Hansjörg Kofink – Gedanken zum Sport
Hansjörg Kofink: Schulsport – Nachwuchsförderung für die Leistungsspitze? 1993
Der folgende Text von Hansjörg Kofink ist erschienen in: Olympisches Feuer 2/1993 S.14-19
Er wird ergänzt durch Gedanken von Hansjörg Kofink zu aktuellen Entwicklungen.
Es macht schon nachdenklich, wenn der langjährige Generalsekretär des Deutschen Sportbundes, Karlheinz Gieseler, in seinem Plädoyer für „Das Recht der Talente und die Pflicht zur optimalen Nachwuchsförderung“ (Olympisches Feuer 1/93) die von ihm als DSB-Funktionär mitgetragene Talentsuche und Talentförderung der alten Bundesrepublik als Zufallsgröße charakterisiert und ihr die Nachwuchsförderung der Ex-DDR – „natürlich entpolitisiert“ – als anzustrebendes Vorbild vorhält.
Gieseler stellt Fragen in seinem Artikel, die für Nachwuchsarbeit im Spitzensport wesentlich sind: „Wie viel Spitzensport die Gesellschaft wünscht, wie man ihn sich vorstellt und was die öffentlichen Hände dafür auszugeben bereit sind?“
Nur, diese Fragen werden nicht diskutiert und schon gar nicht beantwortet. Dafür kritisiert Gieseler namentlich drei Kultusminister, die sich kritisch zu Planspielen mit den politisch purgierten ehemaligen Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) äußern.
Gibt es zur optimalen Nachwuchsförderung für den Spitzensport in „unserer“ Gesellschaft einen Konsens, gibt es diesen Konsens wenigstens in der freien Sportbewegung? Ist diese Nachwuchsförderung Aufgabe des Staates, vor allem wenn sie, wie auch Gieseler ausdrücklich feststellt, einem „wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb“ zuarbeitet?
Begabtenförderung ist Verfassungsrecht in allen Länderverfassungen der Bundesrepublik. Das gilt selbstverständlich auch für den Schulsport. Begabtenförderung gerät aber immer dann in die Kritik, wenn die dazu notwendigen zusätzlichen Mittel auf den Prüfstand einer Sparpolitik geraten und zu Lasten der allgemeinen Bildungsaufgaben verrechnet werden. Im Augenblick ist das sicher der Fall. In solchen Zeiten ist Begabtenförderung vor allem auf private Initiativen angewiesen. Die Vielfalt des deutschen Privatschulwesens liefert hierfür in den unterschiedlichsten Bereichen der Begabtenförderung bemerkenswerte Beispiele. Aber auch in wirtschaftlich schlechten Zeiten ist das staatliche Schulwesen per Verfassung gefordert, der Begabungsvielfalt von Kindern und Jugendlichen in geeigneter Weise gerecht zu werden. Das gilt selbstverständlich für alle Arten von Begabungen. Deswegen gab es in der alten Bundesrepublik und gibt es heute in Deutschland eine Vielfalt von sportbetonten Zügen im allgemeinbildenden Schulwesen. Sportzüge an Haupt- und Realschulen gehören genauso dazu wie das Leistungsfach Sport und Abschlußprüfungen im Sport. Doch diese Begabtenförderung ist sicher noch nicht die Nachwuchsförderung, die sich der Spitzensport wünscht und die er seit nahezu dreißig Jahren dem staatlichen Schulwesen abverlangt.
Für eine unmittelbare Nachwuchsförderung des Spitzensports gibt es keinen Anspruch an das staatliche Schulwesen in unserer Staatsform, denn sie würde in die Unabhängigkeit von Bildung und Erziehung eingreifen. Doch das deutsche Schulwesen hat die Möglichkeit, zwischen freien Trägern und den Kultusverwaltungen Kooperation zu vereinbaren, wenn beide Seiten über die zu treffenden Maßnahmen Einvernehmen erzielen.
So kam es Ende der 60erJahre zu Vereinbarungen zwischen dem Deutschen Sportbund (DSB) und der Kultusministerkonferenz (KMK).
