Interview: Dr. Sascha Severin

Anti-Doping und Prävention: Das Neusser -Modell

Interview mit Dr. Sascha Severin 2008

Initiator des Neusser-Modells

>>> C4F-Vorstellung Neusser-Modell

Dr. Sascha Severin
Studium: Pädagogik, Philosophie, Sportwissenschaft
Thema Dissertation, 2005: Doping, Drogen und Medikamente: Deviantes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen
Ausgeübte Sportarten: Triathlon, Basketball, Radsport
Mitglied der deutschen Nationalmannschaft von 1987 bis 1990

das Gespräch

Als Jugendlicher mit 17 Jahren kamst du in die deutsche Nationalmannschaft der Bahnfahrer und fuhrst auf diesem Niveau bis du 19 wurdest. Danach hörtest du mit dem Hochleistungssport auf. Im Jahr 2005 promoviertest du mit dem Thema: ‚Doping, Drogen und Medikamente: Deviantes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen’ – gibt es da einen Zusammenhang?

Severin: Ich sehe es durchaus als intellektuelle Verarbeitung der Erfahrungen, die ich als Radsportler gemacht habe. Nicht nur als Radsportler. Ich habe auch Basketball gespielt, ich betreibe Triathlon. Und immer kam ich mit dem Thema in Berührung.

In allen drei Sportarten?

Severin: Ja, in allen 3 Sportarten. Aber ich glaube, der Basketball ist, was die indirekte Bekämpfung des Einsatzes von leistungssteigernden Präparaten angeht, am fortschrittlichsten. Das hängt damit zusammen, dass der Basketball, die Trainingslehre betreffend, sehr weit ist. Aber nichtsdestotrotz werden auch dort leistungssteigernde Präparate eingesetzt. Ganz massiv bei den Streetballturnieren. Die Leute nehmen Ephredrin, Marihuana, Kokain und Steroide, es gehörte quasi zum guten Ton und zur Szene. Nicht zuletzt merkt man es an verschiedenen Verhaltensweisen, teilweise sind die Akteure extrem aggressiv und reizbar. Im Triathlon ist es vergleichbar mit dem Radsport.

Kommen hier im Freizeit- und Amateurbereich auch Drogen wie Kokain, Heroin, Amphetamine usw. zum Einsatz?

Severin: Ob Drogen zum Einsatz kommen kann ich nicht sagen, aufgefallen ist mir ein recht lockerer Umgang mit diversen Medikamenten. Asthmasprays sind die Regel, und die Schmerztablette vor dem Start scheint auch ziemlich weit verbreitet zu sein. Schaut man in die einschlägigen Internetforen, so sind Epo und Wachstumshormone sicherlich auch ein Thema.

FRÜHE EIGENE ERFAHRUNGEN

Hast du persönlich schon Erfahrungen mit leistungssteigernden Substanzen gemacht?

Severin: Zum ersten Mal kam ich im Radsport mit leistungssteigernden Substanzen im Alter von 13 oder 14 Jahren in Berührung. Es war eine Schmerztablette. Man kann sich jetzt darüber streiten, ob das Doping ist oder nicht. Es steht zumindest nicht auf der Dopingliste. Aber ich war schon erstaunt mit welcher Vehemenz mir dieses Medikament von meinem Trainer empfohlen wurde.

Und natürlich haben wir das auch genommen. Ich nehme gerne als Begründung die Diktion von Prof. Schimank, der sagt, Doping ist in den wenigsten Fällen offensives Doping. Man versucht sich keinen Vorteil zu verschaffen sondern man versucht sich anzupassen. So war das bei mir auch. Es machen doch alle, es ist doch nicht schlimm. Du bist besser, du bist schneller und außerdem tut es dann nicht so weh.

Mit 13, 14 Jahren verlässt man sich auf den Trainer, er ist eine erwachsene Person, eine Respektsperson und so jemanden stellt man nicht infrage.

