DLV Dopingvergangenheit
Gerhard Steines, Kugelstoßen
Gerhard Steines (LG Lahn-Dill/ TV Wetzlar 1847, USC Heidelberg) war neben Ralf Reichenbach in den 1970er Jahren der beste westdeutsche Kugelstoßer. Steines begann mit dem Leistungssport 1968 und beendete seine Karriere 1981. Dem mehrmaligen Deutschen Meister gelangen allerdings nur wenige internationale Erfolge.
Gerhard Steines studierte neben seiner sportlichen Laufbahn Germanistik und arbeitete in Mittelhessen für eine Zeitung, für die er heute noch als Redakteur tätig ist. Nebenbei schreibt er Bücher. Ab 2003 veröffentlichte er unter seinem eigenen Namen seine Erfahrungen als Hochleistungssportler. Doch bereits in den 1980er Jahren legte er die Verhältnisse offen, wobei er anfangs eher allgemein blieb und seines und Ralf Reichenbachs Sport-Leben mischte. So z. B. in einem Beitrag von 1982 (FAZ, 2.7.1982), den er eine ‚autentische Fiktion‘ nannte, der aber sehr viel Ähnlichkeit mit seiner aktuellen Erzählung besitzt. Im Januar 1986 beschrieb er in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausführlich seine Erfahrungen und nannte dabei Ross und Reiter (s. u. „Die Bekenntnisse des Kugelstoßers Gerd Steines“, FAZ 16.1.1986).
Der vollständige zwischen 2003 und 2005 geschriebene Text, in dem er auch über das Schicksal seines Freundes Ralf Reichenbach berichtet, ist nicht mehr online.
TEXTAUSZÜGE / ZITATE
Der junge unbedarfte Athlet wurde bereits zu Beginn seiner Karriere 1969 durch seine Umgebung auf Anabolika aufmerksam gemacht. Und recht bald wird ihm von einem erfolgreichen Sprinter angeraten, Dianabol auszuprobieren.
„Er selbst und seine Kameraden hätten sich durch das Hormonpräparat um mindestens zwei Zehntelsekunden verbessert, über 200 Meter sogar um eine halbe Sekunde. Ein Kugelstoßer würde mit Hilfe von Dianabol einen bis zwei Meter an Weite zulegen können.
Oder nehme ich es vielleicht doch schon, wie der Sprinter mit einem skeptischen Blick fragend hinzufügt; denn der spätere Professor der Sportwissenschaft, derzeit auf seinem akademischen Höhenflug in Gießen zwischengelandet, kann meine bisherige sportliche Entwicklung nicht mit meiner Naivität des Dianabol-Verzichts auf einen Nenner bringen.“
Anfangs reagierte er ungehalten auf den Verdacht, seine Leistungen würden mit Medikamenten in Zusammenhang gebracht werden. Er verzichtete noch einige Zeit darauf und wechselt nach Heidelberg. Doch einige Zeit später griff auch er zum ersten Male nach der Pille, einer halben Pille, aber diese minimale Dosis schien zu wirken.
„Am Tag nach meinem Sündenfall sieht mir ein junger Sportarzt beim Training zu. Zwanzig Jahre später gehört er zu den bekanntesten deutschen Sportmedizinern und gilt als Vertrauensarzt einer Tennis-Heroine. Mir wird zugetragen, daß er meine Figur begutachtet und festgestellt hat: >>Der sieht aus wie ein typischer Anaboliker.<< Die sachlich völlig abwegige Folgerung ist zwar ein hirnrissiger Vorwurf, der mich ärgert – aber er ärgert mich längst nicht so maßlos wie damals der Anabolika-Gruß von Jörg; denn diesmal habe ich kein reines Gewissen mehr, schließlich entfesselt in mir die halbe Dianabol-Tablette völlig neue Kräfte.