Der Deutsche Sportbund hat sich praktisch seit dem ersten Tag seines Bestehens, dem 10. Dezember 1950, um die Förderung des Schulsports bemüht, obwohl er keine unmittelbare Zuständigkeit für diesen Bereich besitzt.“ So leitet der damalige DSB-Abteilungsleiter Norbert Wolf seine „Dokumente zum Schulsport“ ein, eine Auflistung der „Bemühungen des Deutschen Sportbundes“ (1950-1974), die man auch aus heutiger Sicht gar nicht hoch genug einschätzen kann. Es war der DSB, der den sehr zurückhaltenden Kultusministern der Länder die Konsequenzen klarmachte, was es zu bedeuten hat, daß die „Leibeserziehung zum Bildungskatalog der Schule“ gehöre.
In der „Charta des deutschen Sports“ (1966) definiert der DSB seinen Standort:
„. . . Die Turn- und Sportbewegung sieht es als ihren Auftrag an, die schulische Leibeserziehung, den Breitensport und den Leistungssport – ausgehend von einer modernen Vorstellung vom Menschen – gleichgewichtig zu fördern und diesen Bestrebungen durch die Erkenntnisse der Wissenschaften fortschreitend neue Anregungen zu geben.“
Und im Blick auf die damals einsetzenden Bemühungen, „die Schulen des Bundesgebietes aus ihrer Passivität der Förderung des Leistungssports gegenüber herauslocken“ zu können – so formulierte damals Heinz Karger, stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Leichtathletikverbandes und der wohl wichtigste und erfolgreichste Vertreter für die Kooperation von Schulsport und Leistungssport – muß noch einmal aus der „Charta des deutschen Sports“ zitiert werden. Leistungssport wird dort so definiert:
„Sport und Spiel sind ohne den Willen zur Leistung, ohne Wettbewerb und Meisterschaft nicht denkbar. Höchstleistungen geben vielfältige Impulse; auch die Gesellschaft erwartet sie vom Sport.
Das Streben nach Leistung und Rekord greift heute tief in das Leben des Leistungssportlers ein wird zu einer charakterlichen Bewährungsprobe. Ob das darin liegende Wagnis bewältigt wird entscheidet über den Wert der sportlichen Leistung und über das Ansehen des Sports.“
Es war nicht nur die Vision eines gesellschaftlich erstrebenswerten Leistungssports mit „Höchstleistungen“, es war die aktuelle sportpolitische Situation, die 1968 in Mexico-City zum ersten Mal zwei deutsche Mannschaften beim Auftritt zu Olympischen Spielen erwartete. Ende der 60erJahre vereinbarten DSB und Kultusministerkonferenz jene „Richtlinien zur Talentsuche und Talentförderung“, die Gieseler in seinem Artikel als die „alten Leitlinien der Kultusministerkonferenz (KMK)“ abtut.
Was vor 25 Jahren der oben erwähnte Heinz Karger so resümierte , „….Der Überblick über die bis jetzt erkennbar gewordene Entwicklung läßt uns die Frage positiv beantworten, ob die Schule der Bundesrepublik uns bei der Talentsuche und Talentförderung helfen kann. Sie kann es, ohne zu Imitationen der Einrichtungen anderer Länder greifen zu müssen.“, das mag heute durchaus nicht mehr auf der Höhe der Zeit sein. Dann muß eben neu verhandelt und neu vereinbart werden. Einseitige Forderungen sind dabei fehl am Platze.
Doch neue Verhandlungen zwischen den Verantwortlichen des Schulsports und denen des Spitzensports werfen Fragen auf, Fragen, die nicht rhetorisch sind, die eindeutige Antworten verlangen.
Wo liegen Bildungswert, Identifikationsmöglichkeiten und Vorbildcharakter im Spitzensport heute?
Sind Manipulation der Leistung, Betrug am Wettkampfpartner, die totale Kommerzialisierung des Umfelds Leistungssport Bildungsziele für die „Handlungsfähigkeit im Sport“ von sportlich Hochbegabten?
Sind staatlich bezahlte Spitzentrainer mit nachgewiesener Doping-Vergangenheit die Gewähr für eine partnerschaftliche Kooperation mit dem staatlichen Schulwesen?
