Das Thema Doping in der öffentlichen Diskussion 1990 – eine Annäherung
Wendezeit IV: 1993 – wachsende Belastungen durch Stasi-Enthüllungen
die Diskussion um Trainerverträge geht weiter
NEUE TRAINERVERTRÄGE IM DLV
Die 1992 öffentlich erörterten Trainerprobleme veranlassten den DLV jedoch nicht dazu, die Anfang 1993 anstehenden Vertragsverhandlungen nach außen oder zumindest verbandsintern transparent zu gestalten.
„Eine bisher geheimgehaltene Liste über neue „Hauptamtliche Trainerverträge (Ost)“ hat die ehemalige Weitspringerin [Heide Rosendahl] so erbost. Mit dem Papier soll am kommenden Wochenende bei den Hallenmeisterschaften in Sindelfingen das Verbandspräsidium vor vollendete Tatsachen gestellt werden. Lakonisch informieren DLV-Präsident Helmut Meyer, 66, und Sportwart Manfred Steinbach, 59, auf einer DIN-A4-Seite, daß sie 7 ehemalige DDR-Trainer für vier Jahre und 14 weitere für zwei Jahre eingestellt haben: „Die Verträge wurden vom Präsidenten und Sportwart unterzeichnet.“ „Viele schlimme Finger“ aus der deutschen Doping-Republik DDR sieht Hartmut Heise, der Präsident des Landesverbandes Niedersachsen, damit wieder in Amt und Würden.“
Verträge bekamen: Edwin Tepper (Sprint), Werner Goldmann (Kugelstoßen), Erich Drechsler (Weitsprung), Klaus Baarck (Siebenkampf), Helmut Böttcher (Diskuswurf) und Hans-Joachim Pathus (Gehen). Auch Bernd Schubert erhielt einen 4-Jahresvertrag.
Die Doping-Gegner waren entsetzt. Vor der Neuwahl des DLV-Präsidiums herrschte innerhalb des DLV offener Krieg und ‚der Spiegel‘ spekulierte darüber, ob das Festzurren der Veträge durch die alte Garde um Meyer und Steinbach nicht Steinbachs Chancen auf den Präsidentenposten erhöhte, da von den anderen
„nun keiner das schmutzige Erbe des DDR-Dopings antreten mag.“ „Für DLV-Jugendwart Rüdiger Nickel, gleichzeitig Dopingbeauftragter, ist deshalb die Abstimmung über das Präsidium im April „eine Richtungswahl“. Sie entscheide, ob wie bisher „rücksichtslos das Bruttomedaillenprodukt“ erhöht oder Vertrauen in die Leichtathletik zurückgewonnen werden könne.“ (der Spiegel, 22.2.1993, ‚Schlimme Finger‘)
Nickels Kritik an der Medaillenzählerei war vor dem Hintergrund zu sehen, dass nicht wenige innerhalb des Verbandes ernüchtert feststellen mussten, dass die durch die Wiedervereinigung des Sports erhofften Siegträume langsam zerbarsten. Im Leichtathletik-Magazin 4-1993 wurde z. B. im Rückblick auf die Olympischen Spielen in Barcelona festgehalten, dass zwar noch der dritte Platz im Medaillenspiegel behauptet werden konnte, doch die folgenden Länder Großbritannien und Kenia waren sehr nahe gekommen.
„Die Erfolge der Garde um Heike Henkel, Dieter Baumann, Heike Drechsler und Silke Renk haben vieles, aber nicht mehr alles verdecken können. Anspruch und Wirklichkeit driften immer weiter auseinander.“
Die Trainerfrage und der Umgang mit der DDR-Doping- und Stasivergangenheit führte zu erheblichen Misstimmungen innerhalb und untereinander der DLV-Landesverbände. Vor allem in den Verbänden der neuen Bundesländer kam entsprechende Kritik schlecht an. Dies erfuhr auch der kämpferische und stets antidopingkritsche Harald Schmid. In einem Interview im Tagesspiegel nahm er kein Blatt vor den Mund. Er monierte u.a. die Einstellung Dr. Schuberts. Er stellte fest, die Osttrainer besäßen keine besonderen fachlichen Qualitäten, ihre Erfolge in der Vergangenheit beruhten auf unerlaubten Mitteln, neuer Erfolge gäbe es nicht. Er kritisierte in diesem Zusammenhand auch die Geldervergabe des BMI und erklärte das DLV-Präsidium zum ‚Todengräber‘ der Leichtathletik. Solche Vorwürfe wollten die Landesverbände aus Thüringen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen und Sachsen-Anhalt nicht hinnehmen und gaben eine entsprechende Gegen-Stellungnahme ab. (Leichtathletik, 4-1993)
Auch Athletensprecherin Gabi Lesch-Sewing gehörte zu den scharfen Kritikern innerhalb des DLV und nahm kein Blatt vor den Mund. Während des 2. Runden Tisches in Erfurt zur Dopingproblematik im Januar 1993 legte sie ein Thesenpapier vor, in dem sie eine klare Kursänderung einforderte.
>>> Statement von Gabi Lesch-Sewing
Die Diskussion am Runden Tisch Dopingbekämpfung, der unter dem Thema „Doping – Schauplatz für Verbandsjuristen und Wissenschaftler“ stand, verlief nicht so wie sich viele erhofft hatten. Helmut Digel, DLV-Berater in Grundsatzfragen, meinte zwar, obwohl sich der Verband zunehmend in Zugzwang befände, wäre der Runde Tisch „nicht angelegt. drängende Fragen der Zeit umgehend zu erledigen“, er sei auf die Zukunft ausgerichtet. Nach Rüdiger Nickel wolle man endlich miteinander reden und nicht über die Medien. Dies war jedoch nicht einfach, fehlte doch die Leistungssportabteilung des DSV, eine Abteilung, die viel Kritik einstecken musste und für die Doping-Entwicklungen im Westen mitverantwortlich gemacht wurde. Zudem, so Andreas Singler in der MRZ am 25.1.1993, verhalf zu einer gewissen Trostlosigkeit
„die Erkenntnis, daß Sportverbände nur die erwischten Athleten bestrafen können, nicht aber die Beteiligten im Umfeld. So können sich etwas Vereinstrainer durch Austritt den Verfolgungen entziehen. Angesichts dieses Dilemmas wurde diskutiert, ob härteres staatliches Eingreifen, immerhin handelt es sich beim Doping stets um Körperverletzung und Arzneimittelmißbrauch, nicht angezeigt wäre. Der Sport, und auch der Deutsche Leichtathletik Verband, will das Problem jedoch selbst in den Griff bekommen. Ob er das überhaupt kann, wird von vielen bezweifelt. Denn der Blick wird da von vielen in die Zukunft gerichtet, die das gegenwärtige Ausmaß der Problematik mitverursacht haben. Auch der DLV ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weit davon entfernt, was Helmut Digel als Prinzip forderte: „Verantwortung übernehmen für das, was man getan hat.“
Und so gingen die Auseinandersetzungen weiter. Die Dopinggegner gaben nicht auf. Als Beispiel kann die Kontroverse zwischen Gerhard Treutlein und DLV-Präsident Helmut Meyer gelten, die auf das Treffen in Erfurt folgte und in der auch das Papier von Gabi Lesch-Sewing eine Rolle spielte, da Treutlein für dessen Verbreitung gesorgt hatte.
