China und Doping in den 90er Jahren
Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts glänzte China mit erstaunlichen Leistungen im Schwimmen und in den Laufdisziplinen der Frauen. Bald kamen erste Dopingvermutungen auf, die allerdings nicht bewiesen werden konnten.
Während des gesamten Jahrzehnts kam es immer wieder zu bemerkenswerten Leistungssteigerungen chinesischer Sportler, doch es blieb nicht bei Gerüchten, viele Athleten wurden des Dopings überführt. China erschien als Land, in dem Doping an der Tagesordnung war.
Die deutschen Medien berichteten damals ausführlich über das chinesische Athletenwunder und die sie begleitenden Verdachtsmomente. Es ergaben sich schwierige Situationen für die Verbände und Funktionäre. So forderten z. B. 1994 der Deutsche und der USamerikanische Schwimmverband Sanktionen gegenüber China, doch damit lenkte man nur die Aufmerksamkeit auf die eigenen Dopingverfehlungen (s.u.). Die Skandale um Ben Johnson und Trainer Springstein mit den Läuferinnnen Katrin Krabbe und Grit Breuer waren nicht vergessen. In den höchsten Sportfunktionärskreisen war man sich dieses Problems durchaus bewusst. Zu den Abwehrmechanismen siehe
>>> Treutlein: Dopingverdächtigungen.
Im Folgenden sind Texte zu finden, die sich mit Hintergründen der chinesischen Dopingkultur beschäftigen. Exemplarisch dafür stehen die Geschehnisse rund um den Trainer Ma Junren. Dieser Fall zieht sich durch dieses gesamte Dossier.
Inhalt System I:
Kooperationen unter kommunistischen Brüdern
Übernahm China das DDR-Dopingsystem?
das chinesische Laufwunder
Interview mit Sportminister Wu Shaozu 1995
Kooperationen unter kommunistischen Brüdern
Eine Zusammenarbeit im Sport zwischen osteuropäischen Staaten und China gab es bereits in den 80er Jahren.
>>> der Spiegel, 3.08.1992: Alles erlaubt
Zitate:
„Bis Ende der achtziger Jahre gaben Austauschtrainer aus der DDR ihr Wissen vor allem an die Schwimmer weiter, für Zhuang Yong etwa wurde ein langjähriger Trainingsplan aufgestellt. Dabei floß so viel Know-how, daß Manfred Ewald, Chef des DDR-Sports, bei den National Games 1987 in Kanton Geheimnisverrat witterte und einen Tobsuchtsanfall bekam.
Mit Erfolg: Bis zum Freitag abend hatten die Chinesen 24 Medaillen gewonnen, davon 8 goldene. In der Nationenwertung lagen die Asiaten auf Rang drei. In dieser Woche sieht das Plansoll weiteres Edelmetall im Badminton, Boxen, Tischtennis, Kunstspringen und in der Leichtathletik vor.
Im 1,2-Milliarden-Staat, in dem schon Vierjährige zu Spitzenleistungen getrieben werden (SPIEGEL 20/1992), wird quer durch alle Disziplinen geschluckt.“
Mit dabei war Klaus Rudolph, Schwimmtrainer, der seit 1985 für die Planung des Trainingsprogramms der Chinesinnen zuständig war (Treutlein: FAZ, 2./3.10.1990). Rudolph, auch 2008 noch beim DSV aktiv, hatte 1999 eingeräumt, Dopingtabletten angeordnet und überwacht zu haben. (der Spiegel, 22.10.2007)
Übernahm China das DDR-Dopingsystem?
Nach der deutschen Wiedervereinigung und dem damit einhergehenden Zusammenbruch des DDR-Staatsdopingsystem waren die Fähigkeiten der ehemaligen DDR-Trainer und Trainerinnen weltweit gefragt.
China meldete sich ebenfalls.
Zitate:
„Als Ziel vieler Berufswünsche gilt derzeit China, das mit sportlichen Erfolgen Imagewerbung betreiben möchte. In Peking dürfen sich die DDR-Experten in die Honecker-Zeit zurückversetzt fühlen. Die Leistungssportler sind alle in der Tijuguan-Straße kaserniert, die durch zwei Zivil-Kontrollen hermetisch abgeriegelt ist. Das Haus, in dem die Sportmediziner untergebracht sind, wird durch einen dritten Posten gesichert.