Das nächste Mal kam ich beim BDR mit einer Form von Doping – so wie ich es mittlerweile definiere – in Kontakt. Es ging um große Eiweißmengen, die wir uns einverleiben mussten. Wieder kann man sagen es war kein Doping, aber in der Menge, in der es verabreicht wurde, habe ich es als Doping verstanden.

Während einiger Lehrgänge rieten sie uns sechs Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht einzunehmen. Teilweise wurde das auch kontrolliert. Das fand ich sehr merkwürdig. Ich muss aber ganz ehrlich sagen, dass ich das nicht aus ethischen Gründen abgelehnt habe, sondern weil ich das Eiweiß nicht vertragen habe. Ich bekam davon Nierenschmerzen und eine richtig dicke Akne. Und das ist natürlich für einen Pubertierenden das absolut Schlimmste. Vielleicht hat mich da die Akne vor Schlimmeren gerettet.

Diese Eiweißmengen habe ich nur bei Lehrgängen genommen, ansonsten kippte ich die Fässer weg. Nur um zu sagen, ich habe es genommen, um nicht aufzufallen. Aber das fand ich damals schon sehr bedenklich und auch sehr leichtsinnig. Denn es ist ja nachgewiesenermaßen so, dass zuviel Protein schädlich sein kann.

DOPING IM INTERNATIONALEN JUGENDKADER?

Was wusstest du zu deiner aktiven Zeit als Jugendlicher über das Doping im Peloton?

Severin: Man munkelte zu der Zeit schon, dass man mehr machen könnte, dass es noch andere Möglichkeiten gibt. Das erste Mal, als ich mir dachte, das kann nicht mit rechten Dingen zugehen, war auf einer Europameisterschaft in Italien. Da wusste ich nicht mehr so genau, bin ich jetzt auf der Europameisterschaft der Junioren oder ist das die Europameisterschaft der Männer. Teilweise zeigte sich mir, dass nachgeholfen wurde. Ich war auch nicht der Einzige, der so empfunden hatte. Im Nationalkader dachten viele so.

Habt ihr darüber gesprochen?

Severin: Wir haben darüber gesprochen. Klar. Und übrigens auch nicht nur mit dem Zimmerkameraden.

Und wusstet ihr auch welche Mittel dafür infrage kommen?

Severin: Es war bekannt, was kursierte. Dass mit Anabolika nachgeholfen wurde war nichts Neues. Es geschah alles hinter vorgehaltener Hand. Wenn man lange genug im Geschäft war, gab es Kontaktmöglichkeiten. Irgendwann war man im Kreis des Vertrauens und bekam Möglichkeiten genannt, wo man sich bei Bedarf eindecken konnte, an wen man sich wenden konnte. Aber es kam nicht vom Nationalkader, das muss ich dazu sagen. Auch der Bundestrainer hat mir nie dazu geraten. Das einzige, das man ihm vorwerfen kann, waren die Eiweißpräparate. Das habe ich nicht verstanden.

Was wäre gewesen, wenn ihr etwas genommen hättet? Hätte euch jemand vom Team darauf angesprochen? Gemerkt hätten sie es doch wahrscheinlich an der Leistung? So wir ihr es an den Italienern bemerktet?

Severin: Ein ehemaliger DDR-Trainer, der als Co–Trainer kurz vor der Wende in den Westen geflohen war und beim BDR in Lohn und Brot stand, erwähnte mir gegenüber einmal, die Zeiten, die ich fahren würde, seien DDR-Zeiten. Das implizierte eigentlich die Frage, wie kam es dazu, was hast du Spezielles gemacht?

Ich denke also schon, dass man das Leistungsvermögen der einzelnen Athleten sehr genau analysiert hat und sich auch nach den Ursachen erkundigt hat. Inwieweit sanktioniert worden wäre im Falle einer unphysiologischen Nachhilfe, kann ich nicht sagen.