>>> Kontroverse Treutlein – DLV, 1993
Neben der verbandsinternen Kritik wurde das Thema auch zunehmend in der Öffentlichkeit diskutiert. Nach dem Spiegel-Artikrel ‚Schlimme Finger“ (s.o.) sah sich der DLV Anfang März gezwungen, zu seiner Rechtfertigung eine längere Presserklärung abzugeben, die von Helmut Digel und Rüdiger Nikel verfasst wurde. Sie kann >> hier nachgelesen werden.
Noch vor dem Verbandstag des DLV, auf dem das Präsidium zur Wahl stand, verzichtete Manfred Steinbach auf seine Präsidentschaftskandidatur und erklärte seinen Rücktrit als Sportwart, er stehe für keine Aufgaben innerhalb des DLV mehr zur Verfügung.
Helmut Meyer erklärte zu seinem Abschied:
„Ich habe das Doping-Problem in dieser Härte nicht auf mich zukommen gesehen. … Vielleicht war es mein Schicksal mit dem Ruf als „Leistungsmeyer“, daß mir mein Kampf gegen Doping keiner so richtig abgenommen hat. Doch ich betone es noch einmal: Doping darf es nicht geben.“
Im November 1992, als er seinen Verzicht auf eine erneute Präsidentschaftskandidatur bekannt gegeben hatte, fügte er an:
„Der Knackpunkt war in Barcelona. Dort habe ich eine Scheinheiligkeit erlebt, die mich ankotzt. Wenn ich von den gleichen Leuten, die Doping-Mißbrauch beklagen, dafür verantwortlich gemacht werde, daß unsere Mannschaft leistungsmäßig nachließ, dann widert mich das an.“ (LA, 17-1993)
Im März 1993 gab er zu nur widerwillig seinen Chefsessel zu räumen, gerne hätte er noch 4 Jahre darauf verbracht. Und zu der Weiterbeschäftigung der Ost-Trainer meinte er, „Osttrainer und Ostfunktionäre sind in der Vergangenheit, was Doping betrifft, nicht besser oder schlechter gewesen als wir im Westen.“ Entscheidend sei, dass sie sich nach der Wende nichts mehr zu Schulden haben kommen lassen. (LA, 13-1993)
ANSICHTEN EINES SCHEIDENDEN PRÄSIDNTEN:
Helmut Meyer gibt sich enttäuscht und bitter in einem Interview in SPORTS, April 1993:
… Sports: Gegen einen Teil der 22 Ostrainer liegen Hinweise vor, daß sie in Doping verstrickt waren.
MEYER: Jeder von denen ist überprüft worden. Nicht nur von unserer unabängigen Juristenkommission sondern auch von unseren Anti-Dopingbeauftragten. Und der Nickel ist gewiß ein harter Hund. Die Namen sind auf der Verbandssitzung im November 1992 vorgestellt worden. Da waren alle Landesfürsten dabei, da hat es keine Einwände gegeben. Dann ist diskutiert worden, ob Ein-, Zwei- oder Vierjahresverträge gemacht werden. Wenn ich mich nicht irre, gab es eine Gegenstimme und eine Enthaltung bei 34 Stimmen, als entschieden wurde: generell Zweijahresverträge, in zentralen Funktionen vier Jahre. So hat der Verband entschieden, nicht ich.
SPORTS: Was ist Ihre persönliche Meinung?
MEYER: Für mich ist nicht entscheidend, was vor der Wende gewesen ist. Diese Leute haben uns nicht enttäuscht. Sie haben seither sauber gearbeitet. Sie werden, was die Qualifikation angeht, kaum vergleichbare Leute im Westen finden. Und außerdem: Die Krabbe läßt der Rechtsausschuß laufen, der Erich Honecker sonnt sich in Chile – und wir sollen die 22 Familien dieser Trainer unglücklich machen? So ein Widersinn! …
Ich bin heute der Ansicht, daß man Doping auf eine Stufe mit Kriminalität stellen muß. Was mich innerlich belastet, ist die Tatsache, daß ich Doping als Kavaliersdelikt angesehen habe. So wie Autofahren in betrunkenem Zustand. Nur hinterher, nach dem Unfall, sieht man das anders. Und ich wußte auch nicht, welche Tragweite Doping hat. … ich wußte, daß etwas geschah, und ich hatte manchmal sehr starke Vermutungen, daß da auch weltweit etwas geschieht. Auch im Westen Deutschlands.
SPORTS: Seit wann?
MEYER: Wenn 1988 Olympiateilnehmer- die wissen: Betrete ich Korea, werde ich getestet! – die Einreise verzögern und in ein Trainingslager in Japan gehen, hat man Vermutungen.
SPORTS: Normal wäre gewesen, diesen Vermutungen nachzugehen.
MEYER:Heute. Damals noch nicht.
SPORTS: Wie verträgt sich das: Einerseits gegen Doping kämpfen, andererseits zum Medaillenspiegel schielen.
MEYER: Die deutsche Mannschaft war sauber in Barcelona. Aber plötzlich wurde ich angegriffen: „Mensch, diese Flaschen, und dann erst der Meyer. So ein sportlicher Niedergang …“
…
SPORTS: Seit wann kennen Sie Pharisäertum im Umgang mit Doping?
MEYER: Bei der Europameisterschaft 1990 in Split ging es los. „Nur sieben Medaillen. Schmeißt eure Flaschen Trainer raus“, hieß es. Und ich saß da und ahnte genau, wie die Ergebnisse zustande gekommen sind. Beweisen konnte ich aber nichts. Also mußte ich antworten: „Wir wollen möglichst viele Osttrainer anstellen.“ …
SPORTS: Gibt es überhaupt eine europäische Anti-Doping-Front?
MEYER: Hut ab vor den Skandinaviern, vor den Franzosen auch, obwohl die immer nur erzählen, daß sie etwas machen. Und wenn die vielleicht 20 Kontrollen im Jahr in der Leichtathletik machen – aber immerhin, sie machen etwas.
SPORTS: Sie sind aber bescheiden.
MEYER: Es sind Teilerfolge. Es gibt schließlich immer noch Institute in der WelJt, die Doping weiterentwickeln. …
SPORTS: Wieviel Rückendeckung erhält der DLV durch den Internationalen Leichtathletik-Verband im Kampf gegen Doping?
MEYER: Primo Nebiolo sagt: Ihr Deutschen seid ganz schön schlau. Ihr verurteilt die Krabbe als Präsidium, habt euer Alibi und läßt euren Rechtsausschuß anders entscheiden. Der Nebiolo glaubt, wir wären hinterhältig. …
SPORTS: Ist es zutreffend, daß die USA sich beim ehemaligen Klassenfeind, zum Beispiel der DDR, mit Doping-Know-how eindeckten.
MEYER: Ja, und das ist empörend. Ich sage Ihnen mal, wie das ist, wenn der DLV in den USA kontrolliert … Dem amerikanischen Verband ist es immer höchst unangenehm, wenn wir kommen und unsere Leute testen, die im Trainingslager sind. Die amerikanischen Athleten stehen nämlich daneben und lachen sich kaputt.
