Doping: 1998-2000 Festina – Affaire

Dopingaffairen / Prozesse im Radsport

1998 – 2000 Lille, Festina-Affaire

Mittwoch, 8. Juli 1998: Willy Voet, Pfleger des Teams Festina, wird an der belgisch-französischen Grenze überprüft. In seinem Auto finden die Beamten eine beachtliche Menge an Medikamenten: Dialysemittel, Anabolika, Wachstumshormone, Blutverdünner, Corticosteroide und über 400 Ampullen EPO. Voet kommt in Untersuchungshaft, umfangreiche Ermittlungen beginnen.

Die Folgeereignisse im Schnelldurchlauf: Die Verantwortlichen bei Festina leugnen und geben sich unbesorgt, doch nach Voets Geständnis lässt sich die Aussage, die Mittel seien Voets Eigenbedarf, nicht aufrechterhalten. Bruno Roussel, sportlicher Leiter und Eric Ryckaert, Teamarzt, werden am 15. 7. festgenommen, das Teamhotel wird durchsucht. Die Lage scheint ernst, die UCI suspendiert Roussel, der bald darauf organisiertes Teamdoping unter ärztlicher Aufsicht und die Existenz schwarzer Kassen zum Kauf von Dopingsubstanzen zugibt. Die Equipe Festina mit dem französischen Nationalhelden Richard Virenque wird von der Tour ausgeschlossen. Nach einer vorübergehenden Festnahme der Festina-Fahrer gestehen sieben, nur Pascal Hervé und Richard Virenque leugnen.

Dem Peloton werden die polizeilichen Maßnahmen und die Focusierung auf das Thema Doping zuviel, sie streiken auf der 12. Etappe, die mit zwei Stunden Verspätung fortgesetzt wird, ihr Verhandlungsführer ist Bjarne Riis. Politiker, Teammanager und Funktionäre wiegeln ab und fordern gleichzeitig mehr Blutkontrollen, die französische Regierung will das Anti-Doping-Budget verdreifachen, auch Telekom will zusätzliche finanzielle Mittel für den Antidopingkampf zur Verfügung stellen.

Der Machtkampf zwischen Polizei und Tour-Teilnehmern geht weiter. Die polizeiliche Überprüfung der Fahrer des Teams TVM führt zu einem Bummelstreik, doch weitere Mannschaften müssen sich Durchsuchungen gefallen lassen. ONCE, Banesto, Riso Scotti, Kelme und Vitalico fahren heim. Manolo Saiz (ONCE) tobt, er sieht Menschenrechte und Rechte der Fahrer vergewaltigt. Der Organisator der Vuelta, Unipublic, erwägt Frankreich in der nächsten Vuelta zu meiden. Welche Show hier allgemein veranstaltet wurde, zeigt dabei folgende kleine Episode aus dem US Postal Team. Mehrere Personen erzählten David Walsh von Medikamenten, die in einem USP-Campingbus die Toilette hinunter gespült wurden, als die Bedrohung durch die durchsuchungswillige Polizei zu hoch wurde. Ein Fahrer, der dabei war, möchte aber anonym bleiben.

Erste Sperren werden ausgesprochen: Die schweizer Festina-Fahrer Alex Zülle, Laurent Dufaux, Armin Meier erhalten je 7 Monate Fahrverbot, die später von der UCI auf 6 verkürzt werden. Laurent Brochard, Didier Roux, Christophe Moreau müssen je 6 Monate pausieren. Der australische Verband sah sich gegenüber Neil Stevens ohne Beweise und verhängte keine Sanktion.

Ende September 2000 wird der mittlerweile schwer erkrankte Festina-Teamarzt Eric Ryckaert in Gent (Belgien) wegen Versorgung der Festina-Mannschaft mit Dopingmitteln in den Jahren 1995 – 1997 zu einer Strafe von ca. 15 000 FF, die Hälfte auf Bewährung, verurteilt. Er stirbt bevor in Frankreich das Verfahren gegen ihn beendet ist.

Der Prozess in Lille beginnt am 23. Oktober 2000. Jetzt geben auch Hervé und Virenque ihr Leugnen auf, doch ein Unrechtsbewusstsein hatten sie nicht, medizinische Leistungssteigerung gehöre dazu, Doping sei, wenn man erwischt wird.