TRAININGSREALITÄTEN

Was hast du gemacht, um solche Leistung zu bringen?

Severin: Ich habe mich schon immer sehr intensiv mit der Trainingswissenschaft auseinander gesetzt, das interessierte mich. Ich habe nie die Pläne trainiert, die ich bekommen habe. Ich zog aus allem die Essenz und bastelte mir dann daraus selbst etwas zusammen, nach bestem Wissen und Gewissen. Es spielen auch Talent und Ehrgeiz eine große Rolle. Es muss alles zusammen spielen, alles muss harmonieren. Vor allem habe ich immer auf meinen Körper gehört. Wenn ich mich nicht gut fühlte habe ich nie trainiert.

Wie ist die Situation heute? Als Außenstehende gehe ich eher davon aus, dass die Fahrer auf nationalem Niveau durchaus gute Trainingspläne haben, dass neuste Erkenntnisse einfließen und dergleichen mehr. Was man jetzt so hört, ist das häufig nicht der Fall. Gibt es noch Potential?

Severin: Ja. Es gibt Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass gerade im Hochleitungsbereich nicht richtig trainiert wird. Man hat z. B. festgestellt, dass der Energieumsatz bei jungen Kaderathleten noch stark ausbaufähig ist, vermutlich weil einfach falsch trainiert wurde. Daran sieht man, dass noch viel Potential brach liegt. (Untersuchung unter Prof. Joachim Mester, Leiter des Instituts für Trainings- und Bewegungslehre an der der Deutschen Sporthochschule Köln).

Ich bin überzeugt, würde man verstärkt mit intelligentem Training arbeiten, vor allem auch mit qualifizierten Trainern, wäre noch mehr rauszukitzeln. Damit meine ich, dass man Leute nimmt, die einen modernen wissenschaftlichen Hintergrund haben und mit modernen Methoden arbeiten.

fFRÜHES KARRIEREENDE

Warst du nur Bahn- oder auch Straßenfahrer?

Severin: Ich war auch Straßenfahrer, aber nach einem Trainingsunfall trug ich einen Nierenriss davon und war ein paar Wochen bettlägerig. Damit war die Saison halb gelaufen, doch ich wollte unbedingt in die Nationalmannschaft. Deshalb spezialisierte ich mich auf den Kurzzeitbereich, da es für den Langzeitbereich nicht mehr hingehauen hätte. Über das Zeitfahren kam ich dann in die Nationalmannschaft.

Warum hörtest du mit 19 Jahren mit dem Hochleistungssport auf?

Severin: Mit 19 konzentrierte ich mich auf das Abitur, was mir sehr schwer gefallen ist, da ich ganz auf den Sport fixiert war und eigentlich zwei Jahre komplett in der Schule ausgesetzt hatte. Dass ich noch meinen Schulabschluss machen konnte, verdanke ich meiner damaligen Direktorin. Meine Leistungen nebst Fehlstunden, hätten es gerechtfertigt, mich von der Schule zu schmeißen. Denn es gab damals noch keine Förderprogramme für Leistungssportler, geschweige denn Laufbahnberater. Meine Direktorin hielt zu mir, sagte aber, wenn ich wieder erfolgreich die Schule besuchen möchte, müsste ich mich auf den Hosenboden setzen. Ich ergriff die Chance, da ich wusste, dass ich ansonsten im Radsportgeschäft unterkommen muss. Aber zum damaligen Zeitpunkt war es extrem hart. Die Öffnung der Grenzen, der Mauer sorgte für eine ziemliche Konkurrenzdichte. Ich sah meine Radsportexistenz ernsthaft bedroht. Im Nachhinein bin ich mehr als froh, die Schule zu Ende gebracht zu haben.

DUALE AUSBILDUNG RADSPORTKARRIERE UND BERUFSAUSBILDUNG

Die duale Ausbildung wird heute für junge Leistungssportler immer häufig gefordert. Ist das im Radsport überhaupt möglich?