Dort kann unbeobachtet geforscht werden. Mit Erfolg: Im Januar wurde die erst zwölf Jahre alte Fu Mingxia jüngste Weltmeisterin im Turmspringen. Und seitdem die „phänomenalen Chinesinnen“ (Süddeutsche Zeitung) auch im Schwimmen, im Gewichtheben und in der Leichathletik innerhalb kürzester Zeit in die Weltspitze vordrangen, gilt China als Doping-Eldorado.“
Das Sportsytem des kommunistischen Chinas wurde schnell mit dem der ehemaligen Ostblockländer, insbesondere mit dem der DDR verglichen. Es galt als nahezu perfekt. Daher überraschten erste aufgedeckte Dopingskandale, wie die Überführung von 11 Athleten, darunter 7 Schwimmern während der Asienspiele in Tokio September 1994.
Zitate:
„Der Überrumplungstest gleich nach der Landung brachte endlich den Beweis für einen weltweit gehegten Verdacht: Chinas Sportler bedienen sich ungeniert im Reich der Mittel.
Der Fahndungserfolg überrascht. Denn die Chinesen galten bisher als Nachfolger der Fachdoper der DDR, die trotz ihrer flächendeckenden Arbeitsweise so gut wie nie erwischt worden waren. Trainer und Sportwissenschaftler des Honecker-Staates hatten die kommunistischen Brüder rechtzeitig mit dem Know-how über Mittel, Anwendung, Training und Ausreisekontrollen vor Wettkämpfen versorgt.
Die Chinesen lernten schnell und siegten bald. Obwohl tiefe Stimmen, breite Schultern und Akne auf Doping hinwiesen, blieben Trainings- und Wettkampfkontrollen meist ohne Befund. Als dann die Schwimmweltmeisterin Aihua Yong eher zufällig überführt wurde, wuchs der Druck, gegen die Chinesen mit allen Mitteln vorzugehen.“
Schwimmverbände forderten umgehend harte Maßnahmen gegen China, doch dies hätte auch ein Eigentor werden können, denn
„Auch die Deutschen hätten besser geschwiegen. Kaum waren die mit Dihydrotestosteron aufgepäppelten elf Chinesen – darunter auch Weltmeisterin Lu Bin – erwischt, wurde der Leverkusener Läufer Martin Bremer, Dritter beim Weltpokal über 5000 Meter, ebenfalls des Testosteron-Dopings überführt. Und so wie die chinesische Sportführung die Sündenfälle als „Akt von Individuen“ runterredete, sprachen auch die deutschen Funktionäre von einem „Einzelfall“.
Und der DSV hat gerade erst im Innenministerium mit Erfolg um eine Anstellung für den Trainer Uwe Neumann nachgesucht. Den hat Olympiasiegerin Rica Reinisch des Dopens von Kindern bezichtigt; auch in alten DDR-Akten finden sich Hinweise darauf. Der DSV möchte nun, daß „wieder Kontinuität in die sportliche Arbeit einzieht“.“
Berliner Zeitung, 19.12.1994:
Jacques Rogge, heute IOC-Chef, sprach 1994 China von den Vorwürfen des Staatsdopings nach DDR-Manier frei.
Zitat:
„“Es gibt keine Beweise, nur Gerüchte.“
Was man verläßlich nach der Aufdeckung der elf Verfehlungen chinesischer Sportler, darunter sieben Schwimmerinnen, sagen könne, sei: „Es existieren in China Doping-Inseln. Es müsse um die zum Teil noch jugendlichen Sportler herum ein Umfeld aus Trainern und Betreuern geben, das sich in der Technik von Hormon-Doping bestens auskennt. „Diese Leute müssen vor allem bestraft werden.“ Doch ein Zusammenhang dieser Doping-Inseln im Sinne eines „zentralorganisierten Betrugs“ sei nicht ersichtlich.“ Nach Rogge beruhe die chinesische Doping-Problematik in China vor allem auf „einem Fehlen von Kontrolle“.“
FAZ, 10.1.1998:
Auch nach den Vorfällen bei der Schwimm-WM in Perth 1998, als der Zoll Ampullen mit Wachstumshormonen sicherstellte, wurde wieder vermutet, in China handle es sich um staatlich organisiertes Doping. Auch jetzt gab es verneinende Stimmen.