SPORTS: Woher haben Sie diese Gelassenheit, wenn Sie so ungeheure Dinge aussprechen?
MEYER: Ich habe mit dem Thema abgeschlossen. Am 24. April endet mein Arbeitsvertrag.
Helmut Digel meinte nach seiner Wahl zum DLV-Präsidenten im April 1993 zu der weiter schwelenden Diskussion um die Einstellung ehemaliger DDR-Trainer:
„Ich glaube, wir brauchen Brücken. Das exzellente Know-how in den neuen Ländern sollten wir unbedingt halten wenn wir die Leichtahletik mittel- und langfristig stabilisieren wollen. Aus meiner Sicht war es ein Fehler, daß wir Trainer eine Erklärung haben unterschreiben lassen, die nach hinten gerichtet ist und die im Grunde genommen verhindert, daß wir das Dopingproblem aufklären und zwar im Osten wie im Westen. Was wir benötigen sind Erklärungen, die nach vorne gerichtet sind. Wir haben eine Situation aufgebaut, durch die es kein Entrinnen gibt. Jeder Trainer, der genauer über das DDR-Sportsystem spricht, gefährdet sich selbst. Und dies ist keine Perspektive. Ich stehe zu diesen 22 Trainern, wie das alte Präsidium zu diesen Trainern gestanden hat. Sie wurden überprüft und ich sehe gar keinen Sinn darin, neue Überprüfungen vorzunehmen, wenn nicht neue Sachverhalte auf den Tisch kommen. Sollte dies aber der Fall sein, dann muss das neue Präsidium reagieren.“ (Leichtathletik, 17-1993)
Gibt Prof. Digel hier zu, dass mit den Erklärungen Augenwischerei betrieben wurde? In einem weiteren Interview wenig später wird er konkreter:
„Es war doch so, dass ein ehemaliger DDR-Trainer bei der Einstellung unterschreiben musste, daß er nie unerlaubte Mittel weitergegeben oder angeordnet hat. Wollte er den Job haben, war er gezwungen zu lügen, und wir wussten das. Unter diesen Bedingungen war Aufklärung nicht mehr möglich.“ DIE WOCHE, 8.7.1993:
Ein weiterer, vielleicht nicht ganz unbedeutender Grund für die Amnestie der 22 Trainer geht aus einer Meldung des sid vom 28. 6.1993 hervor. Darin heißt es, der DLV sei vor großem Schaden bewahrt worden, denn die Anstellung hätte nach Helmut Digel den Verband vor dem ‚finanziellen Offenbarungseid‘ bewahrt. Am Rande des Europacups in Rom hätte der DLV-Präsident erläutert, dass man als Arbeitgeber mit einigen Arbeitsgerichtsprozessen hätte rechnen müssen.
„Da die in der Öffentlichkeit erhobenen Doping-Vorwürfe juristisch nicht als Kündigungsgrund ausgereicht hätten, wäre der Verband mit einer Reihe von Arbeitsgerichts-Prozessen konfrontiert worden. Eine daraus resultierende finanzielle Belastung hätte der ohnehin mit finanziellen Problemen kämpfende DLV kaum verkraften können.“
NEUE TRAINERVERTRÄGE IM DEUTSCHEN SCHWIMMVERBAND (DSV)
Der Deutsche Schwimmverband löste seine Probleme mit ehemaligen DDR-Trainern scheinbar ruhiger. Im Januar 1993 fanden sich die Trainer Bernd Henneberg (Magdeburg), Dieter Lindemann, Volker Frischke (Berlin), Winfried Leopold (Leipzig) und der Wissenschaftler Günther Baumgart (früher Leipzig, nun Stuttgart) in Frankfurt /M zu einer Anhörung vor der Antidoping-Kommission des Deutschen Sportbundes (DSB) ein. Lutz Wanja (früher Potsdam, nun Magdeburg) war verhindert. Zu einer endgültigen DSB-Empfehlung kam es dabei nicht, einer dreimonatigen Überbrückungsbeschäftigung stand aber nichts im Wege. Die endgültige Entscheidung wurde auf den 11. Februar vertagt. Kommissionsvorsitzender Evers stellte fest,
„daß es nicht um Unschuldsbeweise für die Vergangenheit gehe, sondern um die Aussicht, daß für die Trainer und den Wissenschaftler eine dopingfreie Zukunft garantiert werden könne.“
Problematisch blieb der Fall Dieter Lindemann, aktueller Trainer von Franziska van Almsick, vierfache Medaillengewinnerin bei den Olympischen Spielen in Barcelona 1992. Der Landessportbund (LSB) Berlin hatte Lindemann wegen ‚wegen fehlender eindeutiger Aussagen in Sachen Doping‘ nicht weiterbeschäftigt. Das übernahm daraufhin der DSV.
„Zu einem Gespräch zwischen den beteiligten Verbänden kam es nicht. Schwimmwart Hartogh reichte die Begründung der Berliner nicht aus, um den Schritt des LSB nachzuvollziehen. Nachfragen wollte er auch nicht. „Da die Unterlagen vertraulich waren, bezweifle ich, ob wir überhaupt Auskunft bekommen hätten“, sagte der DSV-Schwimmwart.“ (FAZ, 21.1.1993)
Am 1. Februar wurden alle noch verbliebenen Zweifel vor der Kommission ausgeräumt. Dieter Lindemann, Lutz Wanja, Bernd Henneberg, Volker Frischke, Winfried Leopold und Günter Baumgart konnten auf Empfehlung der Kommission weiterbeschäftigt werden wenn auch unter Auflagen, allerdings
„über das Ausmaß der „strengen Auflagen“ machte Evers am Donnerstag abend in Frankfurt ausdrücklich keine Angaben.„ (FAZ, 12.2.1993) Laut Spiegel soll dabei Dieter Lindemann vor dem DSB jegliches Doping zu DDR-Zeiten abgestritten haben (der Spiegel, 21.6.1993).