Bieten der Deutsche Leichtathletikverband (DLV) oder der Deutsche Schwimmverband (DSV) in ihrer derzeitigen Situation die Voraussetzungen für Vereinbarungen mit der KMK zur Nachwuchsförderung?
Sind Mitglieder im Nationalen Olympischen Komitee für Deutschland (NOK), deren Doping-Vergangenheit dokumentiert ist, die neuen Integrationsfiguren für Sportlichkeit und die olympische Idee der Zukunft?
Nein, die Schule steht derzeit nicht in der Pflicht für die Nachwuchsförderung im Leistungssport! Im Gegenteil: Die Institutionen des freien Sports stehen ohne Wenn und Aber in der Pflicht, das ramponierte Ansehen des Leistungssports, die ins Zwielicht geratene sportliche Leistung schlechthin durch Offenheit und vertrauensbildende Maßnahmen wieder zu einer „charakterlichen Bewährungsprobe“ zu machen, wie es die „Charta des deutschen Sports“ fordert.
Wer das nicht mehr für zeitgemäß hält, der muß sich nach entsprechend „zeitgemäßer“ Förderung des Nachwuchs-Spitzensports umsehen.
Wenn sportliche Leistung und der Leistungsvergleich unter sportlicher Chancengleichheit und Fairneß gegenüber dem Partner wieder erstrebenswerte Ziele für junge Menschen sein sollen, dann müssen die Verantwortlichen des freien Sports dafür wieder die Maßstäbe und die glaubwürdige Erfüllung dieser Maßstäbe garantieren.
In einem freiheitlichen Staat kann man Kinder und junge Menschen in der Schule nicht „vermessen, delegieren und ausdelegieren“ zum Zwecke eines zukünftigen „wirtschaftlichen Geschäftsbetriebs“ Spitzensport.
Vorbild, persönlicher Einsatz, der die Würde des jungen Menschen respektiert, sind unabdingbar, um Interessen zu wecken, die junge Menschen auch in Zukunft: wieder an den Leistungssport binden werden. Glaubwürdige Leitfiguren, gute Betreuung verlangen ein persönliches Engagement, das man weder durch Strukturen noch durch Geld erzwingen kann, Basis dafür sind Wertvorstellungen und Überzeugungen, denen sich die Sportbewegung in der Bundesrepublik selbst verpflichtet hat, die aber der Spitzensport bis hinein in die Olympischen Spiele in den letzten 25 Jahren zunehmend ausgehöhlt und damit zerstört hat.
In keinem anderen Land dieser Welt sind bereits weit über die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen Mitglied in einem Sportverein. Sie sind die Talente, auf die die Spitzenverbände warten. Nur, warten hilft nicht. Der Welt größte Sportorganisation muß mit den durchaus vorhandenen finanziellen und sächlichen Mitteln selbst etwas tun, um Kinder und Jugendliche für den sportlichen Wettkampf zu begeistern.
Es muß hier unmißverständlich gesagt werden, daß für die Nachwuchsförderung im deutschen Leistungssport heute und in der Zukunft die Kinder und Jugendsportschulen (KJS) der DDR niemals Vorbild sein dürfen. Die DDR hat sportliche Nachwuchsförderung – falls man das überhaupt so neutral bezeichnen darf – als staatliche Aufgabe betrieben und das mit letzter Konsequenz.
Leistungssport und sportliche Nachwuchsförderung sind in der Bundesrepublik Deutschland keine Aufgabe des Staates, auch dann nicht, wenn in diesem Bereich künftig in erster Linie wirtschaftliche Gesichtspunkte ausschlaggebend sein sollten. Auch die heute noch gültigen Strukturen des freien Sports, die Einheit des Sports im DSB, vertragen sich nicht mit solchen Vorstellungen.
Das sollten Spitzenfunktionäre des Sports eigentlich ebenso wissen wie Sportpolitiker aller Schattierungen.
Leistungssport in seiner ganzen Spannweite muß heute in Deutschland möglich sein, ohne daß die gültigen Strukturen von Sport und Staat verändert werden.