Zitate:
„“Wir kämpfen ernsthaft gegen Doping“, sagte Delegationsleiter Shi am Freitag und wurde dafür ausgelacht. Aber er könnte sogar die Wahrheit gesagt haben. Im Gegensatz zur DDR ist Doping in China nicht staatlich organisiert. Im Gegenteil. Der nationale Verband hat vor kurzem harte Regeln erlassen, die den Medikamentenmißbrauch verhindern sollen, und ein eigenes Kontrollsystem aufgebaut. „Doping in China ist eine individuelle Sache und keine professionelle. Deshalb werden immer wieder Fehler gemacht und immer wieder Athleten erwischt“, sagt John Leonard, geschäftsführender Direktor des Weltverbandes der Schwimmtrainer. 22 Schwimmer aus dem Reich der Mitte sind schon positiv getestet worden, DDR-Schwimmern ist das nie passiert. Der Amerikaner kämpft seit vielen Jahren gegen Doping im Schwimmen und gilt als einer der größten Kenner der Materie.“
„Ncht nur der Schwimmer profitiert von dem Titel, auch die Provinz, für die er antritt. Der Prestigegewinn fällt auf die Politiker und Industriellen zurück, die die Mannschaft unterstützen. Deshalb finanzieren Politiker und Industrielle die Vorbereitung der Sportler sehr großzügig. Das Geld wird an die Trainer übergeben, die es verwenden können, wie sie wollen. Manche investieren es in teure Hormonkuren. Dabei werden viele junge Athleten gar nicht von ihren Trainern gefragt, ob sie mit der Medikamenteneinnahme einverstanden sind, sie stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis. Die Trainer haben den Eltern ihrer frisch entdeckten Talente eine Ablösesumme gezahlt. Dafür unterschreiben die Eltern, daß die Trainer mit ihren Kindern tun können, was sie für richtig halten. „Das Doping in China geschieht völlig außer Kontrolle der Verbände. Doping ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen“, sagt Leonard. Der Druck der Konkurrenz verführe dazu, jedes Mittel auszuprobieren, um an das Geld der Mäzene zu kommen. Der Gewinn ist immens. Wer einen nationalen Titel gewinnt, hat – anders als in Europa – ausgesorgt. Wer erwischt wird, hat kaum Nachteile. Im Gegensatz zur westlichen Welt wird Doping in China gesellschaftlich nicht gegeißelt.“
Auch heute noch geht die Auseinandersetzung darüber, ob es sich in China um ein Staatsdoping-System handelt, weiter und auseinander.
Siehe >>> das System II.
Fallbeispiel: das chinesische Laufwunder 1993
„Die magische Arznei für Weltrekorde basiert auf einem Reisgericht mit einer Mischung aus Brustbeerensaft, Hunderagout, Hühnerbrühe und Pilzextrakten.“
Ma Junren, 1993
Dieses Beispiel rund um Trainer Ma Junren ragte in den 90er Jahren wie die Spitze eines Eisberges aus dem Meer des unergründlichen Sportlandes Chinas. Man kann davon ausgehen, dass Ähnliches auch in anderen Bereichen des chinesischen Sports geschah.
1993 tauchten plötzlich erstaunlich viele chinesische Läuferinnen in der Weltbestenliste auf. Die Leistungsexplosion rief Kopfschütteln hervor und verlangte nach Erklärungen. Schnell wurden Dopingvorwürfe laut. Der chinesische Frauentrainer Ma Junren hatte viele Argumente zur Erklärung parat (s.a Täter und Opfer).