Die Kraft der Einbildung stelle ich auch bei anderen fest. Eines Tages schenkt mir ein Arzt, Trainer von Heidelberger Bundesliga-Basketballerinnen, eine Riesen-Vorratspackung Fortabol. 800 Pillen, ganz umsonst, ohne Gegenleistung, nur als freundschaftliche Geste unter Gleichgesinnten. Das Anabolikum Fortabol ist das Konkurrenz-Präparat von Dianabol. Manche schwören drauf. Ich nehme zwei Pillen, gehe ins Training und habe einen ziemlich schwachen Tag. Anschließend wiege ich mich: ein Kilo abgenommen! Dieses Teufelszeug Fortabol! Nichts wie weg damit! Niemals mehr werde ich auch nur eine Pille davon anrühren. Von Fortabol nimmt man ab, bilde ich mir ein, genauso wie die Kraft der Einbildung nach einer halben Pille Dianabol zur Bankdrück-Bestleistung verholfen hatte. Helmut, Mitkugelstoßer aus dem Nachwuchskader, nimmt mir die restlichen 788 Pillen gerne ab. Ich schenke sie ihm, warne ihn aber vor der unerwünschten Wirkung. Ein paar Tage später gibt er zu, das Zeug die Toilette runtergespült zu haben, denn auch er hat sich, inspiriert von meinen schreckeeinflößenden Erzählungen, eine akute Gewichtsabnahme eingebildet. …
Die Versorgung mit dem Stoff ist kein Problem [1970/1971]. Humanmediziner, Zahnmediziner und Studenten aus dem Umfeld des USC Heidelberg besorgen mir viel mehr als ich benötige, kostenlos, aus solidarischer Sportkameradschaft. Rezepte brauche ich nicht. Man will mir etwas Gutes tun, und ich nehme die unterstützenden Geschenke gerne an, auch wenn ich schon längst gut genug versorgt bin. Ablehnung wäre ein unfreundlicher Akt.
Später werden medizinische Fachleute über meinen geringen Anabolika-Verbrauch lachen und versichern, daß diese Dosierungen in keinem Fall die Leistung steigern oder der Gesundheit schaden könnten. Dennoch habe ich ein beklommenes Gefühl, als ich drei Wochen lang zwei Pillen täglich schlucke.“
Zu dieser Zeit lernt Gerhard Steines Ralf Reichenbach kennen. Obwohl immer Konkurrenten, entwickelte sich zwischen ihnen einen tiefe Freundschaft, die bis zu Reichenbachs Tod 1998 anhielt. Steines wird während seiner gesamten sportlichen Laufbahn zu anabolen Steroiden greifen, wenn auch selten konsequent und mit tiefer Überzeugung. Nur selten stellten sich bei ihm die erhofften Leistungen ein.
Gerhard Steines beschreibt in seinem Text wie selbstverständlich das Dopen war, wie unglaubwürdig der Antidopingkampf daher kam, wie wenig Kontrollen ernst genommen werden mussten, aber vor allem, wie von Verbänden, Funktionären und Ärzten dieses Betrugssytem stabil gehalten wurde. Insbesondere als er 1975 versuchte mit Unterstützung der Presse und Dopingkontrollinstanzen zu beweisen, dass er ein sauberer Sportler sei, dass Höchstleistungen ohne Anabolika möglich sind, musste er erkennen, dass letztlich niemand daran Interesse zeigte. Im Gegenteil, ihm wurde sogar von Seiten des Vereins und des Trainers bedeutet, seine Aktion sei unkollegial und destruktiv. Er musste sich wieder unter die Anaboliker mischen.
„Mit einem hochrangigen Vertreter des Deutschen Leichtathletik-Verbandes und dem Trainer meines Vereins spreche ich die Strategie ab. Wie kann ich in den Schoß der Anabolika-Gesellschaft zurückkehren? Unser Plan: Den nächsten freiwilligen Dopingtest werde ich ablehnen. Mit meiner Aktion habe ich, soll ich sagen, dem Verband, dem Verein und vor allem meinen Sportkameraden einen Bärendienst erwiesen. Es sei egoistisch und unsportlich, mich als weißes unter lauter schwarzen Schafen öffentlich erkennen zu geben. Das müsse ich aus Fairneßgründen revidieren. Ich sei und bleibe zwar ein anständiger, sauberer Leistungssportler, aber ab sofort würde ich nicht mehr mit einer eigensinnigen, mir nützlichen und anderen schadenden Einzelaktion vorpreschen. Kontrollen – ja bitte, ja gerne, aber nur nach dem Zufallsprinzip und bei Wettkämpfen, wie das 1975 üblich ist. Über diese Erklärung hinaus haben mir, so die Strategie, Verband und Verein Sprechverbot auferlegt, bei Zuwiderhandlung könnte ich gesperrt werden, es tue mir leid, das verstehe man ja wohl, wenn es noch Fragen und Forderungen gäbe, solle er sich schriftlich an Verein und Verband wenden.
Eine Zentnerlast fällt von mir ab. Ich gehöre wieder dazu. Alle sind wieder freundlich zu mir.“
Später gelingt es ihm, sich mit Hilfe von Presseartikeln einiges von der Seele zu schreiben. In deutlichen Worten nimmt er dabei das gesamte Sportsystem in die Kritik.
„Die Versorgung mit dem Stoff war übrigens nie ein Problem. In Heidelberg besorgten mir Mediziner, Zahnmediziner und Studenten die benötigten Mengen, kostenlos, sozusagen aus solidarischer Sportkameradschaft. Auch später brauchte ich nur ausnahmsweise Rezepte. Die Prozedur war mir einfach zu umständlich. Immerhin besitze ich noch eine kleine Sammlung Anabolikarezepte von sportmedizinischer Prominenz.
