Die Anfänge
Leistungssteigernde Substanzen begleiten den sportlichen Wettkampf immer schon. Das gilt für die Antike ebenso wie für die Anfänge des modernen Sports im 19. Jahrhundert. Für Aufregung sorgte der Gebrauch von aufputschenden Mitteln zu Beginn der ’sportlichen Neuzeit‘ aber nur im Pferdesport, in dem diese Praxis im 19. Jahrhundert bereits eine lange Tradition besaß. Das Pferd konnte aufgeputscht‘ (dope to win) oder vergiftet (dope to lose) werden. Daher wurde hierfür früh nach Doping-Nachweismethoden gesucht und 1910 gelang es dem russischen Chemiker Bukowski erstmals Alkaloide im Pferdespeichel nachzuweisen – der erste Dopingtest war geschaffen.
„Der erste offiziell festgehaltene Dopingfall geht auf das Jahr 1860 zurück, als bemerkt wurde, wie ein Radfahrer Äther auf ein Stück Zucker gab.“
(John Boyer, de Mondenard, Dictionnaire, S. 494)
„Anfangs befanden die Rennfahrer es noch nicht mal für nötig, daraus ein Geheimnis zu machen. So wurde kurz nach Paris-Rouen im Jahr 1869 in der Presse öffentlich die Frage diskutiert, welche Mittel die Leistung am effektivsten steigerten. Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es sogar Firmen, die für Produkte wie „l’Elixir de vitesse“ oder „Vélo Guignolet“ warben, die wahrscheinlich auf der Basis von Kokain und Morphium hergestellt waren.“ (Benjo Maso, der Schweiß der Götter, S. 235)
UCI 40 Jahre Kampf gegen Doping:
Der erste berichtete Dopingfall, bei dem ein Sportler gesperrt wurde, war 1865. Ein amsterdammer Kanal-Schwimmer wurde aus dem Wettkampf ausgeschlossen, weil er eine leistungssteigernde Droge genommen hatte.
Die verschiedensten Mittel kamen bei Sportlern zur Anwendung und wurden von einigen interessierten Medizinern hinsichtlich ihrer eventuellen Hilfe zur Verbesserung der mentalen oder körperlichen Leistung untersucht. Seit 1880 sind Mischungen mit Kokain und Morphium üblich, 1892 gab es bereits entsprechende Portionen auf der Basis von Alkohol speziell für Radrennfahrer zu erwerben (l’Elixir de Vitesse oder le Vélo Guignolet genannt). Alkoholika, Kaffee, Tee, Kokain ebenso wie Theobromin (in Schokolade) aus Kakaobohnen, Theobromin und Koffein aus Kola-Nüssen, Strychnin, Nikotin, Morphium, Opium, Digitalis, Nitroglyzerin, Äther, alles Stoffe, denen man Wirkung nachsagte und um die sich wundersame Geschichten rankten. Grandiose Leistungen schienen möglich:
„Mir ist die Tour eines Radfahrers bekannt, der drei Tage nur von Cocawein sich nährend, am ersten Tag 172 km, am zweiten 150 km und am dritten 143 km zurücklegte; ferner die Tour zweier Officiere, welche im vorigen Sommer die Mädelergabel im bayrischen Allgäu erstiegen und ebenfalls 3 Tage nur von Cocawein gelebt, beziehungsweise Cocazigaretten dazu geraucht hatten. “ (1887) (R. Rabenstein)
Z. B. experimentierte Oskar Zoth (1864-1933), langjähriger Dekan der Medizinischen Fakultät und 1913 Rektor der Universtiät Graz, zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger Fritz Pregl (1869-1930 ) mit flüssigen Extrakten aus Stierhoden. Im Selbstversuch wollten die beiden Rad- und Bergsportler die Auswirkung von Hanteltraining und Hormonen auf die Muskulatur und die damit verbundene Leistungssteigerung untersuchen. Dabei konnten Zoth bereits 1894 feststellen:
„„Injectionen orchitischen Extractes befördern in ausserordentlichem Masse die Wirkung der Muskelübung“. Graz war wohl auch in Sachen Einführung des Arseniks Vorreiter: Auch in der Praxis dürften am Rennplatz Graz problematische Substanzen in Umlauf gewesen sein, wie Michel Angelo Frh. von Zois, selbst [Rad]Rennfahrer und Kenner der Szene, in seinem 1908 erschienen Buch „Das Training des Rennfahrers“ preisgibt: „Der Gebrauch des Arseniks (Hüttenrauch [=Hittrach]) ist jedenfalls mit den Grazer Fahrern in die Welt gekommen; der Genuß desselben ist in den Alpenländern unter den Holzknechten des Hochgebirges u.s.w. üblich, um die Strapazen besser auszuhalten.“ (Doping im Selbstversuch an Grazer Uni , Hittrach, bzw. Arsenik, Kleine Zeitung, 26.1.2011)
Bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts soll Arsen angewandt worden sein, um den Schmerz zu bekämpfen. 1957 starb in Frankreich ein junger Amateur an einer falsch dosierten Dosis. Kokain gab es auch als Pommade, mit der man die Schenkel einrieb um euphorisch gestimmt, große Anstrengungen ertragen zu können.
