1950 – 1980, die Hoch-Zeit der Amphetamine
Normalität
Zu den wichtigsten Stimulantien oder Aufputschmitteln gehörten bald nach ihrer Entwicklung in den 30er Jahren die Amphetamine (hier mehr Infos zu Amphetaminen, s. a. hier zur Doping und Dopingforschung in den 50er Jahren). Fausto Coppi soll bereits 1942 den Stundenweltrekord von Maurice Archambaud mit Hilfe von „sieben Amphetaminportionen“ geschlagen haben. (de Mondenard, S.19) Ihre Hoch-Zeit im Radsport begann dann in den 50er Jahren. Sie können die Müdigkeit unterdrücken und führen zu einer bessere Ausschöpfung der körperlichen Möglichkeiten, erhöhen damit die Leistungsfähigkeit. Noch heute gehören diese Substanzen weltweit zu den am häufigsten festgestellten Dopingmitteln. Sie werden während des Wettkampfes eingenommen und in Zeiten intensiver Trainingsphasen.
1955 testete die Vereinigung der Italienischen Sportmediziner den Urin von 25 Radsportlern während eines Etapenrennens, 20 % der Proben waren positiv auf Amphetamine. 1962 waren bei angekündigten, nicht unter Strafandrohung stehenden Amphetaminkontrollen bei den italienischen Amateurradmeisterschaften 14 von 30 Topfahrern positiv (47.6%). (Mark Johnson)
Praktisch sah das dann so aus:
„Wer die Fahrer ein paar Stunden vorher gesehen hatte, konnte sie direkt vor einem Rennen nicht mehr wieder erkennen… Was nehmen wir denn heute? Methedrin? Hurra! Wir spritzen uns das Zeug selbst, ohne auch nur einen Gedanken an Hygiene zu verschwenden, 15 mg in den rechten Oberschenkel, 15 mg in den linken, 10 mg Ephedrin in den Rücken, damit du leichter atmen kannst, und dann noch eine Dosis Solucamphor, um die Muskeln zu lockern. Das war nett. Mit einer Ausnahme: Du konntest nachts nicht mehr schlafen. Stundenlang hast du an die Decke geglotzt, im Hotel oder wenn du zu Hause neben deiner Frau lagst. So ging es zu in der Gilde der Zimmerdeckenanstarrer.“ (unbekannter Fahrer, Theo Koonen/Woodland)
Kaum ein Fahrer der nicht zugriff, auch Charly Gaul musste dies zugeben, nachdem der französische Zoll einige Tage vor dem Start der Tour de France 1959 an der Schweizer Grenze etliche Amphetaminampullen entdeckte, die für ihn bestimmt waren.
Aber bereits 1955 nach der Mont Ventoux Etappe, musste er auf seinen Pfleger verzichten, der von der Tour ausgeschlossen wurde. Dieser war auch verantwortlich für Jean Malléjac, einen Fahrer, der 10 Kilometer vor dem Gipfel vom Rad fiel und nur mit großen Mühen gerettet werden konnte. Der Ausschluss des Pflegers war der erste entsprechende Fall aufgrund von Doping. Während dieser Touretappe hatte es auch Ferdi Kübler erwischt. Auch er musste mehrfach vom Rad und später im Hotel war er am Durchdrehen, brüllte angeblich wilde Sätze wie „Ferdi wird bald explodieren, Ferdi ist mit Dynamit geladen!“ Dynamit stand für Drogen.
