:
„… Kaum war die Welt nicht mehr in politische Blöcke aufgeteilt, ließ die Intensität der Stellvertreterkriege in den Stadien nach. 1988 noch hatte Petra Felke zunächst den Weltrekord auf glatte 80 Meter gesteigert und war dann mit 74,68 Meter in Seoul Olympiasiegerin geworden. Vier Jahre später, in Barcelona 1992, siegte Silke Renk mit nur noch 68,34 Meter. „Man hat gesehen: Die Leistungen gingen einen Schritt zurück“, sagt Steffi Nerius. …
… „Ich glaube, dass wir nie einen sauberen Sport haben werden“, sagt sie heute. … Deshalb könne man auch niemandem trauen: der Konkurrenz ebenso wenig wie den Mannschaftskameraden. …
(Die Versuchung Doping, von Michael Reinsch, FAZ 28.12.2010)
… und das ist die Bilanz eines Bankers nach dem Banken-Crash:
„SPIEGEL-GESPRÄCH – „Geld braucht Gesetze“: Hilmar Kopper war einst der mächtigste Banker Deutschlands. Nun zieht der 76-Jährige Bilanz. Im Chaos der Märkte erkennt er drei historische Grundkonstanten – die guten Seiten der Menschheit gehören nicht dazu.
„Moral ist überall hinderlich, wo es um Wettbewerb und Erfolg geht“.“
Valentin Balachnitschew, früher Läufer und Trainer, ist seit 22 Jahren Präsident des russischen Leichtathletik-Verbandes:
„…. Steckt die russische Leichtathletik in einer Krise?
Die russische Leichtathletik steckt in Schwierigkeiten. Ich bin seit 22 Jahren ihr Präsident, und ich verschwende mein Leben, indem ich gegen diese Schwierigkeiten kämpfe.“
Welche Gründe gibt es zu dopen?
Gesellschaftliche. Es gibt ein niedriges Niveau von Moral und Bildung. Und es gibt hohe finanzielle Anreize. Die Mittel sind leicht zu besorgen. Das ist doch nicht nur in meinem Land ein Problem, dass alle Leute von Fairplay reden und sich nicht daran halten. Wir müssen Athleten zu Fairplay erziehen. Wir müssen die Moral des Sports ändern. Was bedeutet Fairplay? Es ist nur ein Image. Welches ist die Philosophie des existierenden Sports? Geld, Geld, Geld, Geld! Wir drängen die Athleten, wir drängen die Trainer, so etwas zu tun. Wir müssen da rauskommen. Wir brauchen eine Moral im Sport.
Wie wollen Sie das Geld rausnehmen?
Ich weiß, dass das nicht geht. Aber wir müssen darüber sprechen.
Glauben Sie, dass in reichen Ländern weniger gedopt wird? Oder dass reiche Athleten sauberer sind? In welchen Ländern and herrscht eine größere Moral: in armen oder reichen?
Ich kenne Russland. Ich besuche viele, viele Familien. Wenn ich Leute in kleinen Verhältnissen treffe, merke ich, dass sie ehrlicher sind.
(Geld Geld Geld Geld, FAZ 05.03.2013)
Sport und Doping gehören für jedes Kind heute untrennbar zusammen. Das trifft alle jene, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert politisch, ehrenamtlich, professionell Verantwortung für den Sport getragen haben.
Mit diesem Erbe muss die heutige Jugend zurechtkommen!
Hansjörg Kofink, 25.10.2014
27. September 2014
An alle, die den Wettkampfsport und sich selber noch ernst nehmen!
Eine kleine zufällige Auslese der letzten 8 Wochen über Sport!
Wo sind wir eigentlich? Reichen Doping und Korruption nicht?
Was sagen die Parteien, die Medaillenzähler und die Sportethiker (..noch immer nicht im Grundgesetz!…) dazu?
DSV schweigt im Missbrauchsfall, von Andrea Schültke, dradio, Beitrag vom 27.09.2014
Landestrainer mit Vorgeschichte, von Andrea Schültke, dradio, Beitrag vom 25.09.2014
Ich glaube, langsam reicht nicht nur das Material aus, es reicht überhaupt!
Nach Dopingfall Sachenbacher Stehle, sid 11.09.2014
DSV will „mehr schulen und beraten“
„Im Deutschen Skiverband hat nach dem Dopingfall von Biathletin Evi Sachenbacher-Stehle offenbar ein Umdenken eingesetzt.“
Handball Deutschland ein Pflegefall, FAZ 06.09.2014
Probleme einer Sportart
„Der Handball als ur-deutsche Sportart muss sich strecken – es geht um seine sportliche Bedeutung und um seine gesellschaftliche Relevanz. Helfen sollen dabei Events wie das Weltrekordspiel an diesem Samstag in Frankfurt.“
„Verlogene Szene“, SZ 11.10.2014, Doping in der Leichtathletik
Soll der Zuschauer für dumm verkauft werden?“, SZ 27.8.2014, Dopingfälle in der Leichtathletik
Rhythmische Sportgymnastik Beschimpfungen Hunger Schläge, FAZ 19.08.2014
Athens Olympiastätten von 2004 – Griechische Tragödie, FAZ 13.08.2014
Kommunikation über Doping – Täuschung der Öffentlichkeit, NZZ 25.07.2014, Walter Aeschimann
Christophe Bassons, der Geächtete „Die Mentalität hat sich nicht verändert“, NZZ 26.07.2014
„Null Toleranz“ für die hässliche Seite des Sports, nordbayern.de 20.07.2014
„Deutschland stehe in Sachen Doping vor einem Scheideweg zwischen Integrität und Erfolgsstreben, fasste der Referent zusammen. Einer der Treuchtlinger Studenten schlug deshalb einen Mittelweg vor: Dopingsubstanzen zumindest teilweise freizugeben. Dann müsste man – wie in der Formel 1 – eine Doppelwertung einführen und analog zu Fahrer und Automarke Athlet und Pharmaerzeugnis prämieren, hielt Steiner dem ironisch entgegen. Stattdessen beharrte er auf einem „Null-Toleranz-Bewusstsein“. Doping sei „die hässliche Seite des Sports“, betonte er. Ihr sei am besten mit einer Kombination aus Prävention und Nachsorge beizukommen. Die Praxis der „Verbeamtung von Spitzensportlern“ habe sich dabei durchaus bewährt.“
ohne Worte!