Sie wussten es alle:
Gérard Nicolet, Mediziner FFC:
„Die letzten zwei, drei Jahre sind wir gegen die Wand gefahren. Die Fahrer hatten keine Wahl mehr, die Situation des « alle sind gedopt », eine verbreitete Meinung, wurde weitgehend erreicht. Noch schlimmer, man hat sich an das Anormale gewöhnt.

Seit einigen Monaten stelle ich in meiner Praxis fest, dass immer schlimmere Mittel verwendet werden. EPO ist leider ein klassisches Mittel geworden. Andere Mittel sind noch gefährlicher wie z.B. das PFC (Perfluorcarbon), Mittel, die auf unwahrscheinlichen Wegen in den Leistungssport hineingeraten. Die Fahrer besorgen sie sich außerhalb der Medizin, d.h. bei ihrer Anwendung sind sie dann ohne jegliche kompetente Hilfe. Solche Mittel sind in Krankenhäusern noch im klinischen Versuchsstadium.

Seit Monaten organisieren wir Meetings zum Doping-Thema. Ich versammle Leute um mich, aber offensichtlich sind sie wenig motiviert. Diese Affäre erfüllt zumindest den Zweck eines deutlichen Warnzeichens. Aber als Arzt sage ich, wir sind gerade einmal in der Phase der Diagnose.

Seit Monaten bearbeitet die Medizinische Kommission der FFC (Radsportverband) um Mégrte mit uns das Thema. Dort läuft eine heftige Diskussion ab. …“

(Le Monde, 26.7.1998)

Es wurde viel gebeichtet und aufgeklärt während des Prozesses, aber auch viel verschleiert und kleingeredet von Funktionären und Managern, die als Zeugen geladen waren. Die Verhandlungen ließen aber keine Zweifel daran, dass der Profiradsport ohne hochkomplexes Doping mit einer Vielzahl von Medikamenten, insbesondere mit EPO, Wachstumshormonen, Anabolika, Betablockern, Blutverdünnern, Corticoiden, Antidepressiva und Amphetaminen kaum noch funktionierte.

Am 22.12.2000 erfolgte die Urteilsverkündung: Die Fahrer waren, da Konsumenten, nicht angeklagt, lediglich Virenque musste sich verantworten, er wurde freigesprochen. Bruno Roussel erhielt ein Jahr Gefängnis auf Bewährung sowie eine Geldstrafe über 50 000 FF, Willy Voet 10 Monate auf Bewährung plus 30 000 FF, Soigneur Jeff d’Hont neun Monate auf Bewährung, Apothekerin Christine Paranier und der Teamarzt der spanischen ONCE-Mannschaft, Nicolas Terrados, mussten 30 000 FF beziehungsweise 10 000 FF Strafe zahlen. Die milden Strafen wurden wegen der Haltung der Sportverbände ausgesprochen, die Mitschuld daran trügen, dass im Profiradsport Doping kaum noch als Unrecht angesehen werde. UCI und FFC mussten sich herbe Vorwürfe gefallen lassen. Vor allem der UCI wurde Untätigkeit im Kampf gegen Doping, Sprechen mit zweierlei Zunge und die Duldung eines dopingfreundlichen Klimas vorgeworfen.

Hervé erhielt eine Sperre von 2 Monaten, eine zuvor von ihm ‚freiwillig’ genommene wurde ihm angerechnet, Virenque sollte für 9 Monate aussetzen, doch der Internationale Sportgerichtshof reduzierte die Zeit im März 2001 um zwei und einen halben Monat.

Kam die ganze Wahrheit im Prozess ans Licht? Glaubt man Äußerungen von Bruno Roussel, zusammengefasst von Eric Maitrot in seinem Buch „Les scandales du sport condaminé“, blieb ein Großteil im Dunkeln. Es gab andere Personen, die Dopingmittel für das Team Festina während der Tour de France diskret von Etappe zu Etappe transportieren sollten. Von Voets Fahrt wollen die Festina-Verantwortlichen nichts gewusst haben, zudem sei die Menge viel zu groß gewesen für ein Team allein. War Willy Voet noch für andere Mannschaften unterwegs, arbeitet er auf eigene Rechnung? Auch soll nach Roussel (Tour de Vice) ein Pfleger einer anderen Mannschaft nach Voets Verhaftung das Festina-Team mit eigenen spanischem Produkten versorgt haben. Warum wurden im Prozess diese Fragen nicht gestellt, warum wurde entsprechenden Indizien nicht nachgegangen? Wollte man von ganz oben eine ‚begrenzte’ Affaire? Einiges deutete daraufhin.