Anabolika waren für mich immer nur ein gesundheitliches Problem, nie eins der Fairneß, Ethik oder Moral. Ich habe die Anabolikaeinnahme nie als unerlaubten Vorteil betrachtet, sondern als selbstverständliche Vermeidung eines eventuellen Nachteils. … Die schwarzen Schafe sind nicht die Sportler. Ich kenne keinen, der nicht liebend gerne auf Anabolika verzichten würde, wenn er sicher sein könnte, daß Chancengleichheit mit konkurrierenden Sportlern besteht – wobei man nicht einmal nur auf Ostblock-Praktiken hinweisen muß. Es ist ebenso einfach und unredlich, im internationalen Vergleich Spitzenleistungen zu fördern und zu fordern, gleichzeitig aber mit dem moralischen Zeigefinger auf „Anabolika-Sünder“ zu zeigen und damit das Problem auf Individuen zu verengen. Wenn schon moralischer Zeigefinger, dann in Richtung auf den gesamtgesellschaftlichen Hintergrund und auf den dadurch geprägten Spitzensport.
Solange in der BRD NOK, Sporthilfe, BAL und die Spitzenverbände – allesamt laut offizieller Verlautbarungen schärfste Anabolika-Verurteiler – Förderungs- und Nominierungskriterien erlassen, die sie selbst ohne Einnahme von Anabolika nicht für erreichbar halten, ist für mich die ethisch-moralisch begründete öffentliche Entrüstungsdiskussion in Sachen Anabolika nur Spielwiese für selbstgerechte Heuchelei.“ (FAZ, 16.1.1986, s. unten)
Doping gefordert und gefördert, mittelhessen.de 10.1.2009:
Hat der Kugelstoßer Gerhard Steines gedopt?
Steines: Natürlich habe auch ich gedopt. Wie alle anderen zu meiner Zeit. Ich habe das nie verhehlt und schon 1985 in einem ganzseitigen Artikel für die Frankfurter Allgemeine Zeitung alles kundgetan [erschienen unter: Die Bekenntnisse des Kugelstoßers Gerd Steines, FAZ 16.1.1986]. Ohne irgendetwas zu verheimlichen. Aber auch mit dem Verweis auf die Hintergründe und die wahren Schuldigen.
ie da waren?
Steines: Ich habe das getan, was Politiker, Sportfunktionäre und leider auch die Presse von mir, von uns allen, verlangt haben. Dass Doping bei uns staatlich und gesellschaftlich gefordert und gefördert wurde, ist beweisbar, zum Beispiel durch die intern erhöhten Teilnahme-Normen für Olympia 1976 in Montreal. Im Kugelstoßen von gerade mal 19 Metern auf Weiten, die nur 21-Meter-Stoßer schaffen konnten. Ich habe aber auch selbst versagt, weil ich nicht der mündige Sportler war, der ich eigentlich hätte sein sollen.
Deshalb haben Sie mit der Leichtathletik auch nichts mehr am Hut …
Steines: Weil ich – um noch ein Zitat zu bringen – nicht den Kakao trinken will, durch den man gezogen wird. Der Sport basiert darauf, dass man Leistungen vergleichen kann. Dafür gibt es Regeln. Wenn nicht garantiert wird, dass sie eingehalten werden, wird der Sport obsolet. Das ist dann wirklich nur noch Showzirkus. Und das Endergebnis uninteressant. ..
1986 DIE EKANNTNISSE DES KUGELSTOSSERS GERD STEINES
Gerhard Steines in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 16.1.1986:
„Für mich waren Anabolika nie ein Problem der Faimeß, Ethik oder Moral“
Die Bekenntnisse des Kugelstoßers Gerd Steines
Zitate:
„… Im Herbst 1968 entschloß ich mich Kugelstoßen als Leistungssport zu betreiben. Ich war 21 Jahre alt, 1,96 Meter groß, 82 Kilogramm schwer und konnte um 14 Meter weit stoßen. Im Sommer 1969 wog ich 100 Kilogramm und stieß etwa 16 Meter, eine Leistung, die ich nur mit Training und sinnvoller Ernährung schaffte.
Damals traf ich in der Gießener Universitätssporthalle einen gutklassigen Sprinter (heute Professor an einem renommierten deutschen Sportinstitut) von dem ich zum erstenmal etwas über Anabolika hörte. Er versicherte mir, daß er und seine Sprintkollegen de Anabolika Leistungssteigerungen bis zu einer halben Sekunde verdankten und daß Anabolika bei mir als Kugelstoßer noch besser anschlagen würden.
