Stefan Rütimann
Im Juni 2002 bekam der Schweizer Radrennfahrer Stefan Rütimann, 24 Jahre alt, eine Sperre von vier Jahren wegen Dopings im Wiederholungsfalle.
Nach der Schlussetappe der Romandie-Rundfahrt wurde er auf Testosteron positiv getestet. Im Jahr 2001 mußte er bereits eine Strafe von 7 Monaten überstehen.
In einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung am Sonntag vom 09.06.2002 spricht er über sich und seine Dopingerfahrungen.
Die NZZ gestattete C4F/doping-archiv.de den Abdruck, danke !
Interview: Wagner Elmar
„Es ist eine grosse Last weg“
Der Radprofi Stefan Rütimann wurde zweimal des Dopings überführt. Er erzählt, warum er sich gedopt hat.
Wann sind Sie erstmals mit Doping konfrontiert worden?
Im letzten Jahr, allerdings ohne mein Wissen. Ich wurde anlässlich eines Rennens positiv auf Norandrosteron getestet. Schuld daran war ein Nahrungsmittelzusatz namens Chrysin, den ich via Internet in den USA geordert hatte und der mit einer Dopingsubstanz kontaminiert war. Das konnte ich später beweisen.
Vorher hatten Sie nie mit Doping zu tun?
Nein, nie.
Auch der Teamarzt oder der Sportliche Leiter des aktuellen Arbeitgebers drängte nie auf den Konsum von Dopingsubstanzen?
Nie hatte sich ein Gespräch mit ihnen um Doping gedreht.
Im Mai wurden Sie trotzdem zum zweiten Mal positiv auf Doping getestet, diesmal auf Testosteron.
Als Radsportler wird man generell des Dopings bezichtigt. Das war seit Beginn meiner Profikarriere im Jahr 1999 so, und nach jedem guten Resultat tauchte der Verdacht wieder auf. Da wurde mir klar, dass ich als Radprofi in der Öffentlichkeit so oder so verdächtig bin. Und nach dem Vorfall im vergangenen Jahr war ich erst recht als Dopingsünder abgestempelt. An einigen Orten wurde mir „Doper“ nachgerufen. Irgendwann hatte ich dann das Gefühl, es mache keinen Unterschied mehr, ob ich nun Doping nehme oder nicht.
Und das brachte Sie dazu, Doping zu konsumieren?
Das ist keine Ausrede, aber: Ja, so war es.
Wann haben Sie damit begonnen?
Ich erhielt beim italienischen Team Tacconi für 2002 einen Jahresvertrag mit einem Monatslohn von 4000 Franken. Damit wäre ich – mit den Schulden vom Vorjahr – gerade ausgekommen. Und da sagte ich mir: Mal sehen, wie ich Anfang Saison in Form bin. Sollte ich in den ersten paar Rennen merken, dass es mir nicht ganz nach vorne reicht, greife ich halt zu Doping. Immerhin hatte ich vor dem Saisonstart neun Monate lang wie ein Verrückter trainiert.
Sie stiegen Anfang März nach einer mehrmonatigen Sperre in die Saison ein.
Ich fuhr in Sizilien die ersten Rennen und spürte: Es läuft mir gleich wie in den Jahren zuvor – obwohl ich all meine Zeit und alle Bemühungen in den Radsport gesteckt hatte. Ich fand keinen Punkt, den ich noch hätte verbessern können. Nach ein paar Rennen entschied ich mich also fürs Dopen.
Und Sie wussten sofort um die richtige Substanz?
Offenbar nicht, sonst hätten sie mich nicht erwischt.
Von wo bezogen Sie denn die Informationen?
Das möchte ich nicht sagen.
Aus dem Internet?
Nein, von Vertrauenspersonen.
Die aus dem Radsportmilieu stammen?
Das sage ich nicht.
Und wie beschafften Sie die Substanzen?
Auch dazu möchte ich mich nicht äussern.
Weshalb nicht?
Ich möchte nicht, dass der ganze Radsport mit reingezogen wird. Es soll hier nur um mich gehen. Ausserdem geht es um kriminelle Handlungen, die Leute ins Gefängnis bringen können.
Wie schwierig ist es, an Doping ranzukommen?
Nicht allzu schwer.
Und den Entscheid fällten Sie selber?
Ja, denn ich wusste: Die Verantwortung liegt einzig bei mir.
Haben Sie alles aus dem eigenen Sack bezahlt?
Ja.
Das kann nicht allzu billig gewesen sein.
Dazu will ich mich nicht äussern. Es wäre ohnehin etwas gewesen, das ich nur für zwei, drei Monate ausprobiert hätte – um zu schauen, ob ich damit an die Weltspitze gelangen kann.
Und: Hat das Testosteron gewirkt?
Ich fuhr eine gute Tour de Romandie, doch die grossen Resultate fehlten – Etappen gewann ich jedenfalls keine. Ich musste auch primär für den Teamleader Dario Frigo fahren. Aber in gewissen Situationen, beispielsweise im Finale, lief es mir besser; ich war nicht immer am Anschlag. Es passierte etwas, aber nichts Weltbewegendes. Es fehlte immer noch viel zur Weltspitze.
Wussten Sie, welche Wirkung die Substanz hat?
Ich hatte mich zuvor genau über die Wirkung von Testosteron informiert; ich wusste, dass es keine gesundheitlichen Probleme gibt.
Weshalb waren Sie da so sicher?