Die Belastungen, welche die Radfahrer in den ersten Jahrzehnten des Professionalismus aushalten mussten, sind aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar.
Langstreckenrennen von 600 km oder gar 1200 km bei Paris-Brest-Paris und Tour de France-Etappen bis fast 500 km verlangten extremes Durchhaltevermögen. Kaum erträglich scheinen auch Anforderungen an die Sechstagefahrer. Sechs Tage bedeuteten Tag und Nacht fahren ohne nennenswerte Ruhepausen. Es war daher völlig normal, dass gerade sie sich mit allen bekannten und verfügbaren Mitteln versuchten fit und munter zu halten, um die Tortur überstehen zu können.
„Diese Rennen, die von Montagmorgen bis Samstagabend dauern, setzen die Fahrer extremen körperlichen und psychischen Anforderungen aus. Folglich setzten viele Fahrer unterschiedliche stimulierende Präparate ein. Die Franzosen verwandten eine Mixtur, die als „Caffeine Houdes“ bekannt war, während die Belgier Zuckerstangen lutschten, die sie zuvor in Äther getaucht hatten. Der schwarze Kaffee, den die Radfahrer tranken, war mit zusätzlichem Koffein und Pfefferminz noch verstärkt, und je weiter das Rennen voranschritt, desto mehr wurde diese Mischung zusätzlich mit Kokain und Strychnin gewürzt. Häufig wurde dem Tee auch Brandy beigefügt. Im Anschluss an die Sprintabschnitte des Rennens wurden den Radrennfahrern häufig Nitroglyzerin-Kapseln gegeben, um ihre Atembeschwerden zu lindern. Die Sechs-Tage-Einzelrennen wurden letztendlich durch Zweierrennen ersetzt, aber das Doping setzte sich unvermindert fort. Da Drogen wie Heroin oder Kokain in diesen Rennen von vielen Fahrern ohne Überwachung genommen wurde, waren Todesfälle durchaus im Rahmen des Möglichen.“ (Hobermann, S. 154).
Nicht selten brachen die Fahrer am Ende der Rennen zusammen oder waren nicht mehr Herr ihrer Sinne, wie z. B. Teddy Hale, der nach einem Sieg unter dem Jubel der Menge noch 10 km weiterfuhr ohne zu merken, was er tat. Oder Major Taylor, der einmal vollkommen durchdrehte, das Rad wegwarf und Zuschauer angriff.
Pfleger und Scharlatane
NYT, 1.12.1895: The use of stimulants by athletes: drugs designed for this purpose not favored
Schon damals waren Pfleger für die Fahrer von Bedeutung, nicht immer mit der besten medizinischen Reputation und oft als Scharlatane verschrieen. Der Bahnfahrer Armand Blanchonnet musste beinahe mit dem Leben bezahlen, als sein Betreuer Pierre Viel einmal die Dosis erhöhte, nur mir großen Glück konnte er gerettet werden.