Nachtrag:

2009 veröffentlicht Patrick Keil, Richter im Festina-Prozess sein Buch „Du barreau aux barreaux“, in dem er davon berichtet, dass von vielen Seiten versucht wurde – und dies dann auch gelang – die ganze Wahrheit nicht an den Tag kommen zu lassen. Er spricht von weiteren Teams, die betroffen waren und von anderen Sportarten, wie Fußball, die man näher hätte betrachten müssen. Patrick Keil gelang es nach dem Prozess nicht weiter Karriere zu machen. Er fiel beruflich und privat in ein Loch und wurde depressiv. 2008 musste er wegen einer Korruptionsaffaire ins Gefängnis. Danach arbeitete er in einem Buch seine Erfahrungen auf. Auf jeden Fall sei das gesamte Sportsystem informiert gewesen.

„Bei diesem überall stattfindenden Doping, das institutionalisiert und internationalisiert ist, gibt es meiner Meinung nach Labors, Ärzte, wahrscheinlich mafiöse Strukturen … Die Existenz einer schwarzen Kasse , die mit Prämien gefüllt wird, reicht nicht aus, um Doping dieser Größenordnung zu erklären. Es gab zwangsläufig Finanzmittel von außen Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die Sponsoren wussten, was sich abspielte. Ich kann mir schlecht einen Sportdirektor vorstellen, der ein solches Dopingsystem installiert, ohne zuvor die Zustimmung hierzu eingeholt zu haben. Alle seitdem gemachten Erklärungen zum Kampf gegen Doping sind eine einzige große Heuchelei.“ (l’Humanité, 23.11.2009)

Zitate aus diesem l’Humanité-Artikel:

Zehn Jahre nach dem Festina-Affäre: Die Zeit steht nicht still …

Patrick Keil war der bekannteste Untersuchungsrichter des Monats Juli 1998 in Frankreich. Während der Fußball-Weltmeisterschaft in Frankreich entzündete sich die der Festina-Affäre, nachdem der Pfleger des Festina-Rad-Teams, Willy Voet, festgenommen wurde, weil in seinem Auto an der belgisch-französischen Grenze viele Doping-Substanzen gefunden wurden. Die Tour de France war erschüttert, das Fahrerfeld fuhr gleichsam auf den Felgen, weil Patrick Keil, der „kleine“ Richter in Lille (1,57 m groß), seine Aufgabe ganz schnell erledigte. Später wurde er vom Dienst ausgeschlossen wegen seiner Verurteilung aufgrund Verletzung der Geheimhaltung von Ermittlungen in einem Betrugsfall zuungunsten einer Krankenversicherung; er schildert in seinem Buch „Du barreaux aux barreaux“ (Vom Richter zum Angeklagten) seinen Absturz in die Hölle, aber auch die Festina-Affäre, die ihm mit aller Wahrscheinlichkeit seine Juristen-Karriere zerstört hat.

Können Sie sich erinnern, unter welchen Umständen Sie die Aufgabe der Bearbeitung der Festina-Affäre übernommen haben?
Patrick Keil: Ich hatte an einem Tag Bereitschafts-Dienst, an dem ich besser keinen Dienst gehabt hätte. Zunächst dachte ich, ich könnte diese Affäre wie eine einfache Drogen-Affäre behandeln. Ich konnte mir in keiner Weise vorstellen, welchen Aufruhr dies alles nach sich ziehen würde. Erst an der mir gegenüber gezeigten Verachtung wurde mir klar, dass es sich nicht um einen Fall wie viele andere handelte.