Kurz darauf wurde ich in den B-Kader des Deutschen Leichtathletik-Verbandes aufgenommen, begann in Heidelberg zu studieren und zu trainieren und wie selbstverständlich lernte ich mit intensiverem Training und modernen Trainingamethoden auch Anabolika kennen. Sie gehörten ganz einfach dazu für jeden, und zwar ohne jede Bedenken.
Ich nahm also auch Anabolika erstmals im Sommer 1970 drei Wochen lang zehn Milligramm Dianabol. Später pendelte sich die Dosienmg nach Erfahrungsaustausch mit anderen Sportlern und Informationen von Trainern und Sportmedizinern so ein, daß ich drei bis vier Wochen lang „kurte“, normalerweise mit 20 Milligramm pro Tag, dann drei bis vier Wochen Pause einlegte, bis wieder eine „Kur“ begann. Variiert wurde diese Feriodisierung nur bei anstehenden Dopingkontrollen, die lediglich ein organisatorisches Problem waren, denn oral eingenommen sind Anabolika nach acht Tagen nicht mehr nachweisbar, die volle Wirkung aber hält noch einige Tage länger an. …
In späteren Jahren steigerte ich meine Anabolikadosis bis auf 30 Milligramm pro Tag. Im Frühjahr und Herbst legte ich jeweils mehrmonatige Pausen ein, da in diesen Phasen – aktive Erholung, erstes Aufbautraining – Anabolika unnötig waren und die lange Pause die Wirkung der danach erstmals wieder eingenommenen Anabolika erhöhte. …
Die Versorgung mit dem „Stoff“ war übrigens nie ein Problem. In Heidelberg besorgten mit Mediziner, Zahnmediziner und Studenten die benötigten Mengen, kostenlos, sozusagen aus solidarischer Sportkameradschaft. Auch später benötigte ich nur ausnahmsweise Rezepte; die Prozedur war mir einfach zu umständlich. Immerhin besitze ich noch eine kleine Sammlung Anabolikarezepte von sportthedizinischer Prominenz.
Anabolika waren für mich immer nur ein, gesundheitliches Problem, nie eins der Fairneß, Ethik oder Moral. Ich habe die Anabolikaeinnahme nie als unerlaubten Vorteil betrachtet, sondern als selbstverständliche Vermeidung eines eventuellen Nachteils.
Dennoch hatte ich immer ein zwiespältiges Gefühl, wenn ich Anabolika nahm. Ich dachte, daß es für einen gesunden Menschen ungesünder ist, irgendein als gar kein Medikament zu nehmen. Daher setzte ich mich im Frühjahr 1975 selbst unter Zwang, indem ich dem damaligen Leichtathletikressortleiter des Sportinformationsdienstes anbot, mich unter seiner Aufsicht für Stichproben während des Trainings zur Verfügung zu stellen. Ich wollte beweisen, daß man ohne Anabolika über 20 Meter weit stoßen konnte, und begründete dies vor mir selbst damit, daß maximales Training und maximale Eiweißversorgung einen optimalen Trainingseffekt auch ohne Anabolika garantieren müßte.
In der Nacht von Ostersonntag auf Ostermontag klingelte mich ein in der Dopingproblematik sehr engagierter Mainzer Apotheker aus dem Schlaf , nahm meine Urinprobe und zog zufrieden von dannen.
Meine Leistungsentwicklung be[ein]druckte mich aber auch noch einige Wochen später. … kam ich mit einem hohen DLV-Funktionär und einem verantwortlichen Vereinstrainer überein, die nächste Stichprobe zu verweigern. Ald Grund schlug ich beiden vor (die von meinem „unvernünftigen“ Tun sowieso nicht erbaut waren), mir den sofortigen Abbruch der Aktion nahezulegen, da diese eine Diskriminierung meiner Sportkameraden und ein selbstgerechtes Herausstellen als weißes unter lauten schwarzen Schafen sei. Wir einigten uns auch auf diese Formel und vereinbarten, dem Doping-Kontrolleur dies gegebenenfalls schriftlich zukommen zu lassen.
Da die Oster-Kontrolle aber scheinbar überzeugend meine „Sauberkeit“ bewiesen hatte, kam kein Kontrolleur mehr zu mir. Ich nahm Anabolika wie stets, stieß auch in dieser Saison über 20 Meter und schämte mich sehr, daß mir einige liebenswürdige Menschen wegen der scheinbaren Anabolika-Enthaltsamkeit Sympathie entgegenbrachten. …
Mir war nie wohl in meiner Haut, wenn ich Anabolika nahm, aber ich sah nur die Alternative, Höchstleistung anzustreben oder den Leistungssport aufzugeben. Das hätte ich im übrigen getan, wenn mir die Mediziner, auf deren Kompetenz ich vertraute, nicht die Unschädlichkeit von in kontrollierten Dosierungen eingenommenoilr Anabolika versichert hätten. …
Monika 2007, Ergänzungen