Der erste bekannte Todesfall im Radsport, der auf leistungssteigernde Mittel zurückgeführt wurde, betraf den Briten Arthur Linton, der am 23. Juli 1896 an Typhus-Fieber starb, wobei vermutet wird, dass sein Körper durch den intensiven jahrelangen Gebrauch von Dopingmitteln so geschwächt war, dass er kaum noch Abwehrkräfte zur Vefügung hatte. (Häufig wird angegeben, er sei 1886 während des Langstreckenrennens Bordeaux-Paris zusammengebrochen, aber zehn Jahre später gewinnt er dieses Rennen. R. Rabenstein ). Sein Pfleger war der berühmt-berüchtigte Choppy Warburton, dessen mysteriöse Mixturen in der damaligen Presse Anlass zu vielen Spekulationen boten. Choppy’ s sog. „Cuca Cup“ wurde in der Szene heiß diskutiert und war sehr beliebt. Viele meinten allerdings, dass er nur aus Zuckerwasser bestand, denn die Kraft der Einbildung war durchaus bekannt. Warburton nutzte sein Wissen aber möglicherweise auch anders: Bei einem Rennen wettete er auf den Gegner seines Schützlings Jimmy Michael, dem er eine Mischung verabreichte, die zu dessen Aufgabe führte. Die genauen Umstände wurden aber nicht bekannt, Widersprüchliches blieb. Jimmy Michael starb einige Zeit später nach einer Delirium-Tremens-Krise mit 28 Jahren (de Mondenard). Die britische National Cyclists‘ Union hatte schließlich genug von ihm und sperrte ihn auf Lebenszeit für jegliche Bahnrennen konnte aber 1897 mit Albert Champion und Edouard Nieuport in Frankreich weiter arbeiten, bevor er im Dezember 1897 starb.
Während der Tour de France 1911 war es der vierfache Etappengewinner Paul Duboc, der auf der Königsetappe Luchon-Bayonne für Aufregung sorgte. Er lag zehn Minuten vor dem Träger des gelben Trikots Garrigou, als er auf dem Weg zum Aubisque bleich und zitternd in Schwierigkeiten geriet, in einen Graben fiel und eine seltsame Flüssigkeit von sich gab. Vier Stunden verlor er auf dieser Etappe bis Bayonne auf Garrigou. 4 Jahre später, nachdem Duboc an der Front gefallen war, erfuhr man, dass Paul Lafourcade, ein ehemaliger Fahrer, ihm eine zweifelhafte Mischung zusammengestellt haben soll. Doch auch daran gibt es Zweifel. Einiges spricht dafür, dass eine gegnerische Mannschaft versucht hatte, den Fahrer aus dem Rennen zu werfen, doch es bleibt unklar. (de Mondenard, 2010).
Henri Desgrange,
Chef der Tour de France, schrieb über die 4. Etappe der Tour 1913 über Alkoholkonsum während des Rennens, der letzte Anstrengungen ermöglichen sollte aber auch Schnapsleichen auf der Straße zurück ließ. Allgemein stellte er 1913 fest, dass einige der Fahrer nicht davor zurück schreckten, sich zu dopen. Das entspräche nicht seinem Sportverständnis, doch nimmt er die Sportler etwas in Schutz, zur Verantwortung gezogen werden müssten die Manager und vor allem ‚gewisse Doktoren‘, die die Mittel/Drogen verabreichten. Im Jahr 1929 bekamen die Fahrer ihre Ausgaben während der Tour von der Organisation ersetzt (Unterkunft, Essen, Material, Medikamente, Massagen usw,) doch für die pharmazeutische Unterstützung (Stärkungs-, Regenerierungsmittel, Drogen usw.) mussten sie selbst aufkommen. (L’Auto, 26.71913 und 25.9.1929, zitiert nach de Mondenard, 36 Histoires…)
Drogen und Experimente
Kokain und Heroin waren um die Jahrhundertwende und in den Zwanzigern gängige Drogen in der Gesellschaft, Arbeiter, Künstler, Intellektuelle bedienten sich ihrer. Dass Profi-Sportler ebenfalls danach griffen, war für die Öffentlichkeit nicht weiter kritikwürdig. Auch noch in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts war es völlig normal, dass die Straßen- und Six-Days-Fahrer ihrer Köfferchen dabei hatten. So berichtet René de Latour, Redakteur beim Miroir des Sports:
„Reginald McNamara (australischer Sechs-Tage-Spezialist) hatte ein kleines Köfferchen das er nur öffnete wenn kein fremder Blick darauf fiel, nachdem er den Vorhang seines Zeltes zugezogen hatte. Dennoch, … er vertraute mir den Schlüssel an und ich muss gestehen, eines Abends konnte ich nicht widerstehen den Inhalt des Koffers zu ergründen. Er enthielt Kokaintabletten.“