Wann und wie haben Sie diese Abneigung gegen Sie gemerkt?
Gleich am ersten Tag ließ die Staatsanwaltschaft in einem Presse-Communiqué wissen, dass das Verfahren keine Auswirkungen auf die Tour de France haben würde und man die Fahrer fahren lassen würde. Bald darauf bekam ich von meinem Vorgesetzten Ratschläge; er sagte mir einerseits, dass ich auf jeden Fall unabhängig sei, ich aber zugleich auch an meine Karriere denken solle. Herr Richard Virenque würde auch noch in ein paar Jahren bekannt sein, während ich … Die Staatsanwaltschaft hat mir Knüppel zwischen die Beine geworfen. Die Durchführung einiger Verhöre war nur mit großen Schwierigkeiten möglich. Aber das war nicht alles; montags – gerade mal 48 Stunden nach dem Beginn der Affäre – wurde mein Büro durchsucht. Kolleginnen und Kollegen verlangten Rechenschaft zu anderen von mir bearbeiteten Fällen. Davon hatte ich immerhin rund 100.
(…)
Bedeutet dies, dass es immer noch Grauzonen, nicht aufgeklärte Spuren gibt?
Während meiner Untersuchung merkte ich, dass es Doping auch bei anderen Teams gab. Die befragten Fahrer sagten mir alle, sie seien vom Umfang des Phänomens beim Festina-Team nicht überrascht, denn in ihren vorhergehenden Teams hatten sie auch mit Doping Bekanntschaft gemacht. Sie erwähnten die Teams Once, Crédit Agricole, la Française des Jeux, manche habe ich vergessen …
(…)
In unserer Gesetzgebung gab es damals noch nicht den Begriff der Mittäterschaft durch Untätigkeit wie in der Clearstream-Affäre, sonst würde ich sagen, dass Leute wie Roger Legeay (Manager des Teams Crédit Agricole – Ed), Jean-Marie Leblanc (Direktor der Tour de France), Daniel Baal (ehemaliger Präsident der Französisch Radsport-Verbands) oder Hein Verbruggen (ehemaliger Präsident der UCI–internationaler Radsport-Verband) verurteilt worden wären.
(…)
Bei diesem überall stattfindenden Doping, das institutionalisiert und internationalisiert ist, gibt es meiner Meinung nach Labors, Ärzte, wahrscheinlich mafiöse Strukturen … Die Existenz einer schwarzen Kasse, die mit Prämien gefüllt wird, reicht nicht aus, um Doping dieser Größenordnung zu erklären. Es gab zwangsläufig Finanzmittel von außen. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass die Sponsoren wussten, was sich abspielte. Ich kann mir schlecht einen Sportdirektor vorstellen, der ein solches Dopingsystem installiert, ohne zuvor die Zustimmung hierzu eingeholt zu haben. Alle seitdem gemachten Erklärungen zum Kampf gegen Doping sind eine einzige große Heuchelei.

Demnach sagen Sie, dass auch andere Sportarten das Doping-Problem haben?
Ja, aber darüber habe ich nichts gesagt, denn ich hatte genug mit dem Radsport zu tun. Vergessen Sie nicht, dass wir mitten in der Fußball-WM in Frankreich waren. Alle Fahrer erzählten mir von Fußballern, die eine entsprechende Behandlungen erhalten hatten. Dies wussten sie, weil sie alle die gleichen Ärzte und Pfleger hatten. Diese Behauptungen betrafen vor allem Fußballer der französischen und italienischen Nationalmannschaft. Ich hätte einige Beweisstücke herausnehmen können, um sie in die Voruntersuchung einfließen zu lassen, ich habe es nicht getan.

Hatten Sie Beweise?
Dies findet sich alles in den Verhör-Protokollen einiger Fahrer …
(…)

Interview: Eric Serres

Literatur

Die Vielfalt der Informationen und Kommentare hierzu, auch im Internet, ist groß. Eine einfache Suchanfrage bringt Lesestoff für Stunden.

Im Folgenden ein paar Hinweise, die zu den grundlegendsten Informationen führen:

Eine umfassende Chronologie und Analyse des Skandals ist zu finden in dem Buch
>>> ‚Doping von der Analyse zur Prävention‘ von Singler/Treutlein

Willy Voet, der mit einem Auto voller Dopingmittel vom französischen Zoll festgenommen wurde, schildert seine Sicht der Dinge in dem Buch  >>> ‚Gedopt‘.

Auch Bruno Roussel, der sportliche Direktor der Equipe Festina hat ein Buch geschrieben:
‚Tour de Vice‘ (Hachette Littératures), indem er gute Einblicke gewährt.

Einige französische Bücher arbeiten den Prozess in Lille bzw. die Festina-Affaire gut auf, erwähnt seien hier
Le Procès du Tour, dopage: les secrets de l’enquête‘ von Fabrice Lhomme und
Les scandales du SPORT CONDAMINÉ, Èric Maitrot