Chinesinnen in der Weltbestenliste
1987 | 1988 | 1989 | 1990 | 1991 | 1992 | 1993 | |
** | |||||||
800m | 0 | 0 | 1* | 0 | 0 | 8 | |
1500m | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 12 | |
3000m | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 9 |
5000m | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 | 0 |
10000m | 3 | 3 | 1 | 2 | 2 | 2 | 11 |
Marathon | 0 | 1 | 1 | 2 | 0 | 2 | 8 |
Gesamt | 3 | 4 | 3 | 4 | 2 | 6 | 48 |
Auch in den internationalen Verbänden und unter Funktionären kursierte Misstrauen, doch solange keine Beweise für Betrug vorlagen, galt die Unschuldsvermutung, zumal immer genügend Gründe gefunden wurden, die gegen Doping sprachen. So standen sich schnell pro- und contra-Argumente unversöhnlich gegenüber. Die Abwiegler hatten leichteres Spiel.
Prof. Gerhard Treutlein hat exemplarisch den Diskurs der damaligen Jahre zusammengefasst:
>>> Dopingverdächtigungen bei Höchstleistungen
1994 war dann mit hervorragenden Leistungen, die die chinesischen Läuferinnen aus dem Feld der anderen Weltklasseläuferinnen hervorhoben, Schluss – aber nicht mit einem weltweiten Anstieg der Ausdauerleistungen. Die EPO-Ära lässt sich hier nachweisen (s. Bild-Tabelle).
Interview mit Sportminister Wu Shaozu 1995
der Spiegel: Sportminister Wu Shaozu: „Wir sind keine zweite DDR“, 3.7.1995
(…)
SPIEGEL: (…) wird systematisch gedopt?
Wu: Wir dürfen nicht vergessen, daß Doping eine Erfindung des Westens ist. Als ich vor sechs Jahren Sportminister wurde, erließ ich deshalb drei Auflagen: strenges Verbot von Doping, intensive Kontrollen und harte Strafen. Sobald ein Athlet des Dopings überführt wird, ziehen wir ihn zur Rechenschaft – selbst wenn es sich um einen Weltmeister handelt. Doch bei den positiven Befunden bei unseren Sportlern meldeten wir erhebliche Zweifel an.
SPIEGEL: Was soll denn an den Tests nicht korrekt gewesen sein?
Wu: Das Ergebnis wurde erst nach einem Monat bekanntgegeben, da blieb viel Zeit für mögliche Manipulationen. Ferner wurde das Labor selbst nicht überprüft. Es gab unserer Meinung nach zu viele unzuverlässige Ergebnisse dort.
SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, China sei betrogen worden?
Wu: China wurde von ausländischen Medien verleumdet, die behaupteten, die chinesische Regierung, das staatliche Sportkomitee und das Olympische Komitee Chinas hätten das Doping organisiert. Trotzdem haben wir die Meinung der internationalen Verbände respektiert und alle Sportler bestraft, die angeblich leistungssteigernde Präparate zu sich genommen haben.
SPIEGEL: Auf Drogenbesitz stehen in China hohe Gefängnisstrafen. Die Sportler sind blutjung, oft auf dem Lande aufgewachsen. Wie sollen die denn an Dopingmittel gekommen sein, wenn sie sie nicht von offiziellen Stellen oder Trainern erhalten haben?
Wu: Zugegebenermaßen gibt es bei uns Leute, die sagen: In Europa wird gedopt, wenn wir es nicht tun, geraten wir ins Hintertreffen. Deshalb betone ich: Wir nehmen keine leistungssteigernden Mittel, auch wenn uns deshalb Goldmedaillen entgehen; mögen andere auch dopen, wir nicht.
(…)
SPIEGEL: Deswegen haben die Erfolge chinesischer Sportler den Beigeschmack des Staatssports wie in der DDR.
Wu: Wir sind keine zweite DDR im Sport. Unsere Methoden der Sportförderung sind mit denen der DDR nicht identisch, wir planen Siege nicht voraus. Grundlegendes Ziel unseres Sportwesens ist es, die Konstitution des Volkes zu stärken. Wir legen großen Wert auf die Erziehung der Sportler von klein auf. Sie dürfen nichts unternehmen, was für das Land unvorteilhaft wäre. Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Genosse Jiang Zemih, hat wiederholt gesagt, vor Siegen soll man nicht hochnäsig sein, nach Niederlagen darf man nicht den Kopf verlieren.