Profis und Amateure erzählen
>>> Zitate aus 2 Interviews mit Philippe Boyer aus dem Jahr 2003
Philippe Boyer
Philippe Boyer, 1985 Vizeweltmeister im 1 000 m Zeitfahren auf der Bahn ist eine schillernde Gestalt. Er arbeitete bei der Polizei, betätigte sich aber auch als Drogendealer im Radsportmilieu. Einmal den Schritt hin zur medikamentösen Ergänzung des Trainings und der Wettkämpfe beschlossen, verliert er alle Skrupel und Hemmungen, kümmert sich erst selbst um die richtigen Mittel, begibt sich aber auch in professionelle Hände. Nach seiner Profikarriere bleibt er den Amphetaminen bzw. dem Pot belge treu, leidet unter schweren Depressionen, ist süchtig und wird 2002 in Reims wegen Drogenhandels verurteilt.
Schon früh gab er seine Dopingpraktiken offen zu.
Der folgende Text ist eine Zusammenfassung seines Berichtes aus dem Buch ‚Paroles de dopés’ von Yves Bordenave und Serge Simon, ergänzt durch zwei Interviews.
Leidenschaft
Radfahren musste sein, schon als Kind war der Wunsch stark, doch die Mutter von Philippe Boyer widersetzte sich, versuchte ihm mit Hilfe eines Arztes einzureden, er sei völlig ungeeignet. Er versuchte es mit Rugby, dann mit Fechten, aber immer hieß es, willig aber untalentiert. Doch Boyer sagt von sich selbst: Immer wollte er gerade da auftrumpfen, auffallen, wo man ihm Erfolge absprach.
Nach dem Abitur mit 18 Jahren, gelang ihm endlich mit Unterstützung seines Vaters der Start in den Radsport. Hart war es, aber er gab nicht auf. Immer wieder versuchte er es aufs Neue, irgendwann würde es schon klappen. Bald zeichnete sich ab, dass seine Zukunft wohl eher auf der Bahn lag als auf der Straße. Als sich Erfolge einstellten, konnte er seine Militärzeit im Bataillon de Joinville verbringen, einer Einheit, die vielversprechenden Leistungssportlern vorbehalten war.
Einige seiner Kollegen unterstützten das Training bereits mit Medikamenten und Ergänzungsmitteln, überwiegend keine verbotenen Stoffe, aber es war durchaus eine ausgeklügelte Ergänzung mit Proteinen, Vitaminen, Aspirin, wovon er damals nichts hielt, es strikt ablehnte. Nach der Militärzeit 1978-79 erhält er eine Zweidrittel-Stelle beim städtischen Sportamt von Auberville, die ihm ein gutes Training nebenbei ermöglichte. Er steigt sportlich auf, erlebt seine ersten internationalen Wettkämpfe und trifft auf die Fahrer aus Ostdeutschland: Außerirdische in seinen Augen, unglaublich deren Leistungen.
Weiter ging der Weg nach oben, er wurde vom INSEP, dem nationalen Sportinstitut, der obersten französischen Kaderschmiede, aufgenommen. Er trainierte hart, stellte aber fest, andere Fahrer, einst gleich stark, übertreffen ihn und er kommt trotz größter Anstrengung nicht an sie heran. Er trifft seine Wahl neu und folgt dem Rat seines Trainers, der ihm Ergänzungsmittel empfahl – für Philippe Boyer ist damit eine Grenze überschritten, dahin wollte er eigentlich nie kommen. Doch auch das nützte wenig, die anderen fuhren immer noch besser.
1982 reichte es ihm und er suchte einen Arzt auf, der ihm Anabolika verschrieb und ihn entsprechend beriet. Endlich, es ging aufwärts, er erklomm die Erfolgsleiter, er konnte wesentlich häufiger und härter trainieren, Müdigkeit und Erschöpfung verschwanden dank der immer größer werdenden Anabolika-Dosen, die er sich selbst verordnete. Durch das rechtzeitige Absetzen vor den Wettkämpfen oder Ausweichen auf Produkte, die nur kurze Zeit nachweisbar waren, sank die Wahrscheinlichkeit positiv getestet zu werden. So wurde er französischer Meister im 1000 m Zeitfahren. Er hatte es geschafft, von nun an gehörte er zu den ganz Großen.
Offen angesprochen wurde die pharmazeutische Unterstützung von seinen medizinischen Betreuern und Trainern nicht, er hörte höchstens eine diskrete Warnung, es doch bitte nicht zu übertreiben …
Die Mittel erhielt er von einem Mediziner, der zur Familie gehört und der sich über nichts wunderte, war dies doch offenbar Teil des Hochleistungssports und bezahlt wurde alles ohne Nachfragen von der Polizeiversicherung (seit 1980 ist er Mitglied der Polizei).