Hansjörg Kofink, 28.9.2014
25. September 2014
Ein weiterer, anderer Versuch, das Nachdenken über unsere gegenwärtige Wirklichkeit des deutschen, vom Staat bezahlten Leistungssport anzustoßen.
Mit der ersten Olympiateilnahme nach dem Zweiten Weltkrieg 1952 repräsentierte Deutschland erstmals nach 1936 wieder; das brauchte den Ausschluss des anderen Deutschlands.
(Hochinteressant ist in diesem Zusammenhang die schon 1949 erfolgte und geheime Gründung des NOK für Deutschland durch eine ganze Anzahl alter Kameraden.
Kaum bekannt ist auch, dass die neu gegründete Deutsche Olympische Gesellschaft DOG (Georg von Opel!) die Kosten für deutsche Olympiateilnehmer einwerben wollte, was umgehend verhindert wurde.)
Die Teilnahme an Olympischen Spielen hat aus Kosten- und vor allem aus protokollarischen Gründen die Zusammenarbeit von Sport und Staat erzwungen. Ende der 60er Jahre wurde aus dem BMI die Forderung an den Sport herangetragen, die Durchführung der OLympischen Spiele in München zurückzugeben. Ausschlaggebend dafür war die Furcht vor dem protokollarischen Umgang mit dem Staat der DDR.
Die 1950 verabredete bona-fide-Finanzierung der Sportorganisationen durch den Staat wurde durch die Olympiafinanzierung überdehnt. Inzwischen bestimmt der Staat, wer an internationalen Meisterschaften und OS teilnimmt.
Das Kriterium „Endkampfchance“ entmündigt jeden Spitzenfachverband bei der Auswahl seiner Teilnehmer. Es verhindert auch eine Gleichbehandlung der Fachverbände.
Wenn das kein Staatssport ist!
Der folgende Text aus Unterlagen von 2013 ist ein Beleg für deutsche Sportgeschichte en famille.
Deutsche Sportgeschichte – ganz familiär
Die autonome deutsche Sportbewegung kommt ins Rentenalter. Erfahrungen dreier Generationen im Wettkampfsport dieses deutschen Sports vom Anfang bis heute:
Im April 2013 stellten die Wolfsburger Nachrichten Die sportlichste Familie der Stadt (1) vor – die Knipphals: Christel Knipphals (79) als Leichtathletin mehrfache Niedersachsen- und Norddeutsche Meisterin in den 50er Jahren. Ihr Mann, der ehemalige Handball-Nationaltorwart Hansjürgen Knipphals (83), wurde mit den Wolfsburger Handballern 1963 Deutscher Meister im Feldhandball. Sie sind echtes VfL-Urgestein, hochgeehrt und geachtet, aus der Vereinsgeschichte nicht wegzudenken.
Der Sohn Jens Knipphals (54), ehemaliger Weitspringer wurde 1979 und 1980 Deutscher Meister. Bei der Leichtathletik-EM in der Halle 1983 in Budapest gewann er Bronze und hält seit 33 Jahren den Vereinsrekord im Weitsprung mit 8,14 Meter, die er 1980 in Berlin sprang. Seine Teilnahme an den Olympischen Spielen in Moskau 1980 verhinderte der damalige Boykott.
Im August meldete sich der heutige Wolfsburger Zahnarzt mit dem Artikel, Ich habe nie gedopt, und fühle mich verdächtigt in der Zeit (2): „Ohne Doping hatte ich als Deutscher Meister keine Chance auf die Weltspitze. Jetzt stehe ich trotzdem unter Generalverdacht. Wie viele saubere Sportler heute.“ Es waren jene Tage, in denen die Doping-Studie hohe Wellen in der gesamten Medienwelt schlug.