Um 1919 geriet der Radsport dann doch etwas ins Gerede, warum sonst hätte ein Insider die Sechstagefahrer verteidigen müssen:
„Daß von Sportsleuten, Schauspielern, Sängern, Bergsteigern, Bergarbeitern, Ringkämpfern etc. stimulierende Mittel verwendet werden, ist bekannt, aber nicht genügend bekannt, denn sonst würde man nicht immer nur bei Rennfahrern vom Doping reden.“
Victor Linart:
„Während der ersten Sechstage von Dresden (1911) erbat ein Team, wenn ich mich recht erinnere Von Natzmer-Grossmann, von ihrem Soigneur Marx „schnelle Pillen“, Pillen um schneller zu fahren. Aber Marx, ein lustiger Kerl, meinte: „Wartet noch, man muss sie zur Jagd nehmen.“ als der richtige Moment gekommen war, gab ihnen Marx Pillen, die so große wie Nüsse waren und etwas Kaffee. Meine zwei Witzbolde stieben sofort los wie Zebras, heizten auf der Piste, versenkten das Peloton… “ (R. Bastide, Doping, S. 37)
Maurice Protin, belgischer Radprofi, über das Jahr 1923:
„Der Italiener Otavio Pratesi, der der Champion war, der mir beibrachte, wie man die Schuhe richtig behandelte, warnte mich. Diese Kügelchen waren entweder mit Anis parfümierte Tonkügelchen, wie es später eine Analyse erbrachte, die von Émile Masson veranlasst wurde, oder ein starkes Gift, das mittelfristig den Konsumenten zu einem Wrack werden ließ. Er nahm l’Hémostyl von Dr. Gaston Roussel (frisches Blutserum vom Pferd). Ich lief in die Apotheke und kaufte drei Fläschchen. Es genügte zwei oder dreimal einen Suppenlöffel voll davon zu nehmen. Mein Leistungen verbesserten sich und später riet ich dies auch meinen Fahrern.“ ( de Mondenard, Dict., S. 995)
Die Sportler selbst experimentierten mit den Trainern ungehemmt herum, Wissenschaftler beteiligten sich Ende des letzten Jahrhunderts und in den ersten Jahren des 20. nur gelegentlich daran. In diesen Fällen wurden die Radfahrer gerne als Versuchskaninchen genommen, die Bahnradrennen boten sich für vergleichende Untersuchungen der verschiedenen Wirkungen von Stimulantien bestens an. Dass alle diese Mittel einen gerechten Wettkampf gefährden könnten, war allerdings noch nicht Gegenstand der Überlegungen, vielmehr ging es allein darum herauszufinden, wie der menschliche Organismus auf den Stress und die verschiedenen Methoden reagierte.
Untersucht wurde der Einfluss von Champagner auf den letzten Kilometern eines Langstreckenrennens ebenso wie die Auswirkung von mehrminütigem Einatmen von Sauerstoff auf die Schnelligkeits- und Ausdauerleistung. Es wurden Ideen geäußert, wie es wohl sei, wenn man Langstreckenläufer während jeder Bahnrunde durch ein mit Sauerstoff gefülltes Zelt schicken würde oder ob es gar von Vorteil wäre, während des Rennens anzuhalten und reinen Sauerstoff einzuatmen – „Gas-Doping“ nannte man entsprechende Unterstützungen. Schnell fand auch das in den Zwanzigern entwickelte Ephedrin Liebhaber.
Ein weiteres Mittel, das den Sechs-Tage-Fahrern zugesprochen wurde, war Spermin, ein (Rinder)Hodenextrakt, welcher männliche Kraft und Ausdauer übertragen sollte. Später in den 20er Jahren wurde Adrenalin interessant, das bis dato einzige bekannte Hormon. Adrenalin wurde injiziert und sollte den Läufern (auch Versuchskatzen) zum zweiten Wind verhelfen.
1920 – 1950
Was ist Doping?
Die Verurteilung des Dopings in Deutschland begann auf breiter Ebene erst nach dem ersten Weltkrieg. Zuvor ging es mehr darum zu erfahren, ob die Mittel überhaupt nützen, die gesellschaftliche Ablehnung beruhte eher auf dem Wissen der allgemeinen Schädigungsmöglichkeiten von Drogen wie Alkohol und Kokain. Ein Grund war, dass die Hervorbringung von Hochleistungssportlern für die Wissenschaft keine besonders interessante Frage war. Das änderte sich in den 20er Jahren, die Untersuchungen und Experimente, die konkret die Möglichkeit von Leistungssteigerungen zum Forschungsgegenstand hatten, nahmen zu, die Zeit der gedeihlichen Zusammenarbeit von Sportlern, Trainern, Ärzten und der Pharmaindustrie hatte begonnen. (Hobermann).