Zum erstenmal in der Geschichte der „Tour“ überfielen die sportlichen Kommissäre die Rennfahrer und Masseure in ihren Zimmern. Sie fanden Arsenale verbotener Doping-Mittel: Injektionsspritzen, Tabletten, Flaschen und eine ganze Tasche voll energiespendender „Weckamine“. Zwar ersuchte die Rennleitung die internationale Jury der „Tour de France“ unter dem Druck der Indizien, die eine große Anzahl von Fahrern und Helfern eindeutig belasteten, eine Untersuchung einzuleiten. Zwar wurde Rennarzt Dumas gebeten, seine medizinischen Untersuchungen fortzusetzen und seine Schlußfolgerungen bekanntzugeben. Zwar erklärte Frankreichs Radsport-Präsident, er werde gegen die Schuldigen Klage einreichen. Zwar trat außer Malléjac auch Ferdi Kübler in Avignon nicht zur Weiterfahrt an. Doch die „Tour de France“ ging weiter.“ (der Spiegel, 3.8.1955)
Valentin Petry, in den 1950er Jahren bekannter deutscher Radprofi (6facher Deutscher Meister, Stehermeister, Sechstagefahrer), aktiv bis 1962, erzählte 1964 der ZEITUNG, Nr. 18, vom 21. Dezember, freimütig die alltägliche Praxis im Radsport:
„Da müßte man erst einmal feststellen, wo das normale Fitmachen anfängt und wo das Dopen anfängt. Vielleicht ist es am besten, wenn ich erzähle, wie es bei mir so war. Was ich da so im einzelnen bekommen habe, weiß ich selbst nicht genau. Wenn ich mich auf eine Saison vorbereite, dann suche ich mir erst einmal einen Betreuer. Einen guten Betreuer. …
Ich suche mir einen aus, von dem ich weiß: – der hat den und den fit gemacht, und der war dann sehr in Form und hat das und dieses Rennen gewonnen. Mit dem mache ich einen Vertrag. …
So ungefähr vier Wochen vor dem Start nimmt der mich dann in die Kur. Er ist den ganzen Tag um mich herum. Zuerst stellt er meinen Nahrungsfahrplan zusammen. Nur Rindfleisch, Geflügel und Kalbfleisch, möglichst nur gegrillt. Dann muß ich Tee trinken. Aus Faulbaumrinde. Zur Blutreinigung. … Während der Vorbereitung kriege ich auch Spritzen. … Das sind Geheimrezepte des Betreuers. Jeder hat da seine Rezepte und jeder sein System. … Ich sage: Vergifte mich bloß nicht mit dem Zeug. Die Antwort ist dann: Nur keine Sorge. Herum und den Hintern her. Und dann kriegt man das Zeug in den Balg. Und dann merkt man eben, daß man sich prima fühlt und daß man Bäume ausreißen könnte, und vor Kraft nicht mehr laufen kann. Und das ist ja die Hauptsache. … So ein Rennen ist lang. Wenn man da keine Reserven hat, dann kann man einpacken. …
Dann [wenn die Reserven verbraucht sind] fängt nach meiner Auffassung das richtige Doping an. Erst einmal kriegen wir dann Coffein. Das sind so kleine Kügelchen, und die schluckt man haufenweise. … Dann kommen erst die richtigen Sachen. Strychnin. Pervitin ist auch harmlos. Da gibt es viel härtere Sachen. Einmal habe ich Zäpfchen bekommen. Da habe ich mich gefühlt wie auf Wolken. Das war mir dann aber doch zuviel. Das Zeug will ich im Leben nicht mehr, habe ich später gesagt. Nicht, daß er immer die gleichen Mittel anwendet. Er hat ja vorher seinen Mann studiert. Viele Betreuer sind ja halbe Ärzte. …
Die [rezeptpflichtigen Mittel] kommen meist aus Belgien. Die belgischen Apotheker sind nicht so kleinlich wie die hier. In Belgien ist der Radsport ein Nationalsport. Ein Radsportler ist da ein Nationalheld. Der bekommt fast alles, was er will! … Und auch aus Frankreich. Es gibt da zahllose Sachen. Kombiniert aus Coffein und aus Strychnin. Und dann gibt’s Mittel, die die Adern erweitern. Daß der Blutkreislauf besser wird. Und dann auch solche, die einen die Anstrengungen und den Schmerz nicht spüren lassen. …
Richtig [habe ich] nicht [erlebt, daß einer süchtig wurde] . Aber manche haben das einfach gebraucht. Vor allem natürlich die, die nicht von Natur aus mit Kraftreserven ausgestattet gewesen sind. Ich bin sehr stark und habe nie viel Nachhilfe gebraucht. Aber manche brauchen es eben. Von Anfang an.“
Offenbar herrschten wenig Hemmungen. 2007 meldete sich ein ehemaliger deutscher Jugendfahrer, der ohne Vorwarnung eine Tablette zu schlucken hatte:
“ Wir sprechen über das Jahr 1959: Werner Mohr präsentiert ein Schwarz-Weiß-Bild, das ihn mit seinen Mannschaftskameraden zeigt. Als Zweiter der Badischen Jugendmeisterschaften in Ketsch hat sich das Team des RRC Endspurt Mannheim für die Deutschen Meisterschaften in Hannover qualifiziert. Der RRC Endspurt gehört in Deutschland zu den führenden Vereinen, holt Titel am Fließband. Namen wie die Altig-Brüder Willi und Rudi, Hans Mangold oder Bernd Rohr dominieren die deutsche Radsport-Szene. Willi Altig, heute Erster Vorsitzender des Klubs, hat gerade seine erste Weltmeisterschaft auf der Bahn gewonnen. Werner Mohr nimmt „nur“ an den Deutschen Meisterschaften teil. Und kommt mit Doping in Berührung. Kurz bevor in Hannover der Startschuss fällt, „schiebt mir mein Trainer eine Tablette direkt zwischen die Zähne“, erzählt Mohr. Der Trainer ist Albert Krappel, er lebt heute nicht mehr. Das Mannheimer Team gehört zu den Favoriten auf den nationalen Titel. Die Mannheimer Jugendfahrer fliegen nur so über die Straße. „Wir sind gefahren wie die jungen Herrgötter“, sagt Mohr. „Wir waren so schnell wie noch nie. Ich habe mich super gefühlt.“ Das Team des RRC Endspurt legt ein Höllentempo vor, fährt einen Schnitt von 53 Stundenkilometern. Doch nach 25 Kilometern wendet sich das Blatt. Werner Mohr ringt plötzlich nach Luft, kann kaum noch atmen. Schaum bildet sich vor seinem Mund, ihm wird übel. Schließlich fällt er vom Rad. Das Rennen ist für ihn beendet. Mohr ist Asthmatiker. Er führt den Vorfall auf jene Pille zurück, die ihm vor Rennbeginn verabreicht wurde. Der Lampertheimer wird vom so genannten Besenwagen zum Ziel gebracht, ein Arzt kann nichts Außergewöhnliches feststellen.“ (Main-Rheiner, 2.6.2007)
Bei den Olympische Spiele in Rom 1960 fallen Knud Jensen und Jörgen Jörgensen aus der dänischen Mannschaft während des Mannschafts-Zeitfahrens vom Rad. Jensen, 23 Jahre alt, stirbt im Krankenhaus. Die Autopsie ergab nach offiziellen Angaben als Ursache von Jensens Tod einen Sonnenstich und Dehydrierung. Andererseits hieß es, dass die dänische Mannschaft vor dem Start das Durchblutung fördernde Mittel Ronicol plus Amphetamine erhalten hatte. Belastbare Beweise hierzu wurden jedoch nie vorgelegt.
1963 kam es in Österreich zu einem Skandal: Das gesamte Nationalteam wird bei der österreichischen Radrundfahrt ausgeschlossen nachdem Kontrolleure in den Trikots von mehreren österreichischen Spitzenfahrern große Mengen von Amphetaminen und anderen Stimulanzien gefunden hatten. Doch auch das deutsche Team hatte Probleme. Karlheinz Wilde, der sich erst weigerte sich testen zu lassen, musste sich geschlagen geben und war prompt positiv. Er wurde disqualifiziert und in Österreich für ein Jahr gesperrt.
Ein Zitat von Pierre Chany aus dem Buch l’Homme aux 50 Tour de France:
„Ich erzähle euch eine Anekdote, die sich auf den Prix de Forli bezieht, ein Zeitfahrrennen. Jaques Anquetil und Ercole Baldini waren die beiden Favoriten. Sie hatten großen Respekt voreinander. Am Vorabend speisten sie mit mir und anderen Nahestehenden gemeinsam. Ich weiß nicht mehr wer damit begann … Auf jeden Fall sagte einer: „Weist du was? Da wir die beiden besten sind und wir das unter uns ausmachen, sollten wir unsere Gesundheit schonen. Lassen wir die Amphet’. Morgen, nur um einmal zu sehen, machen wir alles nur mit Mineralwasser … .“ Der andere ist einverstanden.
Sie gingen zu Bett. Am nächsten Tag absolvierten sie das Rennen mit Mineralwasser, da beide immer zu ihrem Wort standen. Sie waren sich sicher die beiden ersten Plätze zu belegen, aber sie litten wie die Verdammten um eine durchschnittliche Geschwindigkeit zu erreichen, die 1,5 km/h unter der gewöhnlich sonst von ihnen erreichten lag.
„Damit werden wir nie wieder beginnen!“ versicherten sie mir beim Absteigen vom Rad.“
gegen den Willen
Hugo Koblet bekam sogar gegen seinen Willen Amphetamine verabreicht, mit schweren Folgen.