Und im Dezember erläuterte Enkel Sven Knipphals (27), einer der besten deutschen Sprinter von heute, der FAZ in einem bemerkenswerten Interview, wie er mit dem Spitzensport in seinem Leben zurechtkommt: Zum Betteln bin ich eigentlich zu stolz. (3)
Mit wenig auszukommen, gehört zum Alltag vieler deutscher Spitzensportler. „Ich habe bei einem anderen Hersteller nachgefragt, ob ich dort Unterstützung erhalte. Mein Trainer und ich haben mehr als einen Monat verhandelt. Am Ende wurde uns wieder mitgeteilt, dass das Budget nichts hergebe. Dabei wäre mir schon geholfen, wenn ich neben der Ausrüstung monatlich vielleicht 500 Euro bekommen würde. Nur zum Vergleich: Tyson Gay hat von seinem Sportartikelhersteller pro Jahr ungefähr 700.000 Euro bekommen, ehe er des Dopings überführt worden ist. Mir ist natürlich auch klar, dass die Unternehmen wirtschaftliche Interessen verfolgen, dass ein Gay mehr Leute packt als ich. Aber diese Unternehmen schmücken sich nur allzu gern mit sauberem Sport, da muss man sich halt überlegen, was glaubwürdiger ist. Und es passiert ja regelmäßig, dass jemand erwischt wird. Allerdings kann ich nicht erkennen, dass die Sportartikelhersteller daraus irgendwelche Konsequenzen ziehen.…
… Derzeit bin ich über 100 Meter Dreizehnter in der ewigen deutschen Bestenliste, das bedeutet, dass in der Geschichte nur zwölf andere deutsche Sprinter schneller gewesen sind. Da sollte jeder sehen, dass da nicht mehr so viel rauszuholen ist. Aber gerade in der Staffel haben wir oft bewiesen, dass wir vorne mitlaufen können. Und was sagt der Hersteller dazu? Die Staffel interessiert uns nicht!“ (3)
Im August dieses Jahres 2014 wurde Sven Knipphals mit seinen Staffelkameraden Vize-Europameister.
Hansjörg Kofink, 25.9.2014
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(1) Die sportlichste Familie der Stadt, Wolfsburger Nachrichten 15.04.2013
(2) Leichtathletik: Ich habe nie gedopt, und fühle mich verdächtigt, zeitonline 22. August 2013
(3) Sprinter Sven Knipphals – Zum Betteln bin ich eigentlich zu stolz, FAZ 16.12.2013
21. August 2014
Botschaft per Siegerehrung?
Die wohl spektakulärste Message per Siegerehrung dürfte der Black Power Salute der 200-Sprinter bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko gewesen sein.
Auch eine Botschaft, vor allem an die Offiziellen der Leichtathletik-EM im Züricher Letzigrund, war das Abrücken des neuen Europameisters über 3000m Hindernis Yoann Kowal vom drittplatzierten Spanier Ángel Mullera nach der Ehrung; der spanische Verband hatte Protest wegen der wenig sportlichen barbusigen Jubelpose des eigentlichen Siegers Mahiedine Mekhissi-Benabbad eingelegt.
Was aber ist die Botschaft, wenn Werner Günthör(* 1. Juni 1961) den Kugelstoßerinnen um Christina Schwanitz die EM-Medaillen 2014 überreicht? Die ZDF-Sprecher stellte ihn als Weltklasse-Kugelstoßer aus den 80er Jahren vor (1).
Günthör (BL 22,75/1988), Fünfter(!) der ewigen Weltrangliste, dreimaliger Weltmeister (1987, 1991, 1993) Europameister (1986) und Bronzemedaillengewinner in Seoul (1988) war Anlass und ein wesentliches Thema der im September 1992 durch die informelle Arbeitsgruppe „Sport Schweiz“ eingesetzten Doping-Untersuchungskommission. Nach Ansicht der drei Mitglieder der DUK, Prof. Dr. med. Max Hess, Bern (Vorsitz), Dr. jur. Hans Bodmer, Zürich und PD Dr. Med. Gérald Theintz, Genf, verstieß die „therapeutische“ Verabreichung von Anabolika vor 1989 gegen die damals gültigen nationalen und internationalen Bestimmungen, da diese keinerlei Ausnahmegenehmigungen hinsichtlich der Verabreichung der verbotenen Substanzen vorsahen. Dr. Segesser, Günthörs Arzt, hatte in den Jahren 1984 bis 1988 drei- bis viermal Anabolika-Behandlungen verordnet.
Günthör arbeitet heute zu 50% beim Bundesamt für Sport (BASPO) und berät Spitzensportler beim Training oder in der Laufbahnplanung, so auch Valerie Adams (NZ), die derzeit weltbeste Kugelstoßerin.
Christina Schwanitz (* 24. Dezember 1985) (BL 20,41/2013), Fünfzigste(!) der ewigen Weltrangliste, forderte 2013 eine ‚lebenslange Sperre für alle Doping-Sünder‘ (SZ 25.05.2013).
Im Juni 2013 beim Diamond-League-Meeting gewann sie das Kugelstoßen mit 20,10m vor ihrer Teamkollegin Nadine Kleinert (18,17) in einem Wettkampf, bei dem nur fünf der geforderten acht Teilnehmerinnen antraten – Fünfte Kristin Sundsteigen (NOR) mit 14,48m. Die beiden Deutschen rügten die Veranstalter wegen der dürftigen Besetzung des Wettkampfes: Das ist ein Armutszeugnis. FAZ-Kommentar „Ausgekugelt“: Wenn keiner mehr Kugelstoßen Frauen sehen will, wollen irgendwann auch keine Frauen mehr Kugeln stoßen. (14.06.2013)
„Ohne Bundeswehr bekäme ich Hartz IV“ ließ sich Schwanitz im April 2014 vernehmen (2). Im Monat zuvor diskutierte sie ihre Situation im Deutschlandfunk unter dem Thema Druck, Doping, Depressionen mit Kollegen unter dem Eindruck der Studie der Sporthilfe.