Die Verwendung von Pharmaka war weit verbreitet und wohlbekannt. Ein neues Mittel, das Anfang und Mitte der 30er Jahre hoch im Kurs stand war Phospat, das kommerzielle Produkt hieß Recresal und wurde weitgehend akzeptiert. Recresal hatte im Krieg bei Soldaten und bei Tests mit Bergsteigern (und ebenso nach der Verfütterung an Kühe) zu positiven Resultaten geführt. So galten Phosphate, Koffein, Theobromin als akzeptable Mittel.
Die Sportler nahmen diese Substanzen ein, versprachen sich allerdings von anderen wie z. B. Strychnin und Kokain, die als Dopingsubstanzen mittlerweile gesellschaftlich verpönt waren, wesentlich mehr. Für deren gewünschte Wirkungsweisen fehlten häufig die Beweise, eher umgaben Mythen die Mittel und die Kraft der Einbildung war gefordert. Wahre Wunderdinge wurden einmal wieder über Kola-Nüsse erzählt, auch die Kombination von Kokain mit Kola-Nüssen war beliebt. Erneut kam Sauerstoff zu Ehren, die überwiegend den Sechstagefahren zugeschriebene Substanz soll auch von Schwimmern eingesetzt worden sein, galt aber einhellig als verbotenes Doping.
Kurt Stöpel, 1932, Tour de France, 19. Etappe:
„Der Bürgermeister erzählt (…) das furchtbare Erlebnis, als der kleine Rebry wie ein Wahnsinniger angespurtet kam. (…) Er wäre in das Meer hineingerast, wenn nicht energische Hände den Sieger dieser mörderischen Etappe vom Rad geholt hätten:
„Es war ein entsetzliches Bild als Rebry wie im Fieberwahn delirierte und immer wieder schrie und tobte, dass er nach Paris weiterfahren müsse. (…). Seine Frau, die ihm den kleinen Sohn entgegenstreckte, erkannte er nicht, er schlug um sich (…) ein erschütterndes Bild.“
In diesem Moment weiß ich: Es kann kein Märchen sein, dass Beckmann (Rebry’s Manager) einer der größtem „Mixer“ unter den Managern ist.“
Strychnin war häufig anzutreffen wie Hanspeter Born in seinem Buch ‚Das waren noch Zeiten‘ darlegt:
„Im Radsport erfreute sich in der Zwischenkriegszeit Strychnin großer Beliebtheit. Rennfahrer, vor allem in Frankreich und Belgien, waren bekannt dafür, dass sie sich sogenannten Strychninkuren unterzogen, d. h. sich mit geringen Dosen an das Gift gewöhnten, um dann bei einem wichtigen Wettkampf mit Hilfe einer größeren Dosis den Schmerz abzutöten und so dem Körper zu erlauben, bis an die Grenze der Leistungsfähigkeit zu gehen. Ob die Velofahrer durch die Einnahme von Strychnin wirklich besser fuhren, ist eine andere Frage.“
Und dass Arsen über Jahrzehnte hinweg keine seltene Beigabe war, ist, wie bereits oben erwähnt, verbürgt, da könnte folgende Geschichte durchaus einen gewissen Wahrheitsgehalt haben:
„Rennfahrer erzählen über andere Rennfahrer oft haarsträubende Geschichten. Zu Zeiten Fausto Coppis geisterte die Sage von einer kräftespendenden Wunderdroge durch das Radsportmilieu. Ob dazu, wie behauptet wurde, die Eier von mit Arsen gefütterten Hühnern gehörten, die in belgischen Rennfahrerschulen auf dem Speiseplan standen, um die Fahrer auf spätere Arsenbehandlungen vorzubereiten?“ ( Walter Lemke, Fausto Coppi, S. 173)
Sehr kontrovers wurde in Deutschland der Einsatz von ultra-violetten Strahlen diskutiert. Aus den USA kommend, soll diese Anwendung vielen Sportlern schöne Erfolge beschert haben.