Er galt immer als ein Fahrer, der auf Dopingmittel verzichtete (ähnlich wie dies von Bartali erzählt wird). Doch seine Ablehnung nützte ihm nichts:
Tour de Suisse 1952, Hugo Koblet schwächelt und bekommt Fieber, alles deutet auf eine Nierenbeckenentzündung hin, die dann vom Hausarzt telefonisch bestätigt wurde und en sofortigen Ausstieg und die Heimreise anordnete. Doch der Tourarzt gab nichts auf diese Diagnose und gemeinsam mit dem Rennleiter veranlassten sie Koblet zu starten.
„Wir bringen ihn schon auf die Beine“, beruhigte ihn der Arzt, „und ich garantiere ihnen, dass nichts passieren kann.“ Eine Stunde vor dem Start gab er dem Patienten eine Spritze. Masseur Hug fischte die Ampulle später aus dem Papierkorb und schaute nach, was der Arzt Koblet gespritzt hatte. Es war das gefährliche Amphetamin Akzedron.
Koblet hatte das Zeitfahren mit einer massiven Doping-Ladung bestritten. Am nächsten Tag musste er am Simplon vom Rad steigen. ….
Als Dr. Rumpf (Hausarzt) Koblet bei seiner Rückkehr nach Zürich genau untersuchte, stellte er eine gefährliche Herzerweiterung fest. Eine Aortaklappe war dauerhaft beschädigt, was bedeutete, das 20 Prozent des vom Herzen angepumpten Blutes wieder zurückfloss. Die „kriminelle“ Dopingspritze hatte Koblet auf einen Schlag um ein Fünftel seiner Leistungsfähigkeit gebracht. Dr. Rumpf zog noch zwei medizinische Kapazitäten hinzu, von denen die eine, Prof. Löffler, ihm sagte: “Herr Kollege, der Mann darf nicht mehr Vélo fahren.“ ( Hanspeter Born, Das waren noch Zeiten)
Dass es bei der Einnahme nicht immer um therapeutische Dosen ging, macht eine weitere Anekdote von Pierre Chany deutlich:
Chany ließ einen Professor ein Mittel analysieren, das er von Fahrern hatte, es handelte sich um Médéthrine, ein sehr starkes Amphetaminprodukt:
„Das ist ein gefährliches Produkt. Nach einer Trepanation, im Falle eines längeren Komas, verschreibe ich 5 Milligramm.
–Und wenn ein Typ 15 Milligramm nimmt, was geschieht dann ? frug ich ihn.
-Er stirbt!
Seine Antwort ließ mich lachen „Das ist fatal was sie mir hier sagen. Denn ich esse dreimal pro Woche mit einem Typ, der davon 15 Milligramm nimmt!“ Der Professor schaut mich verduzt an. Er fragt sich ob ich ihn nicht veralbere. Doch dann versteht er, dass die Champions nicht ganz so sind wie normale Menschen.“
Die ersten Gesetze und Kontrollen
Der Bund deutscher Radfahrer nahm 1956 erste Anti-Dopingbestimmungen in sein Reglement auf, doch das änderte an der Praxis wenig. Manfred Donike, von 1953 – 1962 selbst Profi-Radrennfahrer und später führender Dopingexperte Deutschlands, brachte es auf den Punkt:
„Die Einnahme von stimulierenden Mitteln, zum Teil in Verbindung mit stark wirksamen Narkotika, war im Berufsradrennsport so verbreitet, dass in den Jahren 1960-1967 bei wichtigen Radrennen kein Berufsradrennfahrer ungedopt an den Start ging. Vielfach wurde schon im Training geschluckt, um sich an die ‚Renndosen’ zu gewöhnen.“ (zitiert nach Schänzer in Gamper et all.)
1993 hatte er gestanden, selbst Amphetamine ausprobiert zu haben, er hätte allerdings damit nicht mehr schlafen können und deshalb darauf verzichtet.