Severin: Ja, sie Ist möglich. Aber man braucht natürlich eine vernünftige Beratung. Ich hatte vor kurzem ein Gespräch mit Michael Scharf, Geschäftsführer des Olympiastützpunktes Rheinland, er ist diesbezüglich sehr innovativ. Auch er unterstützt die duale Ausbildung. Die Situation ist nur so, dass die Beratungsleistung des Olympiastützpunktes für alle 600 Athleten von einem einzigen Laufbahnberater bewältigt werden muss. Da bleibt nicht viel Zeit für einen Athleten. Diese Unverhältnismäßigkeit muss man in den Griff bekommen.

Die duale Ausbildung ist machbar, sie erfordert aber sehr viel Disziplin. Doch ein Jugendlicher ist nicht immer in der Lage die Notwendigkeit einer vernünftigen Schulausbildung zu erfassen, zumal wenn er nicht ausreichend über mögliche Konsequenzen aufgeklärt wird. Auch ein übermotiviertes Elternhaus kann einem einen Strich durch die Rechnung machen, wenn es meint, der Junge könne sich über den Sport sehr schnell profilieren.

Deshalb wäre es sehr wichtig, dass auch die Vereine stärker mit den Olympiastützpunkten zusammen arbeiteten und auf diese Weise die Nichtkadersportler in den Genuss einer Laufbahnberatung kämen. Denn Nichtkadersport heißt nicht zwangsweise, dass man nicht Profiradsportler wird.

Es gibt die Schere zwischen biologischem und kalendarischem Alter. Ich habe es selbst erlebt, es gab 14, 15 jährige, die fuhren wie 18jährige, sie sahnten alles ab. Doch irgendwann waren sie weg und mit 18, 19 kamen dann sehr gute Leute, die vorher im Schatten dieser biologischen Frühstarter standen. Nur diese Sportler hatten natürlich keine Kaderbetreuung und folglich auch keine Laufbahnbetreuung.

Daher wäre es sehr sinnvoll diese Beratung an die Vereine zu koppeln. Vielleicht gibt es auch Möglichkeiten, dies ehrenamtlich machen zu lassen, wenn kein Geld für hauptamtliche Kräfte vorhanden ist. Die duale Ausbildung ist ein ganz wichtiger Ansatz um ein Abdriften in den Dopingsumpf zu vermeiden.

Michael Scharf: Vortrag „Biografische Falle Leistungssport

In seinem Vortrag ‚Biografische Falle Leistungssport?‘ im Rahmen des Neusser Modells beklagt Michael Scharf fehlendes Problembewusstsein und damit fehlende Mittel.

Severin: So ist das. Das ist generell so. Antidopingprojekte mit dem Schwerpunkt Prävention, das Neusser Modell zählt dazu, sind schwer zu verkaufen. Prävention ist für viele zu schwammig, zu abstrakt. Zudem wollen die Leute schnelle Ergebnisse. Folglich wird sehr verhalten hinsichtlich einer entsprechenden Unterstützung agiert.

EINFLUSS UND VERANTWORTUNG DER ELTERN

Du erwähntest bereits den Einfluss der Eltern, deren wichtige Rolle wird in der Diskussion um Doping-Prävention immer herausgestellt. Wie schwierig ist es, sie zu erreichen?

Severin: Im Rahmen des Neusser Modells gilt der Aktienhändlerspruch ‚Breit streuen um nicht auszurutschen’. Wir haben versucht, das Ganze so anzulegen, dass sich nicht nur eine Gruppe angesprochen fühlt, und wir hoffen natürlich auch viele Eltern zu erreichen. Sei es durch die Aktiven, die Trainer, die Funktionäre oder vielleicht auch durch die Sponsoren oder die Medien. Wir müssen nur hartnäckig genug sein und das Thema permanent unter das Volk streuen, dann werden die Leute hoffentlich irgendwann hellhörig.