Einen weiteren Schub erhielt sein Ergeiz im Vorfeld der olympischen Spiele 1984 in Los Angeles. Der Ostblock boykottierte die Spiele, die übermächtigen Ostdeutschen würden nicht antreten, welche Chance, man konnte vom Podium, gar von der Goldmedaille träumen. Jetzt brannten bei Boyer, nach eigenen Worten, die letzten Sicherungen durch: Weitere Produkte, darunter auch Cortikosteroide, ergänzten seine Spezialkur. Er suchte den in Sportlerkreisen wohlbekannten Dr. Bellocq in Bordeaux auf (siehe auch hier). Doch das war zuviel, im Juni bei den französischen Meisterschaften war er völlig blockiert, nichts ging mehr, er versagte, trotzdem wurde er als Ersatzfahrer für die Spiele nominiert, kam jedoch nicht zum Einsatz. Von der Tribüne aus musste er das Geschehen verfolgen, ein herber Rückschlag.
Durch einen Unfall mit schwerer Verletzung wenig später fand er genügend Zeit über sein Versagen vor den Olympischen Spielen nachzudenken, in ihm wuchs die Erkenntnis, dass der Erfolg keine Frage der Quantität sondern der Qualität sei, dass er in Zukunft auf eine wissenschaftliche Optimierung bzw. Begleitung Wert legen sollte.
Er begibt sich in die Hände von Bruno Roussel und Dr. Gérard Ochart, der sehr interessiert war an den Arbeiten von Professor Francesco Conconi, welcher schon damals als der führende Kopf auf dem Gebiet der Trainingswissenschaft galt (es war noch die Zeit vor EPO). Boyer musste sich anhören und es akzeptieren, dass er überhaupt keine Grundlagen habe, auf die er aufbauen könne, dass er ganz von vorne beginnen müsse. Das physische Training und die begleitende pharmazeutische Unterstützung wurden penibel geregelt und aufeinander abgestimmt. Wochen mit genau dosierten Anwendungen wechselten ab mit Zeiten der Abstinenz. Alles bekam Sinn, wurde erklärt. Mit gutem Erfolg. Boyer machte große Fortschritte und hatte sogar auf der Straße Erfolg. 1985 wurde er Vizeweltmeister in Rom, nur geschlagen von einem Ostdeutschen! Er blieb erfolgreich und fuhr zwei Jahre lang auf der Straße als Edelhelfer für Laurent Fignon und Cyrille Guimard in der Equipe Système U. Er ist ganz oben, er gehört der ganz besonderen Klasse der „Seigneurs de la route“ an – ein langanhaltendes Gefühl: ein großer Stolz erfasste ihn noch Jahre später, wenn Fahrer ihn wiedererkannten und ihm die Hand reichten.
Das Aus kam 1989, mit 33 Jahren bekam er eine Hepatitis B. Als Hochleistungssportler war er vom Polizeidienst freigestellt, aber auch jetzt blieben ihm Möglichkeiten, sich dem Sport zu widmen, er wurde Privattrainer:
„Im Milieu wurde ich ein wenig der Typ, der in der Lage war, die Leute mit Mitteln zu versorgen, ohne dass sie riskierten aufzufliegen. Der FFC (franz. Radsportverband) betrachtete mich etwas misstrauisch, umso mehr als ich anlässlich einer polizeilichen Hausdurchsuchung, bei der Amphetamine sichergestellt wurden, festgenommen wurde. Das Verfahren wurde zwar eingestellt, doch etwas später wurde ich bei einer Zollkontrolle in Arras mit Amphetaminen erwischt. Dieses Mal haben sie mich nicht verschont, ich bekam eine Disziplinar- und eine Geldstrafe.“
Amphetamine erreichten Boyer erst spät. Auf der Fahrt zu einem Kriterium drohte er einzuschlafen, so dass sein Fahrerkollege Alain Bondue, später Manager bei der Equipe Cofidis (im Zuge der Cofidis-Affaire um Gaumont und Millar 2004 entlassen), ihm eine Dosis als Muntermacher anbot. Die Wirkung war außergewöhnlich gut, die Stimmung lange bestens, der Wunsch nach Widerholung kam schnell auf. Recht bald kannte er die Bezugsquellen.
Die Amphetamine und damit verbunden der Pot belge, blieben ihm erhalten, auch nach Karriereende.
„Ich trainiere die Jungen, aber ich fühle mich vom Radsport ausgeschlossen, also möchte ich ihnen beweisen, dass ich noch mithalten kann. Ich will zeigen, dass ich noch mit hocherhobenem Haupt durch das Leben gehe. Zu der Zeit arbeitete ich nachts und kümmerte mich tagsüber um die Jungs und die Mädchen. Ich wollte ihnen zeigen, dass ich noch Teil des Radsports bin. Um meinen Konsum zu finanzieren bündelte ich die Einkäufe und verkaufte sie vor allem im Radsportmilieu. Mir war nicht bewusst ein Drogenabhängiger zu sein.“
„In Wahrheit leide ich schrecklich darunter ein schwarzes Schaf für die zentralen Radsportinstanzen zu sein. Ich ertrage es nicht , dass Leute wie die vom FFC, sich mir gegenüber mit solcher Heuchelei aufführen. Dieselben, die mir heute die Lizenz verweigern, haben durch ihr Stillhalten die verbotenen Praktiken Jahr für Jahr gedeckt.“
Dieser Beitrag aus dem Buch ‚Paroles de dopés‘ kann als Zusammenfassung seines eigenen Buches, das 2003 erschienen ist, gesehen werden:
Philippe Boyer, CHAMPION, FLIC ET VOYOU, Éditions de la Martinière 2003