Vertrauenspersonen hatten mich darüber aufgeklärt.
Vertrauenspersonen?
Experten.
Sie wussten, dass Testosteron nachgewiesen werden kann?
Nicht unbedingt.
Also wurden Sie falsch informiert.
Vielleicht. Aber unsere Körper sind keine Maschinen, es kann immer Überraschungen geben.
Hatten Sie falsch dosiert?
Wieso ich positiv getestet wurde, weiss ich eigentlich bis heute nicht. Es interessiert mich aber auch nicht mehr. Ich trug das Risiko – und es ist schief gegangen.
Spritzten Sie auch andere verbotene Substanzen?
Nein, nur Testosteron.
Es gibt anscheinend neue Dopingsubstanzen auf dem Markt. Kennen Sie sie?
Was heisst „neu“?
Beispielsweise EPO, das nicht nachweisbar ist.
Davon weiss ich nichts. Mit EPO hatte ich nie etwas zu tun.
Hatten Sie eine Auswahl von Dopingmitteln zur Verfügung?
Es war nicht so, dass ich zu einem Arzt ging und ihn um dieses oder jenes Produkt bat. Es war ein Prozess, in dem ich mehr und mehr Informationen zusammentrug und dann schaute, wo ich mein bevorzugtes Mittel erhalten würde. Ungefähr so lief das.
Hatten Sie beim Dopen keine Gewissensbisse?
Doch, extreme. Der Entscheid fürs Doping fiel mir überhaupt nicht leicht. Aber wenn man einen dermassen hohen Trainingsaufwand betreibt und merkt, dass es nicht einmal für Wohnung, Essen und Ferien reicht.“.“. Ich wusste, dass es so nicht weitergehen darf.
Konnten Sie mit jemandem über das schlechte Gewissen reden?
Nein, und das war das Schwierige. Ich wusste, dass ich nicht verstanden würde.
Und Sie hatten nie das Gefühl, ein Betrüger zu sein?
Doch, irgendwie schon. Und gleichzeitig unterdrückte ich dieses Gefühl. In den drei Jahren als Profi hat sich mein Charakter verändert.
Inwiefern?
Nicht mehr der Sport war mir wichtig, sondern der Erfolg. Wichtig war nur noch: Wie werde ich besser? Klar, dass man sich da verändert – nicht nur zum Guten.
Wenn ich mit dem Stefan Rütimann von vor drei Jahren reden könnte, würde der mich hassen. Er verstünde mich nicht. Darum verstehe ich alle, die nicht begreifen können, dass ich zu Doping gegriffen habe. Dazu muss man selber im Milieu sein.
Gingen Sie davon aus, dass sich die Gegnerschaft auch dopt?
Das ist schwierig, weil man nicht weiss, wem man glauben kann. Einerseits liest man immer wieder über Dopingfälle. Andererseits habe ich Profikollegen, die garantiert „sauber“ fahren.
Wird im Fahrerfeld überhaupt über Doping gesprochen?
Nur im kleinen Kreis. Es ist viel Misstrauen da.
Doch den Teamkollegen konnten Sie trauen?
Ja, da waren einige, denen ich trauen konnte.
Sind Sie erleichtert, dass jetzt alles vorbei ist?
Es ist eine grosse Last weg. Es war zwar immer mein Traum gewesen, Radprofi zu werden. Doch dann kam dieses ganze Doping dazu. Vor allem meine erste, ungerechtfertigte Dopingsperre – das war total unfair, das habe ich nie verwunden. Zuvor hatte ich so viel Spass am Leben, aber danach .“.“. Das Dopen hat mir die Freude am Radfahren genommen. Der Sport war plötzlich nur noch mein Beruf, nicht mehr meine Leidenschaft. Jetzt weiss ich, dass ich nie mehr Entscheidungen für oder gegen Doping treffen muss. Und ich bin froh, dass ich meine Freunde nicht mehr belügen muss. Ich hatte mich aus Angst vor der Lüge immer mehr aus meinem sozialen Umfeld zurückgezogen.
Wie haben die Eltern auf die ganze Sache reagiert?
Sie waren enttäuscht, zu Recht.
Sie wohnen eigentlich in Sins (AG), sind aber jetzt anderswo untergetaucht.
Ich bin froh, dass ich bei Kollegen untergekommen bin und nicht jeden Tag mit der ganzen Geschichte konfrontiert werde. Für mich ist es momentan leichter, nicht zu Hause zu sein. So kann ich mich auf die Zukunft konzentrieren, denn für mich fängt ein neues Leben an. Zuerst muss ich mal schauen, für welchen Beruf ich mich entscheide. Ich hatte bereits einen Termin beim Berufsberater, aber ich bin schon 24-jährig und kann nicht irgendeine Lehre anfangen.
Haben Sie Geld auf der Seite?
Ich konnte nie etwas sparen. Im Gegenteil: Mein Lohn reichte nie ganz, um ein normales Leben zu führen. Ich musste drauflegen; das hat mich aber nie gross gestört. Es war auch nicht der Grund zum Dopen.
Würden Sie den Beruf des Radrennfahrers nochmals wählen?
Seit ich elf Jahre alt bin, hat der Radsport mein Leben bestimmt, und es gab bis vor kurzem viele schöne Zeiten. Vermutlich würde ich wieder den gleichen Weg wählen.
Und Sie würden den Beruf weiterhin empfehlen?
Hat einer die Möglichkeit, Radprofi zu werden, sollte er sie nutzen.