Bei einer Veranstaltung stellte ein Vater, dessen Tochter Radsportlerin war und der total verunsichert schien, eine Frage nach den Trainingsplänen seiner Tochter. Er meinte, sie würde jetzt schon soviel trainieren, wo solle das enden. Das zeigt, sie bekommen nicht genug Beratung. Sie wissen nicht, was ihre Kinder da tun. Sie kennen keine Anlaufstellen, sie wissen nichts über Trainingswissenschaft.

Im Anschluss an die Veranstaltung meinte ich zu ihm, man könne auch die Vereine testen. Man muss sich nicht auf einen Verein festlegen. Das ist ja das Schöne, es gibt – zumindest in Deutschland – immer mehrere Vereine zur Auswahl. Die Eltern können Fragen stellen, sie können auch die Gretchenfrage stellen, wie hälst du es mit leistungssteigernden Präparaten und welche Qualifikation haben die Trainer?

BEISPIEL EINER MISSGLÜCKTEN KARRIERE

Severin: Als Trainer hatte ich einmal einen sehr talentierten jungen Radsportler aus dem russischen Staat, er war Flüchtling. Der Vater war arbeitslos, die Mutter hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Das Familienleben war komplett auf den Sohn abgestellt, es war klar, der Junge macht irgendwann Karriere im Radsport und dann bringt er die Familie durch. Ich habe zwei Jahre mit ihm zusammen gearbeitet und versucht, ihn behutsam aufzubauen, das ist mir auch gelungen. Er entwickelte sich gut, ist mehrfacher Landesmeister geworden. So fiel er auf und wurde von einem Bundesligateam rekrutiert.

Dann begann der Abstieg. Er wurde richtig kaputt trainiert. Die haben seine Jahreskilometerumfänge vom einen auf das andere Jahr verdoppelt. Er litt an Durchblutungsstörungen und Krämpfen, wahrscheinlich weil sein Körper mit dem Training nicht klar kam. Irgendwann kam sein Vater und meinte, wir müssten irgendetwas machen. Doch ich meinte, wenn das so weiter geht, höre ich auf. Es wurde immer schlimmer. Der Vater hielt ihn zusätzlich dazu an von morgens bis abends zu fahren, er war von Ehrgeiz zerfressen und suchte über den Sohn soziale Anerkennung. Der Sohn fuhr noch 2 Jahre im Bundesligabetrieb weiter, danach hörte ich nichts mehr von ihm.

In diesen Situationen fühlt man sich als Trainer, der mit neuen Methoden arbeitet, sehr hilflos. Ich hatte damals neue Trainingsformen eingeführt, die ich im Basketball kennen gelernt hatte. Doch mit diesen Neuerungen kommt man im Radsport nicht durch. Im Gegenteil, man wird eher zum Gespött.

Und irgendwann nach 2 oder 3 Jahren, wenn die Jungs etwas leisten, nach einem behutsamen Aufbau, sind sie dann weg. Das Traurige daran ist nicht die persönliche Kränkung, sondern man weiß in den meisten Fällen, wie es enden wird. Und in diesem Fall war es dann besonders traurig. Aber es ist sicher kein Einzelfall.

ANFORDERUNGEN – MEDIKAMENTE UND RADSPORT

Ich formuliere jetzt etwas provokativ: Dürfen Radsportler ruhen, wenn sie kank oder verletzt sind?

Ich habe oft den Eindruck, es wird nicht gesagt, gehe nachhause und kuriere dich aus, sondern sie werden zugeschmissen mit Medikamenten, auch mit so problematischen Mitteln wie Antibiotika. Das zeigte sich mir auch häufig während großer Rennen. Verkauft wird dies dann gerne direkt oder unterschwellig als bewundernswerte Härte, schließlich gehört zum Radsport Leiden…

Severin: Ich erinnere mich auch an einen Fall, da nahm Jens Voigt mit 40 Grad Fieber an einer Tour Etappe teil. Später konfrontierte man ihn damit, dass er unter Umständen hätte tot vom Rad fallen können. Ihm war anscheinend nicht bewusst, dass Infektion unter derartigen Umständen schnell zu lebensgefährlichen Problemen führen kann.

