Das Präventionsmodell „Richtig handeln durch Verstehen“
Kernstück des Präventionskonzepts des Radsport Team Lübeck ist eine ausgeklügelte Trainingsmethodik. Im Januar 2008 sprach Kati (c4f) mit Teammitgliedern.
Hillringhaus: Unser Präventionsmodell ist mehrspurig. Zum einen sind junge Menschen bei uns, die Radsport machen wollen, zum anderen sind wir eine Jugendgruppe. Wir sind anerkannter Jugendhilfeträger, wir haben beides gleichzeitig hochgezogen unter der Prämisse, dass der sporttreibende Jugendliche auch Erfolgserwartungen hat, die nicht enttäuscht werden dürfen. Von daher haben wir vorrangig die Psyche des Menschen im Fokus. Zum anderen heißt Prävention für uns nicht „höher, schneller, weiter“ und immer mehr aus den Jugendlichen rausziehen, sondern genau analysieren, was der persönliche Leistungsstand ist, welche Eigenschaften fehlen oder welche Komponenten extra trainiert werden sollten. Genau die arbeiten wir aus und sorgen natürlich auch trainingsmethodisch, trainingsfachlich für eine optimale Unterstützung. Dass die Leute auch wissen, warum sie Schnellkraft trainieren sollen, warum sie Schnelligkeit trainieren sollen, warum Ausdauerfähigkeit und wie sie an die entsprechende Ausdauer kommen.
Das erfordert natürlich eine Leistungsdiagnostik, die jederzeit zur Verfügung steht. Ab dem 15. oder 16. Lebensjahr machen wir einen Laktatstufentest. Bei jüngeren Jugendlichen macht das keinen Sinn. Die fahren ohne Laktatmessung und mit viel kleineren Leistungen auf dem Ergometer.
Wir sind einer der wenigen Vereine, die über eine eigene Leistungsdiagnostik verfügen, hier zu Gast an der Uni Lübeck. Wir haben also auch die entsprechende fachliche Unterstützung, wenn mal Fragen sind, wenn Dinge mal etwas genauer zu durchleuchten sind. Prof. Dr. Pagel als stellvertretender Institutsleiter, der auch Mitglied im Radsport Team Lübeck ist, ist immer ein wertvoller und auskunftsfreudiger Ansprechpartner, er hilft uns immer gerne. Oft ist er auch bei den Tests anwesend, so dass man gleich vor Ort einen Bezug zum wissenschaftlichen Ansatz des Trainings hat.
Diese Leistungstests machen wir in konstanten Abständen, meistens für die leistungsorientierten Fahrer einmal im Winter und dann im etwas späteren Frühjahr, also in der Saisonvorbereitung und mitten in der Saison, um vor einem Event, beispielsweise ‚Harzer Bergpreis‘ oder ‚Rund um den Elm‘ noch einmal eine Formbestätigung zu haben. Um zu sehen, wie hoch haben sich die Fahrer in den Rennen belastet. Meistens stellt man dann fest, dass die sogenannte Laktatclearance, also die Fähigkeit des Körpers, das Laktat auch schnell wieder abbauen zu können, sich unter dem Renneinsatz wesentlich verbessert hat. So haben wir also von jedem Fahrer, der den Radsport leistungsmäßig betreibt, einen Vergleich pro Jahr anhand von drei Kurven, die sich dann im Laufe der Saison auch wieder verschlechtern können, wenn die Belastung zu hoch war. Dann sagen wir eben stopp, das war’s jetzt – da wird kaum noch Laktat produziert, da war die Vorbelastung zu hoch, da ist die Herzfrequenz zu hoch, da knickt die Herzfrequenzkurve zu früh ab.
Um Übertraining zu vermeiden, haben wir also schon ein, zwei physiologische Instanzen vorher, Warnsignale, wo wir dann sagen können, jetzt ist Schluss, jetzt muss eine Trainingspause von zwei bis drei Wochen gemacht werden. Und dann greift man in die geplante Periodisierung des Trainings ein und legt dann noch einmal ein Highlight, ein Rennen ans Ende der Saison.
Das Trainingskonzept
Z wie Zwischenspurts vermeiden/verlieren:
„Beim Training wird, auch in den Sprint- und schnellen Kurzzeitdisziplinen, über dreiviertel der Leistung auf aerobem Weg, also unter Sauerstoffzunahme, Fettverbrennung, geleistet. Das heißt, wenn das Training grundlagenorientiert sein soll, soll es so sein, dass man keine Sprints, Spurts einlegt oder die berühmte Hotelrunde, Hotelsprints im Trainingslager, wenn nach sechs Stunden Grundlage-, Ausdauerfahrt, dann noch ein Sprint hingelegt wird die letzten 500 Meter vorm Hotel, damit man den ersten Platz unter der Dusche kriegt.“
C4F: Du sprichst dich explizit gegen ‚überlieferte Trainingsformen und Wertmaßstäbe aus dem alten Radsport‘ aus, wendest dich gegen Sprüche wie „Lenker unten, Kette rechts“ oder „Radfahren kommt von Radfahren“. Was meinst du damit?