Christinas Weg im Spitzensport wurde Ende 2009, als sie ihren Heimatverein Neckarsulm verließ, in der Regionalpresse ausführlich beleuchtet (3). Daraus lässt sich Exemplarisches für die Situation des Spitzensports in der deutschen Leichtathletik ablesen.
Was war die Botschaft dieser Siegerehrung? Kann man Zukunft schaffen, wenn man Vergangenheit ausblendet? Die Rekorde der 80er Jahre werden immer von dieser Vergangenheit berichten.
In Deutschland liegen die Ergebnisse von ‚Doping-Studien‘ auf dem Tisch, die Sportinstitution und Staat als die entscheidend Verantwortlichen für den Doping-Betrug nach dem Zweiten Weltkrieg in unserem Land ausgemacht haben. Bis heute gibt es keine Reaktion der beiden Verantwortlichen.
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5. August 2014
Manchmal
braucht es einen kleinen Anstoß, um Bekanntes in neuem Licht erscheinen zu lassen. Das Vergehen von Zeit etwa, das Abtauchen in die Historie.
Die Frankfurter Rundschau erinnert im aktuellen Kalenderblatt für den 5. August 2014:
2013 – In einer vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft veröffentlichten Studie zum Doping in der Bundesrepublik Deutschland heißt es, bis 1960 seien im deutschen Sport Amphetamine «systematisch zum Einsatz gekommen».
Vor einem Jahr exakt schwappte ein Tsunami ‚Doping in Deutschland‘ in die bundesdeutsche Urlaubszeit, ausgelöst von zwei regionalen Zeitungen, die das monatelange Gezerfe über die Halbmillionen-Studie „Doping in Deutschland von 1950 bis heute aus historisch-soziologischer Sicht im Kontext ethischer Legitimation“ satt hatten und sich im Bundesarchiv selbst schlau machten.
Doping war drei Monate lang ein Thema wie einst zur Vereinigung Anfang der 90er Jahre.
Postwendend berief der DOSB eine Experten-Kommission ein, um wieder auf Kurs zu kommen. Sechs Experten unter dem kommissionserprobten Verfassungsrichter a.D. Steiner erstellten in fünf Sitzungen unter Anhörung weiterer Experten einen Bericht als Beratungsmaterial für den DOSB in der Causa ‚Dopingstudie‘.
Zu Beginn der Fußball-WM im Juni dieses Jahres ging das Ergebnis dieser Expertenarbeit, ein 74seitiger Bericht, in der Öffentlichkeit aus gegebenem Anlass etwas unter.
Wenn nun die FR ein Jahr nach dem Doping-Tsunami in Deutschland per Kalenderblatt an eine klitzekleine Kleinigkeit aus einer vom BISp veröffentlichten ‚Doping-Studie‘ erinnert, dann wird sonnenklar, dass ‚Doping in Deutschland‘, dass die ganze Halbmillionen-Studie Geschichte, Vergangenheit sind. Alles ist abgelegt im Aktenschrank der Sportgeschichte.
Ist auch besser so, denn welchen Honig will der DOSB aus solchen Kernsätzen des Kommissionsbericht saugen?
… „Will der DOSB „strukturelle Lösungen“ des Dopingproblems anstreben, und zwar ungeachtet dessen, dass das Problem im eigentlichen Sinne nicht lösbar ist, so scheint ein soziologischer Blick auf die aktuellen Gegebenheiten des Spitzensports nicht nur hilfreich, sondern unabdingbar.“ …
… „Als ein zentrales Segment dieser strukturellen Bedingungen ist zunächst das System des Spitzensports selbst zu nennen. Denn der Spitzensport ist gekennzeichnet durch den Code Sieg/Niederlage. Wer sich in diesem System befindet, unterwirft sich dieser Handlungslogik, will gewinnen und möglichst nicht verlieren. Dabei ist der Zweite immer schon der erste Verlierer.“…
Dopingprävention? Offensive für olympische Erziehung? War da nicht – ein Staatsziel Sport?
… Der Spitzensport hat Vorbildwirkung hinsichtlich des Leistungsgedankens und vermittelt einen positiven Elitebegriff. Erfolgreiche Athleten und Athletinnen begeistern, motivieren und tragen durch ihre Repräsentanzfunktion zu einem positiven Bild von Deutschland bei. …
Die Frankfurter Rundschau liegt mit ihrem Kalenderblatt vom 5. August 2014 schon richtig.
Hansjörg Kofink, 5.8.14
23. Februar 2014
Olympia – ein deutsches Desaster ?
So titelt die FAS, allerdings ohne Fragezeichen. Warum eigentlich, und warum nicht ein Desaster für die Bundeswehr, schließlich sind unter den 153 deutschen Sportlern in Sotchi 75 Sportsoldatinnen und Soldaten?
Das zielt unmittelbar auf die zentrale Frage, wieviel Staat, wieviel Bundesrepublik Deutschland stecken im deutschen Hochleistungssport? Sind Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften Angelegenheit des Staates?
Der deutsche Staat bezahlt den Hochleistungssport. Und die Bezahlung erfolgt nach Leistung: Geld für Medaillen. Die Vereinbarungen dazu zwischen der autonomen Sportinstitution und dem Bundesministerium des Innern waren bis vor kurzem geheim. Durch richterliches Urteil öffentlich geworden sind sie nun auch nach Sotchi eine Lachnummer. Sport und Staat legen für die Geldleistungen nach der Prognose eine „sportliche“ Bilanz vor, die keiner Prüfung standhält. Und der Steuerzahler zahlt.