Ich glaube, das ist wie beim Griff nach potenten Dopingpräparaten. Da wissen die meisten auch nicht was sie tun. Ebenso wenig wissen sie nicht was sie tun, wenn sie mit Krankheiten fahren. Hier zeigt sich die Bedeutung der Sozialisation, meine half mir, in solchen Situationen eine angemessene Entscheidung zu treffen, nämlich nicht zu fahren.

Normalerweise wird man als Hochleistungssportler relativ schnell krank, kuriert es aber immer wieder sehr schnell aus. Es reichen 1, 2, 3 freie Tage, vorausgesetzt, man bekommt die Tage eingeräumt. Aber meistens ist das nicht so. Vor allem in Trainingslagern wird man angehalten, weiter zu fahren.

Viele Athleten verstehen Trainingspläne zu dogmatisch, man muss hier viel stärker vermitteln, dass es sich hierbei um Empfehlungen handelt. Oder als Maxime: „Dein Körper ist das Maß aller Dinge, wenn Du nicht fit bist, dann lass die Trainingseinheit sein.“

In meinen Augen werden die Fahrer unmündig gehalten.

Severin: Das sehe ich auch so. Es wird einfach zu wenig erklärt. Man verlässt sich da zu sehr auf die Medizin, respektive die Medikamente. Es sollte gelten, kuriere es aus, auch wenn es länger dauert, aber fahre nicht Fahrrad.

Gerade jugendliche Radsportler haben noch andere Möglichkeiten, sie müssen nicht jedes Rennen am Wochenende mitnehmen. Nur dazu muss ich wieder die Eltern erreichen. Ich muss den Eltern erklären können, was sie ihren Kindern womöglich antun. Es gibt leider Gottes immer noch sehr viele, die so etwas ignorieren. Viele Präparate lassen dich wirklich für einige Zeit deine Erkältung vergessen. Da sind wir auch wieder beim Ansatz der Präventionsdiskussion. Denn warum soll dies ausgerechnet im Sport anders laufen als in der Gesellschaft? Ich ertappe mich selbst manchmal dabei, z. B. wenn ich am nächsten Tag einen wichtigen Termin habe, dass ich kurz davor bin, ein Medikament zu nehmen.

Nur scheint mir, dass diesbezüglich auch noch manche andere Einstellungen zu verändern sind. Gerade auch die Tour de France lebte und lebt von diesem Mythos des Leidens und des Außergewöhnlichen des Radsports.

Severin: Dazu gehören für mich auch die Geschehnisse um den diesjährigen Giro.

Man weiß, dass einer der Gründe für Doping die teilweise unwirtlichen Anforderungen sind. Ich hatte im letzten Jahr den Eindruck, dass man bei der Tour de France versuchte dagegen einzuwirken. Und dann gehen die Veranstalter des Giro hin und führen eine der schwersten Rundfahrten durch, die es je gegeben hat. Da bin ich einfach sprachlos, einige haben offenbar immer noch nicht den Knall gehört.

Die Etappe des Bergzeitfahrens mit bis zu 24% Steigung auf einem Schotterweg habe ich mir angeschaut. Das kann man nicht mehr als Straßenradsport verkaufen. Das muss man anders nennen.

Das Argument der ach so zahlreich erschienenen Zuschauer kann ich nicht nachvollziehen. Das können nur Sadisten gewesen sein, eben Leute, die sich an den unwürdigen Qualen anderer aufgeilen. Das ist pervers. Ich behaupte einfach, Leute, die vom Radsport kommen, die den Radsport lieben, können sich das nicht anschauen, das hat nichts mehr mit Sport zu tun.