Harm Beyer, Präsident des Deutschen Schwimmmverbandes, war anscheinend zufrieden, wähnte er doch
„1993 ein Potenzial von deutschen Athleten im Anmarsch, „dass in seinem Ausmaß unübertroffen sein dürfte“. Der Fehler vieler Sportfunktionäre sei es, „den Spitzensport wie die übrigen Bereiche des Sports unter Beachtung idealistischer Prinzipien wie Ethik, Moral, Fairness, Edelmut, Sauberkeit, Ehrlichkeit etc. führen zu wollen. … Nur der Beste ist erfolgreich, und um Bester zu sein, muss alles ausgenutzt werden, was das Erreichen dieses Ziels ermöglicht.““ (Stuttgarter Zeitung, 26.3.1993, zitiert nach U. Müller/ G. Hartmann, Vorwärts und Vergessen 2009, S. 210)
(Siehe auch 1991 Deutscher Schwimmverband DSV, Interview Harm Beyer)
Das Thema Doping war damit im DSV jedoch nicht vom Tisch, es besaß weiterhin Sprengkraft. Auf dem Verbandstag im Mai 1993 erlitten einige Funktionsträger empfindliche Niederlagen, am deutlichsten wurde Vizepräsident und Doping-Beauftragter Jürgen Medla abgemahnt. Auch Schwimmwart Hans Hartogh wurde im ersten und zweiten Wahlgang nicht wiedergewählt. DSV-Präsident Klaus Henter
„zeigte sich „erschüttert“ ob dieser Ergebnisse. Gleichwohl kennt er die Ursachen in den wichtigsten Fällen. Seinem Vertreter Medla hatte Henter die Abwahl prophezeit, nachdem er dessen Rechenschaftsbericht gelesen hatte. In diesem warf Medla seinem Vorgänger als Antidoping-Beauftragtem, Harm Beyer, „Skandale und Irritationen“ im Amt vor, die er im Einzelfall „mit überlegter juristischer Argumentation“ bereinigen konnte. Ausdrücklich erwähnte er auch das „Verfahren Astrid Strauß, das ebenfalls von Anfang an mit Pannen gepflastert“ war.“
Seine Antidopingarbeit bezüglich einer Präzisierung und Reform der Antidopingbestimmungen des Verbandes scheint nicht gewürdigt worden zu sein.
„Vom 1. Oktober an haben diese nun Satzungskraft, was bisher nicht der Fall gewesen ist und den Verband in der Auseinandersetzung vor ordentlichen Gerichten stärken soll. Zudem wurden die Regeln präzisiert, die Strafen verschärft und ausdrücklich auf Trainer und Betreuer ausgedehnt.“ (FAZ, 24.5.1993) (Mehr zur Reform der DSV-Antidopingbestimmungen siehe FAZ, 21.5.1993)
Die Ausstellung der Trainerverträge für die ehemaligen Ost-Trainer hatte für den DSV finanzielle Folgen, die den schwelenden Ost-West-Spannungen Vorschub gab. 1,8 Millionen DM flossen 1993 in die Trainingszentren in Berlin, Potsdam und Magdeburg gegenüber 200 000 Mark, die sich Hamburg und Essen teilen mussten. Eine Verteilung, die manchen Verantwortlichen im Westen sauer aufstieß. Präsident Henter bemerkte jedoch keinen Konflikt, zum Großteil seien das zweckgebundene Gelder aus Bonn für den Osten zum anderen sei die Kritik ‚unfair‘,
„schließlich ist es für die Trainer im Osten ihr Beruf, die im Westen arbeiten ehrenamtlich.“ Man profitiere schließlich auch im Westen von den Erfolgen der Osttrainer. „Das „Auslaufmodell DDR“ sei schließlich für die Erfolge von Barcelona verantwortlich, und deshalb wolle man sich auch in Zukunft daran orientieren, heißt es vom Sportdirektor des DSV, Klaus Nottrodt.“ Im Westen argumentierte man dagegen, dass zwar die aktive deutschen Schwimmmannschaft noch zu zwei Drittel von der DDR-Vergangenheit profitiere, bei der Jugend sich das Verhältnis aber schon 50:50 sei. (FAZ, 6.8.1993)
ÖFFENTLICHE GELDER FÜR TRAINERVERTRÄGE
Fragen in Zusammenhang mit der erneuten Einstellung dopingbelasteter Trainer warf das Verhalten des Bundesministeriums des Inneren auf, welches für die Gehälter aufkam. Hieß es anfangs das BMI hätte die Verträge gebilligt, zumal die Gelder speziell für Personal aus der ehemaligen DDR vorgesehen seien, kamen nach einem Gespräch zwischen Heide Rosendahl, Harald Schmid (ehemals Mitglieder der DLV-Anti-Doping-Kommission) und Staatssekretär Johannes Vöcking völlig andere Signale. Danach sollte man
„in freier Entscheidung Trainer bevorzugen, die zu den Opfern des DDR-Sportsystems gehörten.“ Auch Ministerialdirektor Erich Schaible, ein Duzfreund Meyers, soll sich entsprechend geäußert haben, was Norbert Karg, Finanzreferent und stellvertretender Generalsekretär des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, kaum glauben konnte „weil Schaible als Leiter der Abteilung Sport und Medienpolitik im BMI unser ständiger Ansprechpartner ist und er es doch genau wissen müßte. Wir haben es jedenfalls schwarz auf weiß.“
„De facto sei dies aber so, bestätigt Karg, der keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit aller 22 Vertragsabschlüsse (mit Schubert, der im DLV-Referat Leistungssport angestellt ist, sowie 21 weiteren Trainern) duldet: „Wir haben seit der Vereinigung, also 1990, eindeutige Bewilligungsbescheide aus Bonn bekommen.“ Darin seien die Mittelzuweisungen, die ein aktuelles Jahresvolumen von rund 1,5 Millionen Mark haben, vom Bundesinnenministerium an die Finanzierung von Osttrainern gebunden: „Es ist falsch anzunehmen, wir könnten damit Trainer aus dem Westen Deutschlands bezahlen.“ (FAZ, 6.3.1993) Oder doch? Was ist von der Meldung in der Süddeutschen Zeitung vom 12.3.1993 zu halten, wonach Minister Selters in einem Interview betonte, es gäbe keine Zweckbindung für die Verwendung der 1,5 Millionen für DDR-Trainer? „Der Bundeshaushalt sieht keine Zweckbindung vor. Ein Etat ist insofern nicht festgeschrieben. Wir leben in einem wiedervereinten Deutschland, in dem es keine Trennung zwischen Ost und West geben darf. Wichtig ist, daß der Sport im Westen wie im Osten teil hat an der Förderung durch den Bund. Es ist mir ein persönliches und politisches Anliegen, daß bei der Sportförderung Trainer bevorzugt berücksichtigt werden, die zu den Opfern des DDR-Sportsystems gehören.“ Damit widersprach er klar dem DLV und Ministerialdirektor Schaible. (SZ, 12.3.1993)
Spielten in dieser Auseinandersetzung die ‚Unbedenklichkeitserklärungen‘ des Deutschen Sportbundes (DSB) noch eine Rolle?
„Zwar forderte das Bundesinnenministerium (BMI), das die Bundestrainer bezahlt, unlängst bei weit weniger belasteten Schwimmtrainern noch ausdrückliche Unbedenklichkeitserklärungen einer unabhängigen Dopingkommission. Doch bei den Leichathleten machten die „Abstimmungsgespräche mit dem BMI“ überhaupt keine Probleme.“ (der Spiegel, 22.2.1993)
Gab es, bezogen auf den DLV, daher nur eine einzige geforderte Erklärung, die sich auf Bernd Schubert bezog, wie folgendes Zitat vermuten lässt? Danach gab Präsident Meyer „die wiederholt laut gewordenen Vorwürfe, der Verband habe dem Innenministerium nicht die nötige Stellungnahme der Anti-Doping-Kommission des Deutschen Sportbundes eingereicht, an eine andere Adresse weiter. Meyer verwies darauf, daß man den Vorsitzenden der Anti-Doping-Kommission, Hans Evers, in einem Einzelfall (Bernd Schubert) am 18. Dezember und in der gesamten Angelegenheit am 9. Februar angeschrieben habe: „Beide Stellungnahmen des DLV sind bisher nicht beantwortet worden.“ (FAZ, 6.3.1993; LA 15-93, DLV-Erklärung)
EVERS KOMMISSION UND DLV-TRAINER
Im Mai 1993 lud die Antidoping-Kommission des Deutschen Sportbundes (DSB) den DLV zum Gespräch. Überprüft werden sollten analog zu der Überprüfung der DSV-Trainer im Januar/Februar die 21 (22?) DLV-Trainer, speziell Bernd Schubert. In einem Vorgespräch mit Brigitte Berendonk, dem früheren DVfL-Cheftrainer Klaus Gehrke und Dreisprung-Nachwuchstrainer Jörg Elbe sollte geklärt werden, zu welchen Trainern Klärungsbedarf besteht.