Wer ist für dieses Desaster verantwortlich?
Seit 1952, den ersten Olympischen Spielen, an denen die Bundesrepublik Deutschland wieder teilnehmen durfte – im Gegensatz zur DDR – bezahlt der Staat die Teilnahme an solchen Veranstaltungen. Der Partner im Sport war damals das Nationale Olympische Komitee für Deutschland, das 2006 in den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) eingegliedert wurde. Die Zusammenarbeit mit den Verbänden und dem zuständigen Bundesministerium oblag seit dem 28. Januar 1965, dem Tag der Gründung des „Bundesausschusses zur Förderung des Leistungssports“, dem Deutschen Sportbund.
Das Geld kam vom Staat, der Sport war über seine Gremien verantwortlich für die Entsendungen.
Diese Konstellation wurde ab 1956, dem Beginn der „gemeinsamen“ deutschen Mannschaften bei Weltsportereignissen, noch mehr ab 1966 als München vom IOC zum Austragungsort der OS 1972 gewählt worden war, mit dem ‚Kalten Krieg‘ konfrontiert. Dem staatlichen Auftrag der DDR, durch sportliche Höchstleistung der Welt die Überlegenheit des sozialistischen Systems zu demonstrieren, sahen sich Staat und Sport in der BRD ideenlos ausgesetzt. Deswegen ließen sie sich darauf ein.
Was daraus wurde, belegt trotz wissenschaftlicher Bearbeitung das bis heute offene Kapitel ‚Doping in Deutschland‘. Die Vereinigung des deutschen Sports 1990 war auch eine Vereinigung von Doping Ost und Doping West. Doping in der Bundesrepublik wurde lange als Einzeltäterphänomen abgetan. Die einzigartige Möglichkeit am Ende des ‚Kalten Krieges‘ mit der gemeinsamen Dopingvergangenheit zu brechen, wurde aus Scham und Furcht vor der Vergangenheit und aus Gier nach zukünftigen Erfolgen, die sich im Sport immer mehr finanziell auszahlten, schmählich vertan.
Die autonome Sportorganisation und eine zunehmend an Sporterfolgen partizipierende Politik setzten die Dopinggeschichte des deutschen Sports mit spektakulären Fällen fort.
Was bewegt die Politik der Bundesrepublik Deutschland in Sporterfolgen eigene Erfolge zu sehen? Verbessern Olympiasieger und Weltmeisterinnen die Situation des deutschen Staates? Seit Doping und Spitzensport wie Topf und Deckel aufeinanderpassen, ist Glaubwürdigkeit und Vorbildwirkung weg. Die Nachwuchszahlen im deutschen Sport zeigen das deutlich.
Wenn deutsche Politiker der Meinung sind, dass herausragende Leistungen deutscher Sportler eine Präsentation unseres Staates sind, müssten sie sich auch Gedanken zur Zukunft dieser Repräsentanten nach dem Sport machen. Sind Bundeswehr, Polizei und Zoll die Perspektiven, die den Spitzensport repräsentieren. Ist für die Darstellung unseres Landes nicht das Auswärtige Amt zuständig? Was spricht gegen eintausend Stellen beim AA, die gleichzeitig mit Ausbildungen verbunden sind, die nach der aktiven Zeit vielfältige berufliche Möglichkeiten zulassen? Würden solche Stellen und ihre Perspektiven sowohl die Inhaber wie auch den Arbeitgeber nicht politisch überzeugender legitimieren für die Darstellung des deutschen Hochleistungssports in der Welt als das wenig schmeichelhafte ‚Beamtensportler‘, das uns unsere Nachbarn verpassten?
Kann die Riesenorganisation des DOSB, die föderal und nach Sportarten auf mehreren Ebenen organisiert ist und die im Wettkampfbereich von der Kreisklasse bis zur Weltklasse mit dem gleichen Instrumentarium, aber für jede Sportart unterschiedlich agiert, dafür garantieren, dass sportliche Vergleichbarkeit herrscht? Wer entscheidet Akkreditierungen von Heimtrainern, Ehemännern, Mentaltrainern und sonstigem Personal?
Braucht die Nachwuchsarbeit für den Spitzensport eine breite Basis oder Eliteschulen des Sports (EdS)? Letztere sind in der BRD sehr ungleich verteilt. Ihre Finanzierung (Länderfinanzausgleich!) und die der Olympiastützpunkte sind Mischfinanzierungen. Von wem und nach welchen Kriterien werden dort Konflikte der autonomen Fachverbände austariert? Wie geht man mit wissenschaftlicher Kritik an den EdS um?
Es gab dort positive Dopingfälle in den letzten Jahren, von denen auch Minderjährige betroffen waren. Wer ist zuständig, der Fachverband, der DOSB und/oder das Kultusministerium?
Es ist hohe Zeit, dass die autonome Sportorganisation auf allen Ebenen ihrer hohen Verantwortung nachkommt. Denn es gibt nicht nur den Spitzensport, dessen Renommee, nicht zuletzt seiner sich selbst kontrollierenden Funktionäre wegen, erheblich gelitten hat. Vielfalt und Breite brauchen Ehrenamt und Geld, Spitzensport braucht Geld, doch Ehre tut auch ihm gut.
Vor über 40 Jahren war ich als Schul-Verbandsvertreter daran beteiligt, dass aus den schulischen Leibesübungen Schulsport wurde. Damals erhofften wir uns durch München 72 einen Schub für dieses Fach. Die Entwicklung bis heute, vor allem meine ‚Lehrzeit‘ als Bundestrainer Kugelstoßen Frauen für München 1972, lassen mich heute diese Entscheidung bedauern.