ALLTAGSDOPING

Du selbst hast erst spät gelernt, den schnellen Griff nach alltäglichen Präparaten zu hinterfragen. Der allgemeine Trend läuft anders. Nahrungsergänzungsmittel gehören zum Alltag und z. B. psychoaktive Substanzen wie Ritalin und Modafinil werden immer häufiger im Alltag eingesetzt. Zunehmend werden Hyperaktivitätsstörungen bei Kindern und Jugendlichen damit behandelt bzw. damit wird versuchtderen schulischen Leistungen zu erhöhen.

Severin: Mittlerweile werden Ausnahmegenehmigungen für diese Präparate bei der NADA beantragt, um am Wettkampfsport teilnehmen zu können. Man weiß aber, dass sich das Zappelphilipp-Syndrom mit Therapie wenden lässt und vor allem der Sport dabei hervorragend helfen kann. Warum müssen sie dann, zumal im Hochleistungssport, noch diese Präparate nehmen? Das muss offenbar von den Eltern kommen.

Ärzte stehen auch oft hinter der Anwendung.

Severin: Ja. Ich kenne das Beispiel eines Jungen, der unbedingt auf das Gymnasium sollte, aber sich nicht so recht konzentrieren konnte. Der Vater hörte von diesen Präparaten, konsultierte einen Arzt und wie gesetzlich vorgesehen, einen Psychiater. Es gibt dazu einen Kriterienkatalog, der festgelegt, ob und wann dieses Präparat verschrieben werden kann. Doch diese Kriterien treffen auf fast jedes Kind im Alter von 3 bis 12 Jahren zu. Alle Kinder sind unruhig, alle Kinder haben bedingt Schwierigkeiten sich über einen längeren Zeitraum zu konzentrieren. Wenn ich mir die Zahlen der Produktion dieses Medikaments der letzten 15 Jahre anschaue, die um 1500 % gestiegen sind, denke ich mir, wir haben kein Problem mit dem Zappelphilipp-Syndrom, sondern wir haben ein Problem mit der Überproduktion dieser Medikamente.

Das ist das eine, aber haben wir nicht auch ein Problem mit unserer Vorstellung, wie ein Mensch zu funktionieren hat oder wie er auszusehen hat?

Severin: Ja, das ist das andere, es betrifft auch die Schönheitsideale. Es spielt eine Rolle, dass man ständig durch die Werbung, durch die Medien gesagt bekommt, wie ein perfekter Körper auszusehen hat. Dass man ausschließlich mit solch einem Körper erfolgreich wird.

Und dann gibt es noch den Körper als „Hierarchiefaktor“, frei nach dem Motto „Masse macht Macht.“ Michael Sauer (Institut für Biochemie der Deutschen Sporthochschule Köln), arbeitet in sozialen Brennpunkten. Er erlebt, dass sich Jugendliche mittels anaboler Steroide einen muskulösen Körper züchten, um auf der Straße bestehen zu können. Nebenwirkungen werden kaum beachtet.

Eure Kritik setzt aber schon viel früher an bei scheinbar harmlosen Nahrungsergänzungsmitteln. Was ist so gefährlich daran und an leichten Medikamenten?

Severin: Es kann ein schleichender Prozess in die Abhängigkeit in Gang gesetzt werden, den man nicht wahrnimmt. Man wird mit harmlosen Sachen angefixt, das können eben Nahrungsergänzungsmittel sein, das können auch andere Mittel sein. Vorbild kann auch das Verhalten der Eltern sein, das man als ganz normal identifiziert. Und oft geht es dann nahtlos über zu härteren Substanzen. Wichtig ist, man sollte die Medikamente nicht schlecht machen, sie haben ihren Nutzen und ihre Berechtigung. Jeder der richtig krank war, wird das bestätigen. Ohne Medizin kann ich es mir auch nicht vorstellen.