„Auf dieses, vom DSB-Präsidium empfohlene Verfahren haben sich Evers, DSB-Justitiar Jochen Kühl sowie Helmut Meyer und Jan Kern, der Präsident und der Generalsekretär des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, am Montag in einer mehrstündigen Besprechung geeinigt. Bei dieser Gelegenheit hat der DLV dem DSB alle Unterlagen zur Verfügung gestellt, die auf verschiedene verbandsinterne Anhörungen, etwa durch die sogenannte Unabhängige Juristenkommission des Leichtathletikverbandes, zurückgehen.“ (FAZ, 8.4.1993)
Zwischen dem DLV, Jörg Elbe und Brigitte Berendonk war es Ende 1992 zu einer Kontroverse gekommen. Brigitte Berendonk sah sich Anfang 1993 in einem Leserbrief gezwungen dem DLV wie folgt zu antworten:
DSB: SCHLUSSSTRICH UNTER DIE DISKUSSION
Wenige Tage nach dem oben erwähnten Evers-Treffen, befasste sich der DSB-Hauptausschuss (am 15. Mai) mit dem Thema und formulierte Empfehlungen, die Ende Juni – ohne Berücksichtigung von Empfehlungen der Evers-Kommission – umgesetzt wurden:
Am 23. Juni vermeldet dpa, dass eine Gruppe um den Präsidenten des Deutschen Sportbundes (DSB), Hans Hansen mit Manfred von Richthofen, Hans Evers, Peter Busse (BMI), Heinrich Reiter und Aktivensprecher Volker Grabow beschlossen habe,
„daß eine Verwicklung in Dopingpraktiken vor der Wiedervereinigung künftig für eine Anstellung ohne Folgen bleibt. Damit können der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) und der Deutsche Schwimm-Verband (DSV) eine Reihe von bislang umstrittenen Anstellungen nun in Eigenregie vornehmen. Allerdings sieht die neue DSB-Interpretation, die einer Amnestie nahekommt, eine Ausnahme vor. Eine Verwicklung in Dopingpraktiken mit Minderjährigen soll auf jeden Fall einen Vertrag ausschließen. Zudem müssen sich Aspiranten auf einen Arbeitskontrakt schriftlich verpflichten, künftig die Regeln für einen dopingfreien Sport einzuhalten und auf eine entsprechende Bewußtseinsbildung bei ihren Athleten hinzuwirken.“
Eine am 14. Dezember 1991 vom DSB-Hauptausschuss verabschiedete und noch gültige ‚Marschroute‘ wurde um sechs Punkte ergänzt.
Von ‚wenigen begründeten Ausnahmen‘ abgesehen seien nun keine ‚positionsbelasteten‘ Personen mehr im deutschen Sport angestellt. Hansen erhoffte sich ab sofort einen sensibleren Umgang mit der Thematik und eine Entspannung im Ost-West-Verhältnis.
Das Bundesinnenministerium, Hauptfinanzier der betroffenen Trainerstellen, war zufrieden.
„Die von Bundesinnenminister Rudolf Seiters gestellte Forderung sei erfüllt, daß Anstellungen mit den Grundregeln des Sports im Einklang sein müßten.“
Damit war auch die Einstellung der 21 (22?) Leichtathletiktrainer, einschließlich die von Bernd Schubert, von allen Seiten abgesegnet. Er wird Ende des Jahres 1993 im DLV den Bereich der Trainings- und Wettkampfplanung koordinieren nachdem die Posten der Cheftrainer abgeschafft und durch ‚Disziplin-Teams‘ ersetzt wurden. (FAZ, 4.10.1993)
dpa, 23.6.1993:
Mit den am Dienstag getroffenen Beschlüssen, mit denen die Empfehlungen des DSB-Hauptausschusses vom 15. Mai umgesetzt wurden, werden alle Empfehlungen der Evers-Kommission damit aufgehoben. „Nachträglich ist unsere Arbeit überflüssig geworden. Das ist natürlich grundsätzlich unbefriedigend“, äußerte Evers Unmut über den Verlauf der Sitzung in Frankfurt.“„Die jetzige Interpretation liegt voll in der Linie, die wir damals vorgeschlagen haben“, kommentierte der Präsident des Bundessozialgerichtes [Reiter] das Ergebnis, dem auch NOK-Präsident Walther Tröger zugestimmt hat.“
DSB-Vizepräsident Manfred von Richthofen gab kund: „Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist damit abgeschlossen.“ Er schränkte dies allerdings wieder etwas ein, denn die Auswertung der Akten des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit könne noch negative Überraschungen bringen. (dpa, 23.6.1993) Die Stasiproblematik nahm langsam aber stetig immer größeren Raum ein.