Der Schulsport leidet, der Spitzensport betrügt sich und sein Umfeld und die Politik hilft mit.
Hansjörg Kofink, 23. Februar 2014
Januar 2014
Generalverdacht – WARUM?
Es gibt heute in Deutschland einige Tausend Spitzenathlet(inn)en in Ost und West, die zwischen 1960 und 1990 nicht gedopt haben und vielleicht deshalb nicht im Rampenlicht standen. Aber auch sie stehen heute unter Generalverdacht wie der gesamte Hochleistungssport insgesamt. [1]
Gedopt haben seit 1960 wahrscheinlich viele Tausende von Spitzensportlern in beiden Deutschlands. Dazu bekannt haben sich nur wenige; wenn man das Doping-fordernde oder –unterstützende Umfeld hinzunimmt, dann sind es wahrscheinlich weit über 10.000, die Insider waren. Sie sind heute, zwischen 90 und 40 Jahre alt, geachtete Bürger der Bundesrepublik, die Anteil an diesem Staat haben und seinen Weg mitbestimmen: Wie gehen sie mit ihrer Dopingvergangenheit um? Kann man ideellen Betrug aussitzen? Verjährt er?
Was sagen wir jungen Athlet(inn)en, die heute im Wettkampf stehen und gewinnen wollen? Sie verdanken den Generalverdacht ihres Sports dem Betrug ihrer „erfolgreichen“ Kolleg(inn)en der letzten 50 Jahre und ihrem Umfeld, den verantwortlichen Funktionären, Ärzten und Politikern, aber auch Eltern.
Generalverdacht entsteht immer dann, wenn Vergangenheit nicht bewältigt sondern vertuscht wird. Er trifft alle, Athleten, Funktionäre, den Wettkampfsport, aber auch die Politik und eine Ärzteschaft, die ‚Substitution‘ und das ‚Therapiefenster‘ als Beitrag zur Dopingbekämpfung ins Spiel gebracht hat. Sie trifft den gesamten Hochleistungssport der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
Ist der Unterschied zwischen unterstützenden Mitteln (= u.M.) und Substitution nur ein sprachlicher?
Das bis heute gültige Auswahlkriterium ‚Endkampfchance‘ für die deutsche Beschickung von internationalen Meisterschaften ist kein sportliches sondern ein politisches Wettkampfkriterium, von dem die staatliche Förderung abhängt. Eine staatliche Förderung und Bezuschussung unter dieser Prämisse ermuntert Athlet(inn)en zum Betrug, zu Doping. Sie macht aus Sportärzten Komplizen, nimmt Sportverbänden ihre Autonomie und missbraucht den Hochleistungssport als staatliches Repräsentationsprodukt:
Wäre es da nicht kostengünstiger und effizienter, der Staat übernähme und überwachte den Hochleistungssport, d.h. die Spitzenathlet(inn)en, das notwendige Umfeld mit Training, Medizin und Planung, die gegenwärtige und die spätere (Alters)Versorgung dieser gesamten Institution ebenso wie ihren Auf- und Ausbau. Die Umwege über Fachverbände, Dachverbände, NOK, Sporthilfe entfielen, ebenso wie Pseudostellen bei Bundeswehr, Polizei und Zoll?
… Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der bundesdeutsche Sport kaum adäquat auf die hier untersuchten Dopingskandale reagiert hat. In den 1950er- und 60er-Jahren geht diese unzureichende Bearbeitung des Dopingproblems auf Fehleinschätzungen über die Gefährlichkeit von Doping (für Sportler und das Sportsystem), die geringe Eignung moralischer Appelle und Empfehlungen zurück. Mit dem Ausbau des Spitzensports in der Bundesrepublik, der nur dank eines erheblichen staatlichen Engagements möglich war, nahm und nimmt die Auseinandersetzung mit dem Dopingproblem zunehmend scheinheilige Züge an. Einer sportpädagogisch und philosophisch überhöhten Gesinnungsrhetorik steht die Nicht-Sanktionierung von Fehlverhalten und die Duldung belasteter Akteure gegenüber. Offenbar hat der Ausbau des leistungssportlichen Systems in der Bundesrepublik eine Entfesselung von Leistungs- und Siegesorientierungen zur Folge, um die politischen Erwartungen an den Hochleistungssport befriedigen zu können. [2] …
Lässt diese kritische Zusammenfassung der Halbmillionen-Studie einen anderen Schluss zu?
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[1] Leichtathletik: Ich habe nie gedopt, und fühle mich verdächtigt zeitonline 22. August 2013
[2] Dopingskandale in der alten Bundesrepublik, Öffentlicher Diskurs und sportpolitische Reaktionen. bpb 30.05.12, Deutschland-Archiv
6. Januar 2014
Zum neuen Jahr, Helmut Digel
„Verlorener Kampf“ (1) bilanziert einmal wieder Sporterfahrungen des letzten halben Jahrhunderts. DIE WELT zum Jahreswechsel:
„Deutschlands größter Mahner kapituliert im Antidopingkampf“
Es lohnt sich, die Stationen des Antidopingkämpfers Digel näher zu betrachten. Helmut Digel hatte das Privileg die Dopingprobleme des (west)deutschen Sports nicht nur aus der Presse zu erfahren.