Immer intensiver wurde Ende der zwanziger und in den dreißiger Jahren die Diskussion um die Definition des Dopings. Vieles entsprach bereits der heutigen Diskussion. Handelt es sich allein um einen Stärkung natürlicher Prozesse oder bringt die Methode gegenüber den anderen Fahrern unfaire Vorteile, wann ist etwas Nährstoff, wann bereits Stimulanz, ist es entscheidend ob eine Substanz kurzfristig oder langfristig wirkt? Wo ist der Unterschied anzusetzen zwischen therapeutischer und leistungssteigender Wirkung? Wann sind Mittel, die der Regeneration des Körpers dienen, abzulehnen? Ist ein medizinisch indiziertes Mittel Doping oder ein notwendiges Medikament?
In der Praxis gab es diese Unterscheidungen häufig nicht. Genommen wurde von den Sportlern alles was sich anbot und viel versprach und nicht jeder Arzt konnte sich dem Druck von Trainern und Funktionären entziehen, wenn diese forderten ihre Sportler wieder fit zu bekommen. Auch warben die Pharmaunternehmen bereits bei den Wettkämpfen und mancher Sportarzt betrieb selbst Werbung für diese Produkte.
Professionalisierung – Amateure
Für den Radsport galten noch andere Gesetze. Bereits zu Beginn des Radsportbooms um die Jahrhundertwende kam es zu einer Professionalisierung. Hierbei handelte es sich nicht um Sport im Sinne des Pierre de Coubertin, um das hehre Sich-Messen, sondern schnell wurde ein Beruf geschaffen, mit dem sich gut Geld verdienen ließ. Das große Publikumsinteresse am Radsport brachte innerhalb weniger Jahre zwei unterschiedliche Radsportlager hervor, die Professionals und die Amateure, Gegensätze, die ein Jahrhundert lang auch verbandsintern immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen führten.
Diese Professionalisierung begünstigte wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus den Gebrauch von leistungssteigernden Mitteln, fehlte doch das Bewusstsein allein der Leistung und der Ehre willen Sport zu betreiben. Zudem war der Profiradsport immer schon eine geschlossene Gesellschaft, die ihren eigenen Gesetzen gehorchte. Als die ersten intensiven Diskussionen um die Zulässigkeit von Doping entbrannten, wurde die Sonderstellung der Radprofis durchaus gesehen.
„Da bei den Profisportlern der Schwerpunkt nicht im sportlichen, sondern im sozial-beruflichen Erfolg liege, lasse sich Doping in deren Fall durchaus verteidigen, nur im Amateursport sei künstliche Leistungssteigerung in jedem Fall zu verbieten“, so der Deutsche Sportärztebund 1927 auf seinem Jahreskongress in Berlin.
Wie verwurzelt diese Auffassung im Profimilieu immer war und wahrscheinlich ist, zeigen folgende Äußerungen:
Rudi Altig: „Wir sind Professionels, wir sind keine Sportler“ (J.M. Leblanc, Gardien du Tour de France)
Oscar Carmenzind antwortete 1999 auf die Frage, ob in seinem Team gedopt werde etwas ausweichend, sie seien „eben Profis“. (M. Gamper, NZZ 3.9.99)
Philippe Boyer, der auch weiterhin dopen würde, zumal es in anderen Bereichen der Gesellschafft auch keine Beschränkungen gäbe, antwortet auf den Einwandt, alle müssten in der Gesellschaft leben aber niemand sei verpflichtet, Leistungssport zu betreiben:
„Jeder muss arbeiten. Wenn man also die Fähigkeit hat 100 m in 9“80 zu laufen, weiss ich nicht warum man im Büro arbeiten sollte … Für einige Sportler ist der Sport die einzige Möglichkeit sozial aufzusteigen. „(l’Humanité, 25.12.2003)
Sam Van Rooy, ein junger belgischer Radsportler, 2004 U23, hat auch eine klare Meinung:
„Ich bin gegen Doping bei Jugendlichen und Amateuren, aber Doping bei Profis finde ich ansonsten ganz normal. Was gewöhnlich (…) vergessen wird, ist, dass Profis fahren um ihr Brot zu verdienen. Einverstanden: sie fahren gern, sie leben für den Radsport und die meisten genießen auch sehr das typische Interesse, das dem Radsport in unserem Land, oder lasst mich sagen im größten Teil Europa’s, entgegengebracht wird. Aber: für neun von zehn Profis ist es vor allem eine bange Existenz mit wenig Sicherheit. „ >>> Van Rooys Meinung über Doping