1991 Interview mit Alexandre de Mérode, Präsident der Medizinischen Kommission des IOC
Prinz Alexandre de Mérode aus Belgien leitete von 1967-2002 die Medizinische Kommission des Internationalen Olympischen Komitees IOC. War er erfolgreich im Kampf gegen Doping oder eher erfolgreich im Unterdrücken der Dopingrealität? Die Einschätzungen gehen auseinander je nach Bewertungen historischer Gegebenheiten und Entwicklungen. Das Portrait von Paul Dimeo, Thomas M. Hunt, und Matthew Bowers könnte bei der Einschätzung helfen:
In der französischen Zeitschrift Sport&Vie, Hors-Série n° 52 spécial 30 ans, ist ein Interview mit Alexandre de Mérode aus dem Jahr 1991 nachzulesen.
Das Interview gibt einen Einblick in Aspekte des Antidopings auf internationaler Ebene der frühen 1990er Jahre.
Interview geführt von Gilles Goetghebuer, Sommer 1991. Ausschnitte
Gilles Goetghebuer: Es vergeht keine Saison, in der nicht ein Dopingskandal den Profisport trifft. Alle reden von Intrigen, Korruption und Heuchelei. Aber wo fängt der Betrug an? Keiner kann das genau sagen. Denn ist es nicht legitim, dass sich ein Sportler um jeden Preis verbessern will? An welchem Punkt können wir sagen, dass er seine „natürlichen“ Grenzen überschreitet? Und mit welchem „künstlichem“ Produkt ist es erlaubt, ihm bei der Verwirklichung seines Traums zu helfen? Durch den wissenschaftlichen Fortschritt verschwimmen die Grenzen dieses Vergehens immer mehr.
Warum erregen uns Dopingprobleme so sehr? Liegt es daran, dass auch die Ethik des Sports betroffen ist?
Dieser Gedanke wird heftig diskutiert, vor allem bei den Niederländern, die so argumentieren:
„Da es nicht möglich ist, einen Ethikkodex für den professionellen Sport zu schaffen, existiert eine entsprechende Ethik nicht.“
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Wir glauben, dass es trotz allem eine Ethik des Sports gibt, die uns aber auf alte Vorstellungen verweist, die bis zu den Rittern des Mittelalters zurückreichen. Es gab einen Ehrenkodex für Kampf, Krieg und Wettbewerb. Als 1896 die Olympischen Spiele erneuert wurden, war die Idee, dass der Sport, der aus bürgerlichen Kreisen stammte, sich an den Idealen der Vergangenheit zu orientieren habe und eine große pädagogische Rolle übernehmen solle. Dieser Gedanke ist heute vielleicht überholt. Doch er war schon vor einem Jahrhundert überholt, denn wir wurden Zeugen der Entstehung eines professionellen Sports ohne Rücksicht auf pädagogische und moralische Regeln.
Wäre es besser über Medizinethik zu sprechen, wenn es um Doping geht?
Zweifellos. In diesem Bereich gibt es einen Ethik-Kodex, den wir für die Sportmedizin übernommen haben. Wie Sie wissen, kann es bei dem Streben nach Leistung zu Entgleisungen kommen. Diese deuten nicht immer auf eine Bereitschaft zum Betrug auf Kosten der Gesundheit des Sportlers hin. Im Gegenteil, ich bin geneigt zu denken, dass Sportärzte, die Sportlern oft sehr nahe stehen, alles tun, um ihnen zu helfen und ihren Erfolg zu fördern. Dabei vergessen sie manchmal eine Reihe grundlegender Prinzipien. Insbesondere, dass die Aufgabe eines Arztes darin besteht, Kranke zu behandeln und nicht, Leistung zu erbringen.
In Staaten, Verbänden und Epochen wurde Doping stets sehr unterschiedlich definiert. In Frankreich wird unter Doping „jede Technik oder jedes Verfahren, das die sportliche Leistung „künstlich“ erhöht“ verstanden.
Das IOC seinerseits hat sich bislang geweigert, eine Definition zu benennen. Warum?
Ganz einfach, weil es unmöglich ist, eine zu finden, die unsere Autorität nicht schmälert. Nehmen Sie das Beispiel Ihrer Doping-Definition. Nicht nur der Begriff „künstlich“ lässt viele Interpretationen zu, sondern es muss hierfür auch der Beweis der Wirksamkeit erbracht werden, bevor ein Produkt als Dopingmittel eingestuft werden kann! Dies ist sehr schwierig. Keine wissenschaftliche Studie hat z.B. die Wirksamkeit anaboler Wirkstoffe außerhalb des Gewichthebens nachgewiesen. Mit der Definition, die Sie mir gerade gegeben haben, gibt es keinen Fall von Doping, der Bestand hätte!