Von Richthofen rechtfertigte zum einen die Entscheidung (von wann?) Dopingvergehen von DDR-Leistungssportlern nicht mehr nachzugehen als gute Entscheidung,
„weil eine andere nicht praktikabel war. Wenn ich davon ausgehe, daß flächendeckend gedopt worden ist in der DDR, ist quasi in den entsprechenden Disziplinen jeder Sportler in Doping verstrickt. Wir wollten vor allem diejenigen aus unserer Gemeinschaft ausschließen, die dafür die Verantwortung tragen, daß dieses menschenverachtende System um sich gegriffen hat. Dabei sind wir nicht so erfolgreich, wie ich es mir vorgestellt habe. Bei der deutschen Gründlichkeit der DDR ist noch mit der einen oder anderen Überraschung zu rechnen, mit allen möglichen Unterlagen, auch im Bereich des Dopings.“ (FAZ, 11.11.1993)
Zum anderen nannte von Richthofen die Entscheidung der deutschen Sportorganisationen
„für eine Beschäftigung von Trainern, die im insgesamt dopingbelasteten DDR-Sport tätig waren“ richtig denn „man solle denjenigen eine Chance geben, die nur auf Befehl gehandelt hätten und in Zukunft aktiv für einen sauberen Sport einträten.“ Allerdings kritisierte er die Aufarbeitung des Dopings im deutschen Sport: „“Hier haben wir bei herausragenden Trainern oder Sportmedizinern nicht den letzten Nachweis führen können, was Dopingvergehen angeht. Und ich bin fest davon überzeugt, daß es die gab. Ich hätte mir gewünscht, daß das NOK beispielsweise bei der letzten Olympiamannschaft ein Zeichen gesetzt hätte im Hinblick auf den leitenden Sportmediziner.“ Er und Harm Beyer vom Deutschen Schwimm-Verband hätten den damaligen NOK-Präsidenten Willi Daume ersucht, nicht Professor Joseph Keul für diesen Posten zu nominieren. „Dann hätte man sagen können, auch im Westen werden Konsequenzen gezogen, unabhängig von der Person und dem Rang, selbst wenn nicht der letzte Nachweis erbracht wurde“, sagte von Richthofen. Vorwürfe gegen Keul, der in Albertville und Barcelona leitender Sportmediziner der deutschen Mannschaft war, wollte er nicht präzisieren, um nicht in neue gerichtliche Auseinandersetzungen gezogen zu werden.“ (FAZ, 8.7.1993)
Aber die Aufarbeitung der Dopingvergangenheit sorgte weiterhin für Konflikte, wer auf einen Schlusspunkt gehofft hatte, wurde enttäuscht. Noch im Juni 1993 entschied die Anti-Doping-Kommission des Deutschen Sport-Bundes (DSB) und des Nationalen Olympischen Komitees (NOK) ihre Arbeit zur Aufarbeitung der Dopingvergangenheit in Deutschland ab sofort niederzulegen. Einige Kommissionsmitglieder hatten sogar ihren Rücktritt erwogen. Hintergrund war vor allem, dass die beschlossene Amnestie der Trainer ohne Einbeziehung der Kommission getroffen wurde. Besonders DSB-Präsident Hans Hansen geriet dabei unter Beschuss, da ihm die Hauptverantwortung zugesprochen wurde. Die oben zitierte dpa-Meldung scheint damit zumindest die Person Hans Evers falsch aufgeführt zu haben, denn der Kommissionsvorsitzender betonte, daß die Kommission
„für keinen der 29 Trainer eine negative Zukunftsprognose gestellt und folglich auch keine Entlassung vorgeschlagen“ habe. Es sei empfohlen worden, „daß die Trainer im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten in geeigneter Weise gegen die Vorwürfe vorgehen, die gegen sie öffentlich erhoben wurden“. In Zukunft wolle die Antidopingkommission nun schwerpunktmäßig zur Aufklärung der Athleten und in der ‚Verfeinerung des Anti-Doping-Systems im nationalen und internationalen Sport‘ arbeiten. „Auf diesem Felde werden ihr, so vermuten sie, wohl Erfolge nicht verwehrt werden.“ (FAZ, 15.7.1993)
Evers: „die Anhörung und Überprüfung der dopingbelasteten Trainer hätten wir uns sparen können. Die Ergebnisse unserer Arbeit haben offenbar im DSB nicht allgemeine Billigung gefunden.“ (FAZ, 16.7.1993) Auch unter den Funktionären wurde die Entscheidung nicht einhellig begrüßt: „Sportdirektor Wolfgang Willam vom Deutschen Turner-Bund (DTB) dagegen war „nicht glücklich“ über diese „Doping- Amnestie“ für frühere DDR-Trainer. „Damit wird die gesamte Doping-Problematik ad acta gelegt und ad absurdum geführt“. (sid, 16.7.1993)
Wenige Tage später, am 31.7.1993 berichtete die FAZ, dass der Bundesnachrichtendienst bereits 1974 über das Anabolikadoping in der DDR Bescheid gewusst und dieses Wissen an die Regierung weitergegeben hatte. Bereits im Juni hatte der stellvertretende Leiter der Gauck-Behörde zur Aufarbeitung der Stasi-Akten in Berlin, Hans-Jörg Geiger vor der Enquête-Kommission zur „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ und dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages den Fund des Berichtes erwähnt. Auch das Forschungsinstitut für Körperkultur und Sport (FKS) – nach der Wende Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) – kannte man im Westen. Der Informant dürfte der geflüchtete Mediziner Dr. Paul Wenzkat, ehemaliger Stellvertretender Direktor des Sportmedizinischen Dienstes (SMD) und Chefarzt für Wissenschaftsentwicklung, gewesen sein.
„Ministerialdirigent Erich Schaible, schon 1974 im Bundesinnenministerium für den Sport zuständig, sagte, er kenne einen solchen Bericht nicht und besitze ihn auch nicht. Er könne sich aber erinnern, daß es immer wieder Verschlußsachen gegeben habe, in denen berichtet wurde, wie der Staat in der DDR Einfluß auf den Sport nehme und ihn benutze. Die Reaktion des Staates auf solche Erkenntnisse könne man in der Unterstützung des Institutes für Dopinganalytik von Professor Manfred Donike in Köln erkennen. Die Information der Öffentlichkeit über solche Vorgänge liege nicht im Aufgabenbereich seines Ministeriums.“ (s.a. Anklage Kinderdoping, 1999 S. 291 ff, Spitzer, G., 1998, S. 50, Spitzer) (Giselher Spitzer hält 2005 in seiner Dokumentensammlung ‚Sicherungsvorgang Sport‘ fest, dass aus diesem BND-Wissen, erworben durch einen Überläufer, nicht geschlossen werden kann, dass der BND in der DDR den Sport ausspionierte. Mögliches Westwissen würde weitgehend auf Republikflüchtige zurück gehen. (S. 239ff))
SCHLUSSSTRICH …. ODER DOCH NICHT?
Ganz ließ sich die Vergangenheitsdiskussion um persönliche Einbindungen in das DDR-Dopingsystem nicht beenden. Das musste Mediziner Jochen Neubauer erfahren. Die Anti-Doping-Kommission von DSB und NOK sowie der Bundesausschuß Leistungssport im DSB hatten verlangt, dass der Potsdamer Olympiastützpunkt sich von dem Arzt trennt. Er habe noch keinen ‚Nachweis fehlender Beteiligung am Doping-System der DDR‘ erbracht. (FAZ, 3.12.1993) Neubauer wurde beschuldigt minderjährige Mädchen Anabolika verordnet zu haben. Die Aussagen gingen auf Trainer Michael Regner zurück, der einer der wenigen war, der nach der Wende umfassend ausgepackt hatte. (Bericht M. Regner in Berendonk, S. 70ff, der Spiegel, 12.3.1990)
Neubauer, auch IM „Till Kramer“, blieb jedoch weiterhin dem Sport erhalten. Die gemeinsame Initiative der Kommissionen erwies sich als Papiertiger. 1996 schreibt der Spiegel
„Neubauer hat nach wie vor einen Honorarvertrag mit dem Olympiastützpunkt (OSP) in Potsdam. Die Stadtverordnetenversammlung der brandenburgischen Hauptstadt, die inzwischen Eigentümerin des Geländes ist, akzeptierte zudem ausdrücklich einen Mietvertrag, den der Arzt mit dem OSP-Trägerverein zur Führung einer Privatpraxis auf dem Sportgelände abgeschlossen hatte.“ „Den Medaillenfreunden aus Brandenburg erscheint Neubauer unverzichtbar. Ohne ihn, schreibt die Potsdamer Stadtverwaltung in einer Vorlage, wäre die „Vorbereitung für die Olympischen Spiele in Atlanta besonders in Kanu und Schwimmen umfangreich gefährdet“. Damit sei auch „der Bestand des Bundesleistungszentrums in Frage gestellt“. (der Spiegel, 8.4.1996)
Neubauer hielt sich bis 2002 obwohl er 2000 wegen Körperverletzung durch sein Hormondoping zu einer Geldstrafe verurteilt worden war (rbb, 5.2.2002).