Als Mitglied und Zuarbeiter der DSB-Kommission, die nach den OS 1976 eingerichtet worden war, um die durch die ‚Kolbespritze‘ und ‚aufgeblasene Därme‘ aufgeschreckte Öffentlichkeit zu beruhigen, erfuhr er aus erster Hand und „vertraulich“ wie bereits damals die Dopingszene der BRD aussah.
„1976 war ich geschockt von dem, was in manchen Sportarten üblich war. Gravierend war es im Gewichtheben, im Schwimmen, in der Leichtathletik und im Radsport. Für die Leichtathletik fanden wir immer mehr Zeugen, die von Doping bis in Leistungsklassen berichteten, in denen man nicht einmal an deutschen Meisterschaften teilnahm.“ (FAZ 21.11.2012)
Vor 1976 hat er nach eigenen Aussagen davon nichts wahrgenommen. Bild vom 2. Juni 1976:
Mit diesem Wissen war er zur Zeit der Vereinigung eine der Lichtgestalten des deutschen Sports. Das belegen viele seiner Presseartikel,
„…Wer heute zu Gericht sitzt über Funktionäre und Athleten der ehemaligen DDR, der müßte zunächst über seine eigene Vergangenheit nachdenken. Wenn der Vorsitzende der unabhängigen Doping-Kommission einen Rücktritt in dreistelliger Zahl fordert, so müßte er sich dessen klar sein, daß jene, die ihn selbst eingesetzt haben, damit zum Rücktritt aufgefordert sind. Das Innenministerium war in diese Sachverhalte ebenso verquickt wie die Spitzenfachverbände, der Deutsche Sportbund, dessen BA-L und natürlich auch das NOK. …“ („Doping: Alle Verantwortlichen sollen öffentlich Schuld bekennen“ ,StZ vom 16. Juli 1991).
aber auch ein satirisch-bissiger Essays aus dem Jahr 1992:
…wenn das Prinzip „Leistung“ nicht mehr zum Tragen kommt
…Ehrenamtliches Führungshandeln im Sport gleicht somit eher einem Schlittern auf dem Eis. Ein fester Grund ist nicht auszumachen. Perspektiven der Sportentwicklung existieren nicht, Zieldiskussionen finden nicht statt: Reagieren anstelle von Agieren, Vertagen anstelle von Entscheiden, Proporz anstelle von fachlicher Qualifikation, Nepotismus anstelle von Leistungsprinzip, Kumpanei
anstelle von Distanz. Die Gegensatzpaare könnten fortgeführt werden. An der bilanzierten Bewertung der aktuellen Situation des Sports wird sich dabei vermutlich in nächster Zukunft kaum etwas ändern: Mit Blick auf die ehrenamtlichen Sportfunktionäre in den Dachorganisationen ist es deshalb um die Zukunft des deutschen Sports derzeit nicht gut bestellt. …(Römische Zeiten, 1992)
Mit diesen Voraussetzungen war er prädestiniert dem wiedervereinten Sport neue Orientierung zugeben, was augenblicklich in Buchform geschah:
„Unerschrockene Streiter wider die wüsten Manipulationen im Spitzensport haben sich nun hinter einem Buch wiedergefunden: Wettkampfsport – Wege zu einer besseren Praxis. Die Autoren verstehen es offenbar als eine Anti-Berendonk-Bibel. Herausgegeben hat es der Darmstädter Ordinarius Helmut Digel, … (StZ 25.9.1991)
Dass ausgerechnet dieses Buch die einzige 80m-Speerwerferin der Welt zierte, Petra Felke, war die Schuld des Verlags: er besaß die Rechte für dieses Bild!
Dass ein „neuer Hochleistungssport auf ethischer Grundlage“ machbar sei, war Digels Credo, und das machte ihn zum neuen Medienstar der Sportwissenschaft.
1993 ließ er sich als Newcomer ohne Stallgeruch zum Präsidenten des auf dem Tiefstand seiner Geschichte angekommenen Deutschen Leichtathletikverbandes wählen, ein „sozialer Aufsteiger, und das sind wohl die meisten Sportfunktionäre (für mich trifft dies zumindest zu), wie er in den Römischen Zeiten schreibt.
„Was treibt diesen Menschen zu solch scheinbar unsinniger Tat, wenn es nicht nur Karriere, der unaufhaltsame soziale Aufstieg ist?“ Kommentar von Josef-Otto Freudenreich, einem der kritischsten Sportjournalisten jener Tage (StZ ‚Der geschmeidige Rebell‘ 26.4.93)!
Bereits im Juli gab der neue DLV-Präsident der Zeitschrift ‚Die Woche’ (8.7.93) ein Interview über Medien, Spitzensportfunktionäre und Doping. Zuvor hatte er ernsthaft erwogen, sich zusätzlich um die Nachfolge Hans Hansens als DSB-Präsident zu bewerben. Zitate daraus:
> Wir hatten seit 1976 latentes Wissen über Dopingverstöße.
> Spätestens seit dem Tod von Birgit Dressel hätte man handeln müssen.
> Offen über Doping zu reden, war erst nach der Vereinigung möglich.
> Es war doch so, dass ein ehemaliger DDR-Trainer bei der Einstellung unterschreiben musste, dass er nie unerlaubte Mittel weitergegeben oder angeordnet hat. Wollte er den Job haben, war er gezwungen zu lügen, und wir wussten das. Unter diesen Bedingungen war Aufklärung nicht mehr möglich.