Wie können sie die Grenze zwischen verbotenen und erlaubten Produkten ziehen ohne Definition?
Wir möchten Doping im Namen dreier Prinzipien bekämpfen: Schutz der Gesundheit der Athleten, Verteidigung der ethischen Grundsätze der Medizin und Wahrung der Chancengleichheit für alle. Diese drei Prinzipien leiten unser Denken. Wir lehnen strikt jegliche Definition des Dopings ab. Sie wissen, das wichtigste Argument derer, die Doping liberalisieren wollen, besteht in der Forderung einer Definition. Unsere Definition von Doping ist unsere Liste der verbotenen Produkte!
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Dank der Veröffentlichungen aus aller Welt arbeiten unsere Experten daran, die Eigenschaften der verschiedenen Medikamente, deren Spuren sie im Urin finden, besser zu verstehen. Es ist inzwischen recht selten, dass mir jemand eine Substanz auf den Tisch legt, über die wir nichts wissen. Das geschah in der Vergangenheit insbesondere mit Rentierhornpulver, das aus östlichen Ländern stammte und dessen magische Tugenden für uns völlig rätselhaft waren.
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Stellen wir uns vor, ich sei Hersteller von Medikamenten und dass ich ein Produkt auf den Markt bringen möchte, das „Leistung+“ heißt. Es enthält zwar keines der verbotenen Substanzen, aber ich versichere, dass es die Leistung deutlich verbessern würde. Wie würden Sie reagieren?
… Wir analysieren es und besprechen die gefundenen Inhaltsstoffe mit den Experten, ob wir es zulassen können oder nicht. Bei dieser Diskussion müssen wir diese drei Fragen negativ beantworten werden: Stellt dieses Produkt eine Gefahr für die Gesundheit des Sportlers dar? Verstößt dieses Produkt gegen die medizinische Ethik? Untergräbt dieses Produkt die Chancengleichheit zwischen den Teilnehmern desselben Wettbewerbs?
Inwieweit werden Ihre Entscheidungen dann in den verschiedenen Ländern und Verbänden befolgt?
Wir haben keine Möglichkeiten unsere Liste außer bei den Olympischen Spielen anwenden und durchsetzen zu können. Aber faktisch wurde sie fast überall übernommen. Diese Arbeit der Vereinheitlichung begann 1966, als ich die Präsidenten der einzelnen internationalen Verbände aufsuchte, um ihnen vorzuschlagen, eine einheitliche Liste zu erstellen. Einige Verbände wollten ihre Unabhängigkeit über einen längeren oder kürzeren Zeitraum beibehalten. Schließlich reihten sie sich alle ein, um dumme Fehler wie den im Falle von Pedro Delgado während der Tour de France 1988 zu vermeiden, als dieser Fahrer positiv auf Probenizid getestet wurde, ein Produkt, das auf der IOC-Liste, aber nicht auf der Liste des Internationalen Radsportverbandes stand.
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Ständig kommen neue Produkte hinzu. Viel seltener werden welche entfernt, denn das hieße, alten Dämonen Tür und Tor zu öffnen. Nehmen Sie das Beispiel von Ephedrin, ein Produkt, das heute in Screening-Tests fast nicht mehr vorkommt. … Aber wenn wir es von der Liste nehmen, werden wir, wie in der Vergangenheit, Hunderte Läufer haben, die zu Ephedrin greifen. Zur Erinnerung, dieses Produkt ist in hohen Dosen gefährlich wenn nicht sogar tödlich.
Wenn Sie einen Regelverstoß feststellen, sind Sie dann absolut unnachgiebig bei Ihren Sanktionen?