Am 22. Januar erklärte der Potsdamer Oberbürgermeister Matthias Platzeck,
„der Sportarzt Jochen Neubauer werde binnen der kommenden Tage seine Privat-Praxis auf dem Gelände des Potsdamer Olympiastützpunktes räumen: „Endlich hat diese schier unendliche Geschichte ein Ende“, sagte Platzeck.“ (Berliner Zeitung, 22.1.2002)
(Etwas ausfühlichere Informationen zu der Causa Dr. Jochen Neubauer >>> siehe hier)
Michael Regner war nach der Wende Trainer in Neuseeland bis er Anfang Oktober 1993 beim SSC Germania Braunschweig anfing. (FAZ, 28.10.1993)
GÜNTER SCHAUMBURG
„… ich gehörte zu der Gruppe von DDR-Sportlern, die als erste Anabolika eingenommen haben, und zwar am 27.11.1967. Am 27.11.1967 zählte ich zu einer Gruppe von 15 Sportlern des ASK-Potsdam, die Anabolika eingenommen haben. Ich habe bis 1972 Anabolika eingenommen, habe dann als Trainer weiter Anabolika verabreicht. Ich bekenne mich dazu. Ich bekenne, daß es Schweinerei gewesen ist, aber ich stehe zu meinem Wort. Wenn ich hier so höre, daß manches nicht gewesen ist, dann frage ich mich, wo ich sie herbekommen habe. lch habe keine Fabrik im Keller gehabt, die mir jedes Jahr 10.000 Pillen hätte produzieren können. Ich habe meine Frau auch schon gefragt, weißt Du, wo ich die Dinger herhabe, ich weiß es nicht. Deshalb ist es für mich immer noch ein Rätsel, wenn es heute noch Leute gibt, die immer noch so tun, als wenn sie von nichts wüßten. Ich kann es nicht verstehen, daß man dreieinhalb Jahre nach der Wende immer noch den Kopf in den Sand steckt. Es gibt auch Zeiten, wo man sich der Sünden seines Lebens besinnt, aber man sollte versuchen, dies nicht zu weit hinauszuzögern. Es hat schon Leute gegeben, die wurden neunzig und haben noch nichts bereut. Es gibt immer noch DDR-Doping-Opfer. Ich sage Ihnen ehrlich, ich mache mir heute Vorwürfe. Ich habe mit meiner Frau sehr oft darüber gesprochen. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich Sportlern Dopingmittel verabreicht habe, obwohl ich, wie gesagt, das letzte Glied gewesen bin. Aber ich habe mitbestimmt, was für Dosen gegeben worden sind. Ich habe mit entschieden als Trainer und als Trainer auch Empfehlungen gegeben, wie ich es anders machen wollte. Das durfte ich auch und konnte ich auch. Es ist nicht so, daß der Sportmediziner der Alleinverantwortliche gewesen ist. Ich habe als Trainer auch sehr große Verantwortung getragen. …
Ich kann mich genau entsinnen, als es Ende der 70er Jahre im Fernsehen der Bundesrepublik losging und dort über Anabolikakonsum sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR berichtet wurde. Ich war damals ab 1980 Übungsleiter eines Trainingszentrums. Da sind die Eltern an mich herangetreten und haben gefragt: Herr Schaumburg, was war in dem Zeug? Müssen die Kinder das nehmen? Ich habe versucht abzuwiegeln. Ich habe mit den Leuten Einzelgespräche geführt. Ich habe erreicht, daß es Leute gegeben hat, die ihre Kinder nicht zur Kinder- und Jugendsportschule geschickt haben, obwohl es gar nicht meine Aufgabe gewesen ist. Das war eine sehr diffizile Sache.“ (>>> Protokoll der gemeinsamen Sitzung Enquete-Kommission und Sportausschuss, S. 758/759)
Probleme mit dem IAT
Noch Anfang 1993 waren die Probleme am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT), zu DDR-Zeiten das FKS, die sich nach der Umstrukturierung und dem angeblichen Neuaufbau ergeben hatten, nicht ausgeräumt.
Personalentscheidungen des IAT wurden zum Thema im Sportaussschuss des Deutschen Bundestages, der dem Innenministerium auftrug, für Klärung zu sorgen. Zudem wurden die Bundesmittel von 12 auf 9 Millionen Mark gekürzt.
Anfang 1993 wurden 23 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgrund eines finanziellen Engpasses die Kündigungen ausgesprochen. Betroffen davon war auch Marianne Fiedler. Sie hatte sich bereits 1992 an den Sportausschuss des Deutschen Bundestages gewandt mit der Bitte „um Schutz und Unterstützung“. Sie befürchtete, dass die alten Kräfte sie aufgrund ihres Insiderwissens und möglicher fachlicher Konkurrenz aus dem Institut drängen würden. Als die Kündigung dann eintraf wurde ein Zusammenhang mit diesem Brief selbstverständlich geleugnet. (FAZ, 5.2.1993)
Doch den Verdacht, ‚alte Seilschaften‘ hätten das Zepter zunehmend in der Hand teilten andere auch.
„Manfred von Richthofen hat den Eindruck, am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft (IAT) in Leipzig gingen seltsame Dinge vor sich. (…) Es gebe Verdachtsmomente, sagt von Richthofen, daß alte Kräfte auf alter Schiene weiterarbeiteten.“
Auch seitens der Universität Leipzig wurde keine Änderung der Situation, die jetzt eine Zusammenarbeit rechtfertigen könnte, festgestellt. Professor Cornelius Weiss nannte die Causa IAT ein ‚furchtbar heißes Eisen‘, „wen man auch fragt am IAT, man bekommt immer verschiedene Auskünfte“.
Befremden beim DSB hatte u.a. die Abmahnung zweier Angestellter durch den Institutsleiter Prof. Dietrich Martin (ehemals Gesamtschule Kassel) hervorgerufen. Die wissenschaftlichen Mitarbeiter Marianne Fiedler und Heiner Schumann hatten das Gespräch mit DSB-Präsident Hansen gesucht. Martin schickte daraufhin beiden dienstliche Verweise, denn nur der Direktor dürfe das Institut nach außen hin vertreten. Martin, der zu diesem Zeitpunkt krank war, warf den beiden Mitarbeitern zudem Urkundenfälschung vor, da sie bei ihrem Dienstreiseantrag nicht angegeben hatten, mit wem sie sprechen wollten. Manfred von Richthofen, DSB-Vizepräsident sprach von einem ‚ungeheuerlichen Vorgang‘ und
„deutete an, daß der DSB dem Trägerverein sein Mißtrauen aussprechen oder sich aus der Trägerschaft zurückziehen könnte. Vorsitzender des Trägervereins ist Ulrich Feldhoff, Geschäftsführer des Vereins der Leitende Direktor des Bundesauschusses Leistungssport, Manfred Löcken, ein Angestellter des DSB.“
Hans Hansen, Manfred von Richthofen und Andreas Decker wollten nach diesem Vorgang als DSB-Präsidialkommission mit dem IAT sprechen. (FAZ, 2.4.1993) (Ausgang ist mir nicht bekannt.)