Verpflichtend für einen Leistungssport mit Zukunft sind die Einhaltung der selbstgewählten Regeln und die menschliche Würde auf dem Boden einer freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Entwicklungen: 2010 Eliteschulen des Deutschen Sports
Im Jahr 2010 gab es im Bundesland Brandenburg drei Eliteschulen des Sports, die dem oben zitierten Plädoyer von Karlheinz Gieseler aus dem Jahr 1993 auf Das Recht der Talente und die Pflicht zur optimalen Nachwuchsförderung weitgehend entsprechen. Der DOSB spricht von dem Brandenburger Modell (Begabtenförderung im Sport des Landes Brandenburg 2023)
Die Schulen sind in Cottbus, Potsdam und Frankfurt (Oder).
Die Eliteschulen basieren nach Albrecht Hummel, Prorektor und Inhaber der Professur für Sportpädagogik und -didaktik an der TU Chemnitz, auf dem Konzept bzw. dem wissenschaftlichen Grundsatz der Inklusion, das er am 24.11.2010 in der DOSB-Presse Optimale Verbindung von Schule und Leistungssport (s.a. DOSB-Presse, S. 21)
Hansjörg Kofink nimmt einen Artikel aus dem März-Heft 2011 der Zeitschrift ’sportunterricht‘ über Eliteschulen des Sports. Leistungssport als Unterrichtsfach? zum Anlass seine bereits 1993 formulierte grundsätzliche Kritik, aufzugreifen und weiter zu geben.
In einem Brief an die Redaktion der sportunterricht schreibt er am 5. März 2011 u. a.:
„… Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, dass ich die Entwicklung der sogenannten Eliteschulen des Sports (EdS) mit großer Skepsis verfolge. Meine Kontroverse mit dem kürzlich verstorbenen DSB-Generalsekretär Gieseler im „Olympischen Feuer“ (JAN und FEB 1993) belegen das.
Bei aller Offenheit gegenüber Entwicklungen von heute und für die Zukunft dürfen aber Vorgänge aus der Vergangenheit nicht ausgeblendet oder umgedeutet werden.
Ich beziehe mich auf den Artikel von Olaf Kühne, Wolfgang Neubert & Marion Schule ‚Lausitzer Sportschule Cottbus – Selbstportrait einer Eliteschule des Sports’.
Die 1954 erfolgte Gründung dieser Schule wird mit der Einweihung neuer Gebäude 1975 „in den folgenden Jahren mit hervorragenden Leistungen in den internationalen Sportarenen im Junioren- und Erwachsenenbereich Leichtathleten wie …“ geworben.
Unter den in der Folge Genannten steht auch der Name Birgit Uibel (im Text fälschlicherweise UEBEL geschrieben).
Birgit Uibel-Sonntag starb am 10. Januar 2010 mit 48 Jahren in Cottbus.
In „http://de.wikipedia.org/wiki/Birgit_Uibel-Sonntag“ findet sich neben anderem:
Nach eigenen Angaben wurde Birgit Sonntag schon mit 15 Jahren massiv gedopt; in der Folge hatte sie mit schweren gesundheitlichen Schäden zu kämpfen. Nach Ende ihrer Laufbahn brachte sie ein körperbehindertes Kind zur Welt. Sie wurde vom Bundesverwaltungsamt Köln als DDR-Doping-Opfer anerkannt. 1997 hatte die Ex-Athletin mit ihren präzisen Aussagen bei der Zentralen Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung des Staats-Dopings in der DDR geliefert. Im Juni 2000 sagte sie im DDR-Doping-Prozess vor Gericht aus.
Dort wird auch auf zwei Pressemeldungen zu ihrem Tod in der ‚Lausitzer Rundschau und im ‚Deutschlandradio’ verwiesen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Verstorbene ihrem Werbeauftritt für die Lausitzer Sportschule Cottbus zugestimmt hätte.
Ich kann mir aber ebenso wenig vorstellen, dass die Protagonisten der Eliteschulen des Sports den Werdegang von Birgit Uibel als Werbung in eigener Sache sehen.
Wissenschaftliche Bearbeitung der Sache der Eliteschulen des Sports sollte solche Zusammenhänge nicht verschweigen.
Wissenschaftlicher Recherche kann das Schicksal Birgit Uibels wohl kaum entgangen sein. … „