Nein, jeder „positive“ Fall wird in der Medizinkommission zwischen den Experten, dem Labor und dem Arzt sowie mit dem betroffenen Trainer oder Sportler besprochen. Es wird versucht, die Schwere der Verfehlung zu bestimmen, auf deren Grundlage wir entscheiden, ob wir Sanktionen verhängen oder nicht. Bei den Olympischen Winterspielen in Calgary 1988 untersuchten wir zum Beispiel den Fall eines Sportlers, der „positiv“ auf Phenylpropanolamin war. Wir fanden heraus, dass er am Tag zuvor etwas Halbgares gegessen hatte (?) und eine halbe Alka Seltzer+ genommen hatte, ein Produkt, das in den Vereinigten Staaten frei verkäuflich war. Die Wirkung dieser Brause reichte aus, ihn positiv zu machen. Wir nahmen ihm seine Gutgläubigkeit ab und haben ihn natürlich nicht verurteilt. Das Schlimmste daran war, dass in diesem Jahr Alka Seltzer+ ein Sponsor des amerikanischen Olympischen Komitees war und überall beworben wurde!
Und in Grenzfällen, wenn der Sportler an der Grenze zur Regelwidrigkeit steht?
Bei den letzten Sommerspielen in Seoul hatten wir den Fall eines Athleten, dessen Testosteron/Epitestosteron-Quotient sechs betrug, das ist genau der Wert, der willkürlich als Dopinggrenze festgelegt war. Wir haben fünf Tage lang an diesem Fall gearbeitet und am Ende haben wir diese Person nicht sanktioniert. Wir sind lieber das Risiko eines kleinen Fehlers eingegangen, als eine folgenschwere Ungerechtigkeit zu begehen.
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Wir wissen heute, dass bei den Spielen 1984 in Los Angeles die amerikanischen Radrennfahrer, die alle Medaillen gewannen, großzügig Eigenbluttransfusionen praktiziert hatten. Gibt es ähnliche Fälle verbotener Praktiken, die mit den derzeitigen Mitteln der Dopingbekämpfung nicht nachgewiesen werden können?
Wir können die Injektion von Wachstumshormonen immer noch nicht nachweisen. Allerdings ist es auch nicht sicher, dass es funktioniert. Es hat den Anschein, dass in diesem Falle der Preis (drei Injektionen pro Woche zu je 100 Dollar) eine stärkere Bremse ist als die Angst vor einer positiven Kontrolle. Was das Doping mit Hormonen betrifft, gibt es jetzt einen sehr interessanten Test, das „Steroidprofil“, das eine Art Historie der Medikamentengewohnheiten erstellt. Aber im Moment können wir das noch nicht als Beweis für die Schuld eines Sportlers verwenden. Schließlich können einige Substanzen, wie z. B. Erythropoetin, nur mit Hilfe von Blutkontrollen nachgewiesen werden. Entsprechende Kontrollen könnten in mehr oder weniger naher Zukunft in Erwägung gezogen werden.
Betreiben wir ein wenig Sportfiction und nehmen an, die Sportmedizin kann in ein paar Jahren Wunder vollbringen. Die Veränderung des Ansatzes eines Muskels bei einem Pitcher zum Beispiel, die es ermöglichen würde, seinen Hebelarm zu vergrößern. Dies würde zu einer neuen Form des Dopings, zu einer Art chirurgischen Dopings führen. Was halten Sie davon?
… das Gespenst des chirurgischen Dopings ist vielleicht gar nicht so weit weg. Im Bodybuilding gibt es zum Beispiel Sportler, die sich Implantate einsetzen ließen, um den einen oder anderen Teil ihrer Anatomie zu entlasten.
Sie wissen, die Möglichkeiten zum Doping sind so vielfältig, dass wir sehr wachsam sein müssen. Kürzlich haben wir in einer Broschüre die verschiedenen Dopingtechniken um den Begriff der „Manipulation“ ergänzt. Wir denken bereits an die Möglichkeit genetischer Manipulationen oder an Wachstumsmanipulationen an jungen Sportlern.
Schlussendlich: Glauben Sie nicht auch, dass im Bereich des Dopings die Unterscheidung zwischen Betrug und Gutgläubigkeit heute schwieriger zu treffen ist als in der Vergangenheit?
Ja, ich denke schon. Diese Fragen betreffen nicht nur Dopingfragen sondern berühren alle Aspekte des Lebens von Sportlern. Derzeit fehlt den professionellen Sportlern ein rechtlicher Rahmen völlig. Es gibt um sie herum ein rechtliches Vakuum, das oft Exzessen Tür und Tor öffnet. Warum ist das so? Ganz einfach, weil der Profisport ein junges gesellschaftliches Phänomen ist, das noch auf der Suche nach seinen Regeln und Bezügen ist und wir durch unsere Arbeit versuchen, ihm dabei zu helfen, seinen Weg zu finden.