Hillringhaus: Solche Sprüche verdecken meistens nur Unwissen. Wissen heißt für mich nicht, selbst immer schlauer zu werden, sondern mal das, worum es geht, genauer unter die Lupe zu nehmen; zum Beispiel:
Zum einen denkt man, ein erfolgreicher Rennfahrer gewinnt viele Rennen, ist also meistens sehr weit vorne, fährt also sehr schnell, also mach ich im Training genau das, was der andere in den Rennen macht. Das ist von daher falsch, weil ich die Belastung mit den Umfängen steigere. Ich fange also mit einem kleinen Warmfahrtraining an und fahre dann einen recht großen Umfang mit einer hohen Geschwindigkeit und versuche, das dann noch zu steigern. Diese Trainingsmethodik stammt aus den 60er Jahren.
Es gibt andere Ansätze, die logischer erscheinen, wissenschaftlich fundiert sind und einfacher zu realisieren sind: Man unterteilt seine Leistungsfähigkeit insgesamt in verschiedene Eigenschaften – Kraft, Kraftausdauer, Schnelligkeit, Schnellkraft usw. und trainiert die isoliert an verschiedenen Tagen, völlig isoliert und getrennt voneinander und zwar an der richtigen Stelle. Man hat herausgefunden, dass Muskelwachstum nur dann stattfindet, wenn der Muskel vorher ausgeruht ist. D.h., eine durch langes Ausdauertraining belastete Muskulatur ist nicht mehr zu einem Wachstum fähig, weil entsprechende Enzyme, Proteine, Bausteine fehlen, die in den Tagen davor eben abgebaut wurden.
C4F: Wie sieht dieses Training dann in der Praxis aus?
Hillringhaus: Also: unsere Trainingsmethodik ist eigentlich die: Wir orientieren uns an einem Pausentag. Nach dem Pausentag schauen wir zurück, was haben wir gestern gemacht? Nichts! Wir haben uns ausgeruht, wir haben Rekom-Training gemacht, dann können wir uns jetzt intensiv mit sehr viel Kraft belasten.
Am zweiten Tag fragen wir wieder, was haben wir gestern gemacht? D.h. wir schauen immer, was gestern war. Habe ich ein Ausdauertraining gemacht, aufbauend auf meiner Krafteinheit, die ich vor zwei Tagen gemacht habe, dann weiß ich, ich muss jetzt noch langsamer, noch lockerer fahren, also noch mehr im unteren Bereich, aber dafür etwas länger.
Das ist eine Supermethodik für den Jugendlichen, der noch andere Dinge zu tun hat, wie Konfirmandenunterricht, allgemeiner Schulstress, vielleicht noch eine Nachhilfe oder noch ein anderes Hobby. Hierzu braucht man keine großen Trainingspläne zu schreiben, es sei denn, man macht es im Höchstleistungsbereich mit einer Wettkampfspezialisierung.
Von daher ergibt sich eigentlich immer die Trainingsstruktur: Montag Pause, weil Sonntag eventuell ein Rennen oder eine lange Ausdauer gewesen ist, Dienstag kraftintensiv, Mittwoch eine Ausdauereinheit, evt. mit ein paar EBs, also 3×5 min., 6×5 min. an der anaeroben Schwelle, die also durch den Laktatstufentest bekannt ist, und dann weiß ich, ich mach Donnerstag wieder Pause und kann mich Freitag, Samstag, Sonntag entweder – also Freitag und Samstag – auf ein Rennen vorbereiten, indem ich nur kurze Einheiten intensiv fahre, keine langen Einheiten, keine Grundlage fahre. Oder wenn ich kein Rennen habe, baue ich diesen Dreierblock genauso wieder auf wie eben beschrieben.
Trainer
C4F: Björn, was genau waren denn deine Aufgaben beim Radsportteam Lübeck?
Björn: Ich habe praktisch die Jugendbetreuung gemacht, d.h. ich habe das Training geleitet, im Winter in der Halle, im Sommer auf der Straße, die Jugendlichen dann z.B. bei Wochenenden betreut, bin mit ihnen für ein Wochenende nach NRW gefahren und habe das alles organisiert und durchgeführt, habe sie bei Rennen betreut und habe mich auch teilweise ein bisschen um die Verbandsarbeit gekümmert.
Hillringhaus: Ursprünglich waren seine Aufgaben des Jugendtrainers – Björn ist ja Trainer, hat eine C-Trainerlizenz – meine Aufgaben. Ich habe irgendwann gesagt, was bringt es, wenn ein 47jähriger alter Sack auf dem Rad sitzt? Ich habe keine Vorbildfunktion. Ich halte es für besser, wenn man die Jugend ausbildet, und zwar optimal, mit allen Mitteln und den besten Leuten, die zur Verfügung stehen, und dann deren Kenntnisse mit den frischen Erfahrungen aus den Rennen wieder in die Jugend zurückkoppelt. So geschehen mit Björn.