Dieter Kemper, Steherweltmeister:
„In den 60er Jahren tauchten die Ersten bei uns im Feld mit Verbänden an den Armen auf, (…) da waren aufgezogene Spritzen drunter. Die haben sich während der Fahrt je nach Bedarf selbst gespritzt.“
Pierre Chany, intimer Kenner der französischen Radsportszene und Freund einiger Radsporthelden, beschreibt die Zeit entsprechend und Maurice Moucheraud, Profi in den 60er Jahren, 1999 67 Jahre alt, meinte: „Zu unserer Zeit war es genau dasselbe. Den Festina-Prozess hätte man vor 40 Jahren mit anderen Namen und Produkten führen können.“ (Libération, 31.10.2000)
Als 1962 12 Fahrer während der Tour de France erkrankten und aufgeben mussten, angeblich wegen einer Fischvergiftung, in Wahrheit aber aufgrund falsch dosierter Morphine, gingen der Tour Arzt Pierre Dumas und der Arzt der Tour de l’Avenir Robert Boncourt an die Presse und klärten über die Gefahren des Dopings auf. Am nächsten Tag drohten die Fahrer mit Streik.
Beide Ärzte sind durch ihre unermütliche Aufklärungsarbeit mitverantwortlich dafür, Frankreich und Belgien als erste Länder (nach Italien, das bereits in den 50er Jahren polizeiliche Maßnahmen gegen Doping ergriffen hatte) in den 1960er Jahren mittels Anti-Doping-Gesetzen und Kontrollen den Drogenmissbrauch im Sport und vor allem im Radsport einzudämmen versuchten. Aus Italien wurden Zahlen bekannt, wonach 1962 der Verband der Sportmediziner gemeinsam mit den Radsport- und dem Fußball-Verbänden Kontrollen auf Amphetamine durchführte. Waren nach den erschreckenden Zahlen über Doping im Fußball von Ottani aus dem Jahr 1961 nun die positiven Ergebnisse weit zurückgeggangen, zeigte der Radsport einen hohen Aufputschmittel-Missbrauch. „Das dies so ist, obwohl die Athleten über die Kontrollen informiert waren, beweist, dass Doping im Radsport tief verwurzelt ist, insbesondere durch die vollständige Ignoranz der Trainer und der Sportler selbst. Zudem zeigen die Erhebungen, die im Radsport, im Profibereich wie bei den Amateuren, durchgeführt wurden, das Problem in seinem ganzen Ausmaß und insbesondere im Radsport wurden die dramatischsten Fälle akuter und chronischer Vergiftung festgestellt.“ (Venerando, in ‚Doping‘, UNESCO-Seminar, 1965). Die UCI gab sich 1966 Anti-Doping-Regularien. In Belgien fanden danach einige Prozesse statt, in denen sowohl Fahrer als auch Ärzte und Pfleger verurteilt wurden.
Das Beispiel eines belgischen Dopingfalles, der vor Gericht behandelt wurde, wird in einer Studie des Europarates von 1962 zitiert:
„Here in Belgium the [doping]problem was brought to the notice of the general public by a lawsuit which harshly revealed the practice of doping among racing cyclists. The case was heard in February 1959 by the Courtrai Court of Summary Jurisdiction and the judge Mr. De Valck, sentenced a trainer, Noël Van Overbeke, for the illegal practice of medicine. The accused had distributed two cachets to the members of his team, and in particular to a young man called Van Houtven. The latter had been instructed to take the first cachet after covering 40 kilometres and the second after 80 kilometres. On analysis it was revealed that in taking these cachets Van Houtven had, within approximately one hour, swallowed a quantity of poison equal to the maximum dose authorised by the Belgian pharmacopoeia for a whole day.