In der Rolle des pragmatischen Spitzenfunktionärs – auch von Eitelkeit ist in diesem beachtlichen Interview die Rede – versuchte Digel die Vergangenheit des deutschen Spitzensports mit seiner Zukunft zu verbinden. – Mit diesen Folgen:
Bei den EM 1998 in Budapest ließen sich die Athleten Stephane Franke und Damian Kallabis von DLV-Ärzten den Blutplasma-Expander HES spritzen lassen. Dabei kam heraus, dass Franke sich bereits bei der WM 1995 in Göteborg HES vom damaligen DLV-Chefarzt Prof. Kindermann spritzen ließ.
Obwohl damals nicht verboten stand ein Verfahren wegen Medikamentenmissbrauchs im DLV-Präsidium zur Diskussion. HES ist ein wichtiges Mittel, um die Fließeigenschaften des Blutes zu verbessern; natürlich auch beim Gebrauch von EPO.
Am 31. Juli 1998 schrieb DLV-Präsident Digel einen Artikel in der FAZ zur Festina-Affäre bei der Tour de France über den Einsatz der französischen Polizei.
„…In Deutschland wäre dies derzeit wohl nicht denkbar. Ansonsten war und ist alles bekannt gewesen: Anabolikadoping, Blutdoping, Epo-Doping. Im Radsport, und nicht nur in dieser olympischen Sportart, haben einige Funktionäre viele Jahre großzügig darüber hinweg gesehen. … ! (FAZ 31. Juli 1998 ‚Das Ärgerlichste ist die hoffnungslose Suche nach Opfern und Tätern‘)
Wer könnte auf die Idee kommen, dass HES beim DLV und EPO bei der Tour de France etwas miteinander zu tun haben könnten? Honni soit qui mal y pense!
Die Wiedereinstellung von Skandaltrainer Thomas Springstein (sid) 1999, die nur zufällig öffentlich wurde und offenbar auf einstimmigem Beschluss des DLV-Präsidiums beruhte, nahm keine Kenntnis von der Vernehmung der ehemaligen Sprinterin Frauke Tuttas 1997. Sie gab der Berliner Staatsanwaltschaft zu Protokoll, dass sie als Sechzehnjährige von Springstein mit Oral-Turinabol gedopt worden sei, ein Vorgang, der nicht nur sportrechtlich und auch in der DDR strafbar war.
Alle Präsidentenwechsel im Deutschen Leichtathletik Verband seit 1989 haben immer mit Doping zu tun gehabt.
Eberhard Munzert wurde 1988 aus dem Amt gemobbt, weil er Konsequenzen aus dem tödlichen Dopingfall Birgit Dressel einforderte und durchsetzte.
Sein Nachfolger, der langjährige BAL-Chef Helmut Meyer – ‚Leistungs-Meyer‘ – stolperte über den ersten spektakulären Dopingfall nach der Vereinigung Thomas Springstein mit seinen Sprinterinnen, einmal mit identischen Urinproben und zum anderen mit dem Kälbermastmittel Clenbuterol.
Helmut Digel, der staatsanwaltliche Protokolle aus dem ZERV-Prozess ignorierte und deshalb 1999 Springstein ‚resozialisierte‘, verfing sich noch im gleichen Jahr in der Zahnpasta-Affäre des Dieter Baumann.
Clemens Prokop erlebte 2002 Thomas Springstein zunächst als ‚Trainer des Jahres‘, dann 2006 als geständigen Minderjährigen-Doper, weil damit alle weitergehenden Untersuchungen entfielen, so der Deal mit dem Amtsgericht Magdeburg. Prokop sah in dem ihm seit 2004 bekannten ‚Fall Elbe‘ keine Möglichkeit für ein eigenes sportrechtliches Vorgehen: „Die Verfahrensherrschaft liegt bei den Justizbehörden. Wir können jetzt nur abwarten, wie sich die Beweislage entwickelt.“
20. März 2006 Das Amtsgericht Magdeburg hat den Leichtathletiktrainer Thomas Springstein wegen Dopings der minderjährigen Hürdensprinterin Anne-Kathrin Elbe am Montag zu einem Jahr und vier Monaten Haft verurteilt. Die Strafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Oberstaatsanwalt Wolfram Klein hatte, bevor er auf eine Haftstrafe von 18 Monaten plädierte, die Einstellung des Verfahrens in sieben weiteren Fällen beantragt sowie die Einstellung von Ermittlungen in weiteren Dopingfällen versprochen.
Der Trainer werde lediglich für eine einzige Tat – die Weitergabe des Testosteronproduktes Andriol an die damals 16 Jahre alte Leichtathletin Anne-Kathrin Elbe im Trainingslager in Zinnowitz – belangt, sagte Anklagevertreter Klein. „Aber das ist die absolute Spitze eines Eisberges”, fuhr er fort. „Der Angeklagte ist im wahrsten Sinne des Wortes als Dopingmitteldealer aufgetreten, und zwar über einen längeren Zeitraum.” (FAZ, 21.3.2006
Die Geschichte des Dopingbetruges und des Antidopingkampfes hat Wissenschaft, Sportpolitik und die Organisation des ‚freien Sports’ in Deutschland nie interessiert, außer wenn es galt öffentlich gewordenes Ungemach zu beseitigen.
Hansjörg Kofink, Digel zum Siebzigsten, 6. Januar 2014
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(1) Helmut Digel, Verlorener Kampf, Dezember 2013