Das hat zu einem Wahnsinnssprung geführt. Als Björn zum Jugendtrainer wurde, hat er mit seinen Erfahrungen erreicht, dass wir von einer guten Zeitfahrmannschaft, wir waren nie gute Straßenfahrer, dann doch einige Talente bei Rundstreckenrennen auf die vorderen Plätze gebracht haben. Das war das Verdienst von Björn.
C4F: Ältere Trainer besitzen aber im Allgemeinen mehr Lebenserfahrung, Hintergrundwissen…
Hillringhaus: Ich habe zwar die trainerischen Kenntnisse und Leute ausgebildet, doch ich behalte keine Geheimnisse für mich, wie das die meisten Trainer machen, die ihre Mittelchen und Methoden geheim halten, nichts erzählen. Wir sind ganz offen miteinander, wir erzählen wie es geht, wir verraten alle Tricks und riskieren dabei natürlich auch, dass uns dann mal jemand verlässt und die Tricks den anderen verrät. Aber es geht um den Radsport in der Jugendarbeit allgemein. Es geht ja nicht darum, dass der RST der beste Verein wird, sondern darum, dass der Radsport insgesamt erst mal sauber wird, und darum, dass vor allem auch mal ein bisschen mehr Hirn in den Radsport reinfließt, was momentan ja noch nicht überall der Fall ist.
Präventionsmaßnahmen – haben sie Auswirkungen auf den Profiradsport?
C4F: Glaubst du, dass man mit einem Modell wie eurem den Profiradsport von Grund auf verändern könnte, dass man etwas beeinflussen kann?
A wie Angst mental bekämpfen:
„viele Jugendliche klagen darüber, wenn sie in Angst- und Leistungsdruckzustände kommen, dass sie dann Atemnot verspüren. In den meisten Fällen wurde dann zusammen erarbeitet, dass diese Atemnot, diese vermeintliche, ganz einfach der Sport ist, denn der Sport fordert einen gewissen Sauerstoffumsatz ab und wenn die Leistungsfähigkeit wächst, aber das Lungenwachstum nicht, klatschen die Lungenflügel schon einmal zusammen und dann hat man das Gefühl, man bekommt keine Luft mehr. Aber das ist schlicht und ergreifend der Sport und nicht irgendein Asthma, das mit positiv gelisteten Medikamenten behandelt werden muss.“
Hillringhaus: Dem Profiradsport fehlt eine ganz wichtige Komponente. Ich habe schon Teamleiter sagen hören: Ich wundere mich – die Fahrer kommen zu uns, die werden verpflichtet, die unterschreiben Ein- oder Zweijahresverträge, haben aber keine Trainingsmethodik! Die fahren einfach nur Rad, weil sie nie eine Ausbildung bekommen haben, nie einen Trainer hatten, der sie angeleitet hat.
Selbst Leute wie Bob Stapleton sagen, da sind Fahrer dabei, bei denen ich mich wundere, warum die so gut sind. Was haben die für eine Trainingsmethodik? Da ist kein System drin, da ist keine Dokumentation drin, da ist keine Planung drin – was ist das?
Ich bin der Meinung, den Profiradsport, so wie er im Moment ist, kann man nicht verändern, sondern es ist richtig, ihn von unten nach- und durchwachsen zu lassen. Da sind Athleten gefragt, die jetzt die richtige Trainingsmethodik kennen lernen, sich selbst kennen lernen. Man muss dafür nicht unbedingt seine Laktatwerte auswendig wissen, aber zumindest muss man ein Gefühl dafür entwickeln, wie hoch man sich belasten muss, wie man sein Training gestalten muss. Wenn ich weiß, ich habe eine Ausdauer wie ein Pferd, aber wenn’s im Sprint so richtig zur Sache geht, komme ich nicht hinterher, was trainiere ich da?
Ich habe Trainer kennen gelernt, mit denen ich mich lange unterhalten und ausgetauscht habe, die der Überzeugung waren, wenn ein Fahrer zu ihm ins Team kommt, dann hat der sich unterzuordnen, dann muss er tun was ihm gesagt werde. Er darf keine eigenen Ideen haben. Verbunden wird dieser Anspruch mit der Behauptung, sie hätten 30 Jahre Erfahrung. Darauf entgegne ich am liebsten: Du hast ein Jahr Erfahrung und 29 Jahre dasselbe gemacht. Das ist doch keine Erfahrung. Das ist Dummheit und Angst. Es bedarf also keiner Leute, die befehlen, was zu tun ist, sondern es bedarf Leute, die Bescheid wissen und es den anderen beibringen.