Es geht uns darum, dass diese Mittel nicht inflationär und vor allem nicht kopflos eingesetzt werden. Wir wollen darauf hinweisen, dass es gewisse Phasen im Leben gibt, in denen eine große Gefahr besteht, gewisse Präparate einzusetzen, obwohl es noch andere Möglichkeiten gibt.

HOFFNUNG

Was wünscht Du Dir für die Zukunft?

Severin: Wir müssen zusehen, dass das Projekt ‚Neusser Modell‘ im Gespräch bleibt und versuchen Politik und Sponsoren zu erreichen. Es genügt nicht, sich nur an die Sportler und Verbände zu wenden. Die Politik, die Sponsoren und die Medien profitieren vom Sport und können die Richtung, in die er sich entwickelt, mit vorgeben. Die Politik schafft die Gesetzeslage und unterstützt wie die Sponsoren mit Geld, die Medien unterstützen mit Sendezeit. Hier muss man verstärkt ansetzen.

2008 Triathlon-Team Dresdner Kleinwort: Zero tolerance
„Dresdner Kleinwort is committed to supporting the highest levels of sportsmanship and professionalism.
For this reason, we have tasked the National Anti Doping Agency (NADA) and Sylvia Schenk – Chairperson of Transparency International, Section Germany, and our external advisor and recognised expert on this subject – to draw up a rigorous anti-doping programme for our Triathlon Team.“

Ich glaube aber, am meisten können die Sponsoren machen. Anstelle sich immer weiter aus dem Radsport zurückzuziehen, könnten sie Forderungen stellen. Eine gute Blaupause gibt es zur Zeit, das Modell des Triathlon-Teams Dresdner Kleinwort. Es eignet sich auch hervorragend für den Radsport. Hier ist man nach meinem Dafürhalten genau den richtigen Weg gegangen. Der Sponsor stieg ein unter der Voraussetzung, dass ernstzunehmende interne Kontrollen stattfinden, keine Alibiveranstaltung. Aber ernstzunehmende Kontrollen funktionieren nur, wenn das Kontrollsystem, das intelligente Kontrollen beinhalten sollte, an eine unabhängige Instanz gebunden wird. Das wurde durch die Koppelung an die NADA erreicht..

Nach all den Skandalen und negativen Entwicklungen, die der Radsport erlebte und noch erlebt, vernimmt man gelegentlich wieder positive Töne: Ältere Sportler hätten sich mit der Dopingrealität abgefunden doch bei vielen der Jüngeren wäre durchaus ein Bewusstseinswandel festzustellen.

Ist das auch deine Erfahrung? Oder ist das nur Wunschdenken?

Severin: Wir haben im Rahmen des Neusser Modells mit Vertretern einer Junioren-Bundesligamannschaft gesprochen. Dabei hatte ich schon den Eindruck, dass es ihnen wichtig ist, sauber über die Runden zu kommen und dass es ihnen nicht ganz egal ist, was passiert. Zumal ich nicht glaube, dass alle mit leistungssteigernden Präparaten fahren. Das macht für mich die Sache eigentlich noch ärgerlicher.

Denn die Leute, die sauber sind, die sich Mühe geben, haben natürlich bei gleichen Vorraussetzungen immer die schlechteren Karten.

Ich denke, bei den jüngeren ist schon so etwas wie ein Bewusstseinswandel eingetreten, aber es könnte noch mehr sein. Und ich habe die Befürchtung, wenn man das Ganze jetzt wieder so langsam aber sicher versanden lässt, geht es wieder so weiter wie ehedem. Und wie gesagt, es müssen die Politik und vor allem die Sponsoren mitziehen.

Radsport hat jetzt eine einmalige Chance. Er ist letztes Jahr richtig in die Mangel genommen worden aber man muss das jetzt als Chance für einen Neuanfang begreifen. Er darf jetzt nicht wieder den Kopf in den Sand stecken, sondern er muss zusehen, dass endlich etwas in Gang kommt.

Monika:  Herzlichen Dank für das Gespräch und viel Erfolg!