A house search revealed that the trainer possessed a whole arsenal of medicines. The Deputy Public Prosecutor stated in his indictment:
„This courtroom would be too small to hold all the sports trainers who employ such practices …. Everyone does it, and the competitors themselves ask the trainers to do it, but that is neither an excuse nor an argument.“
Counsel for the accused made the following statements on his client’s behalfs:
„All the trainers are doing it. If a trainer does not have a well-stocked medicine chest he is considered to be of no use.‘
This example taken from the Belgian press has its counterpart in the majority of foreign publications.“
Aufgrund des französischen Gesetztes (Antidoping-Gesetzgebung in Frankreich) von 1965 werden bei der Tour de France in jenem Jahr zum ersten Male in der Geschichte unangemeldete Kontrollen durchgeführt. Viele Fahrer traten aufgrund der neuen Gegebenheiten erst gar nicht zur Tour an. Insbesondere Italiener hatten sich deshalb gegen eine Teilnahme an der Tour 1966 entschieden, wie es Tour-Direktor Jacques Goddet zugeben musste. Kurz vor dem Start hatten sich Jaques Anquetil nach seinem Sieg bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und die ersten drei des Wallonischen Pfeils Michele Dancelli, Lucien Aimar und Rudi Altig nach den Rennen den offiziellen angekündigten Dopingkontrollen entzogen, woraufhin man sie disqualifizierte. Diese Urteile wurden zwar unmittelbar vor der Tour de France wieder aufgehoben, aber das Mißtrauen bei einigen Verantwortlichen saß anscheinend tief. Aufgrund des Gesetztes kamen Mediziner begleitet von Angestellten des Ministeriums in die Zimmer einiger Fahrer, weckten diese und baten um Urinproben. Raymond Poulidor lässt sich sofort darauf ein während Rik Van Looy (der 1965 positiv auf Amphetamine getestet wurde) sich erst unter Androhung einer Geld- und Gefängnisstrafe dazu bereit findet. Viele Fahrer reagierten empört und beschlossen zu streiken. Fünf Kilometer nach dem Start stoppten sie und Rik Van Looy als Fahrersprecher beklagte „Eingriffe in die individuelle Freiheit der Sportler“. Sie nahmen das Rennen erst wieder auf, nachdem ihnen versprochen worden war, dass es keine nächtlichen Kontrollen mehr gäbe. Sicherheitshalber machten sie aus der nächsten Etappe noch eine Protest-Bummel-Etappe, doch vor der 13. Etappe fanden erneut Kontrollen statt, 6 positive Fahrer wurden entdeckt.
Die Fahrer waren gespalten. Tom Simpson beispielsweise wandte sich gegen die Proteste mit dem Argument, dass damit der Doping-Sache eine Aufmerksamkeit zukäme, welche die Fahrer nicht verdient hätten. Am 13. Juli 1967 starb Tom Simpson nach einem Kollaps am Mont Ventoux, Untersuchungen ließen keinen Zweifel daran, dass am Tode Simpsons auch Doping beteiligt war, u.a. Amphetamine mit Alkohol. An dieser Tour und dieser Etappe hing sein weiteres Fortkommen im Radsport, er wollte, er musste unbedingt gewinnen. Aber bereits zwei Jahre zuvor hatte Tom Simpson in einem Interview in der Zeitschrift ‚the people‘ Doping zugegeben.
Dr. Pierre Dumas besitzt zum Zeitpunkt des Todes von Simpson über den Amphetamin-Missbrauch von Fahrern bereits 400 Dossiers.
Das Hase-und-Igel-Spiel hat begonnen
Bei den ersten französischen Kontrollen 1966 ist eine von drei positiv, im nächsten Jahr sind es nur noch 10 %, doch das heißt nicht, dass weniger gespritzt wurde, sondern nur, dass man gelernt hatte mit Tricks die Kontrollen zu umgehen. Das Hase-und-Igel-Spiel hatte begonnen. Es kamen neue Amphetamin–Produkte bzw. den Amphetaminen verwandte Produkte auf den Markt, für die es noch kein Nachweisverfahren gab (Lidepran, Meratran, Ritalin). Die Fahrer bedienten sich zahlreich bis Michel Debackere 1974 einen Nachweistest entwickelt hatte. Sofort wurden 13 Fahrer überführt, mit dabei Walter Godefroot, aber das nächste ähnlich wirkende Produkt, Pemolin, war schnell eingeführt, Debackere gelang erneut ein Nachweis und bei seiner ersten Anwendung gingen prompt wieder mehrere Fahrer, darunter Freddy Maertens, Michel Pollentier und der „König des Pelotons“ Eddy Merckx ins Netz: „Jeder nimmt es doch, du machst es wie die anderen“, so der Champion.
Die Mittel fanden überall Einsatz. Auch bei der Friedensfahrt im Jahr 1968 wurde getestet, prompt wurden 5 DDR-Fahrer überführt, bekannt gegeben wurde dies jedoch nicht. Und auch so bekannte DDR-Fahrer wie Klaus Ampler und Gustav-Adolf Schur werden in offiziellen DDR-Dokumenten in Zusammenhang mit Doping genannt.
Prof. Herbert Reindell, 1977 in der Anhörung des Deutschen Bundestages zum Thema Doping:
„Wenn ich stimulierende Mittel gebe, dann zwinge ich den Organismus, seine letzten Reserven anzupacken; sodann können Schäden eintreten. Zusammen mit Herrn Keul haben wir einen sehr spektakulären Fall vor etwas 6, 7 Jahren erlebt, wo ein Berufsradrennfahrer stimulierende Mittel genommen hat. Er fuhr 20 Minuten vor dem Feld her, brach zusammen, wurde in Zürich in eine Klinik eingeliefert und hatte einen schweren Herzschaden.“
Die Alltäglichkeit der Substanzen zeigte sich auch daran, dass sie im Peloton ihre eigenen Namen hatten:
la Mémé für Mératran, la petite Lili für Lidepran, le cousin Riri für Ritalin, le Pépé für Tonedron. Auch gab es Möglichkeiten, den Nachweis zu verhindern. Christian Ossowski hatte immer vorgesorgt: „Wenn es Dopingkontrollen gab, suchte man einen Weg, denen zu entgehen. Insgesamt wurde ich dreimal kontrolliert. Zweimal wurde ich vorgewarnt. Ich hatte einen Trick: Ich befeuchtete meinen Zeigefinger mit etwas Javel (ein Desinfektionsmittel). Im Urin vernichtet Javel die Amphetaminspuren. Es genügte, dass ich mir über den Finger urinierte und mein Urin ließ sich nicht mehr analysieren. Ich habe das so gemacht und ich habe es Dutzende Male gesehen. Ich hatte immer ein kleines Fläschchen Javel bei mir.“ (mehr Infos hier)
Kreativ waren die Betroffenen auch was die Verabreichung der Stimulantien betraf. Willy Voet erzählt von den „Pates de Fruits aux yeux“, Fruchtriegel auf denen die Tabletten (Pervitin und Captagon, Amphetaminverwandte) in der Form eines Augenpaares angebracht waren, wer mehr brauchte bekam noch eine Nase hinzu.
Das euphorisierende Potential der Amphetamine wird verstärkt ausgenutzt in Kombination mit anderen Stoffen, daher werden die Stimulantien gerne mit Glukokortikoiden (s.u.) zusammen genommen. Aber ebenso bekannt ist in der Radsportszene das brisante Gemisch Pot Belge, anfangs Pot de Fou, Verrückten-Mix genannt, bestehend im Allgemeinen aus Amphetaminen, Schmerzmittel, Koffein, Kokain und Heroin. Eine Radsportler, der wegen verschiedener Beschwerden einen Arzt aufsuchte, ließ seinen Pot Belge, von dem er sich etwas vor und während des Rennen injizieren sollte, analysieren, darin waren enthalten: Amphetamine, Heroin, Kokain, Ethanol, Koffein, Acetylcodein, Papaverin, Ephedrin, Aspirin, Ethenzamid und Phenacetin. Gehandelt wird auch noch mit den Pot Néerlandais, dem es zu dem belgischen Gebräu nur am Kokain mangelt.
Obwohl Amphetamine und alle die anderen Rauschgifte und Stimulantien leicht nachweisbar sind, erfreuen sie sich in Radsportkreisen auch heute noch Beliebtheit. Leistungsstarke Amateure greifen gerne auf sie zurück, ebenso wie Profis bei Kriterien, da hier bislang kaum Kontrollen stattfanden. Die Profis gingen immer mehr dazu über die Aufputscher während der Trainingsperioden zu verwenden, um sich besser motivieren oder das Gewicht besser kontrollieren zu können, aber auch am Ende von Karrieren steigt die Nachfrage. Viele Prozesse in Frankreich und Belgien erzählen die Geschichte dieser Dopingmittel bis heute, selbst Arsen und Strychnin sollen noch bis Ende der 70er Jahre üblich gewesen sein.
In den 80er Jahren tauchte Exctasy als illegale Droge verstärkt auf, ein Amphetaminprodukt und eroberte die Diskotheken. Schnell fanden sich diese Pillen im Radsport wieder. U.a. wurde der Apotheker Willy Jeandarme, ehemaliger medizinischer Betreuer der Profi-Mannschaft PDM, überführt in einen Exctasy-Drogenring verwickelt gewesen zu sein (zu W. Jeandarme siehe auch die Affaire PDM).
Aufgrund der spektakulären Doping- und auch Todesfälle, die mit Aufputschmitteln in Verbindung standen, kam es zu den frühen Verboten dieser Produkte im Radsport, allerdings mit dem beschriebenen geringen Erfolg. Da kamen die Anabolika als neue Produkte im Sport gerade zur rechten Zeit, häufig wurden sie als „willkommene Alternative“ zu den Aufputschmitteln gesehen. (Singler/Treutlein, Teil 2)