Dass einiges am IAT zu hinterfragen war, wird durch eine Bemerkung Prof. Dr. Lothar Pickenhains bekräftigt, der 1993 in der gemeinsamen Sitzung von Sportausschuss und Enquete-Kommission zum Thema „Rolle des Sports in der DDR“ meinte:
„Meine umfangreichen Insiderkenntnisse sind der jetzigen Leitung des IAT durchaus bekannt und auch meine Stellungnahmen, und es ist sicher nicht uninteressant, daß mir in Vorbereitung oder gleichzeitig mit der Einladung zu dieser Öffentlichen Anhörung von der Leitung des IAT zwei Drohbriefe zugeschickt wurden. Ich habe sie an Herrn Eppelmann weitergegeben.“
Dr. Heiner Schumann (IAT) meinte in derselben öffentlichen Anhörung:
„Eine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit und insbesondere des Kapitels Doping hat es nach der Wende innerhalb des damaligen FKS, trotz verschiedener Bemühungen, so auch von Herrn Prof. de Marées, kaum oder nur in Ansätzen gegeben. Die Unterlagen wurden vernichtet oder gezielt zurückgehalten. Es funktioniert noch immer die Koalition des Schweigens und der gegenseitigen Rücksichtnahme.“ (Protokoll der Öffentlichen Anhörung vom 21.6.1993)
Dopingfälle – alt und neu
UWE BAYER – TOD EINES HAMMERWERFERS WEST
Während die Auseinandersetzung um das DDR-Erbe schwelte, verstarb am 15. April 1993 der ehemalige Hammerwerfer Uwe Beyer im Alter von 48 Jahren an einem Herzinfarkt. Die Obduktion erbrachte Hinweise auf langjährigen Anabolikamissbrauch. Beyer gewann 1964 bei den Olympischen Spielen die Bronzemedaille und hielt später einige Zeit den Weltrekord. Am 7.3.1977 hatte er im „Aktuellen Sportstudie“ des ZDF mit Harry Valerien Doping mit anabolen Steroiden gestanden und dem Moderator zum Beweis ein Rezept für Deca-Durabolin, ausgestellt von Prof. Joseph Keul, gezeigt. Am 10.3.1977 brachte die Göttinger Tageszeitung genauere Angaben. Beyer hatte dem Journalisten Robert Hartmann im Detail von seinem Dopingkonsum und den damit verbundenen Nebenwirkungen erzählt. Er war nicht der einzige, der gestand, auch andere ‚Hormies‘ erzählten freimütig. So hatte Hammerwerfer Walter Schmidt zugegeben unter Selbstmedikation aber auch mit Unterstützung von Dr. Armin Klümper zu anabolen Steroiden gegriffen zu haben. Sprinter Manfred Ommer ließ die Welt vom 15.3.1977 berichten, wie er seinen Vizeeuropameistertitel über 200m 1974 mit Hilfe von Dianabol erreicht hatte, auch er hatte das Mittel über einen bekannten Arzt erhalten. Ommer war bis 1994 Präsident des FC 08 Homburg und 1992 Vizepräsident der DSB.
1977 wurde gegen Uwe Beyer ein Verbandsstrafverfahren eingeleitet, er trat aber aus dem USC Mainz aus und wurde nicht mehr belangt. Zuvor hatte er
„dem DLV-Vorstand Mitwisserschaft bei der Einnahme von Dopingmitteln durch die Spitzenathleten vorgehalten und ihm deshalb das Recht von Sportgerichtsverfahren abgesprochen“. (SZ, 27.10.1977)
Schmidt wurde zu einem Jahr Sperre auf Bewährung verurteilt,
„da eine Mitschuld des DLV nicht ausgeschlossen wurde, der ‘seine Fürsorge- und Schutzpflicht gegenüber Athleten nicht nachgekommen’ sei.“ (Stuttgarter Zeitung. 20.6.1977). Ommer blieb unbehelligt.
Der frühe Tod von Uwe Beyer wird heute offen mit dem Konsum der anabolen Steroide in Zusammenhang gebracht. Das Verbandsmagazin ‚Leichtathletik‘, Ausgabe 16-1993, erwähnte in seinem Rückblick auf das Leben und die Erfolge des Athleten mit keinem Wort dessen Dopingvergangenheit.
DETLEF GERSTENBERG – TOD EINES HAMMERWERFERS OST
Am 24. Januar 1993 starb Detlef Gerstenberg im Alter von 35 Jahren an einer Leberzirrhose und zerfressener Bauchspeicheldrüse. In den letzten Jahren hatte er einen hohen Alkoholkonsum. Er hatte aber auch als junger Hammerwerfer in der DDR Anabolika bekommen. Das gab sein Vater an und so ist es in DDR-Dokumenten verbürgt.
„Der Hammerwerfer aus Eisenhüttenstadt sollte bei Olympia 1984 in Los Angeles eine Medaille gewinnen. Dazu wurden seine Muskeln gemästet, wie es in der DDR Brauch war: mit dem Hausmittel Oral-Turinabol. Der Junioren-Europameister schluckte das Anabolikum vor den Spielen 34 Wochen lang, 10 Wochen mehr als im Vorjahr und mit einer um 50 Prozent gesteigerten Dosis.“ (der Spiegel, 1.2.1993) Leberschäden gehören zu den häufigsten Nebenwirkungen anaboler Steroide. (Berliner Zeitung, 7.4.1994) Am 10.2.1993 bestritt Detlefs Vater allerdings seine im Spiegelartikel zitierten Aussagen. „Der Vater des am 24. Januar gestorbenen ehemaligen Hammerwerfers Detlef Gerstenberg, Herbert Gerstenberg, bestreitet, Doping als Todesursache seines Sohnes genannt zu haben. Auch sei es völlig unmöglich, daß sein vormals mehr als hundert Kilogramm schwerer Sohn auf 46 Kilo abgemagert sei. Er habe ihn am 23. Januar noch in der Charité in Berlin besucht und Muskeln in den Armen des Kranken gespürt, sagte er laut einem Bericht des „Neuen Deutschland“.“ (FAZ, 10.2.1993)
ROLF MILSER – HAT ER ODER HAT ER NICHT?
Gewichtheben und Doping bildeten seit den 70er Jahren eine enge Gemeinschaft. Schon 1976 wurden zwei Medaillengewinnern nachträglich wegen Anabolikamissbrauchs die Medaillen (Silber und Gold) aberkannt. 1992 versuchte der Internationale Verband IWF die Notbremse zu ziehen. Er stellte die Gewichtsklassen um und löschte damit alle bestehenden Rekorde. 1976 war auch Rolf Milser am Start, 1984 ist er Olympiasieger, 1993 Bundestrainer. Im Januar 1993 hatte sich Wolfgang Peter, einst Präsident des Bundesverbands Deutscher Gewichtheber, 1993 Vorsitzender der Medizinischen Kommission, im IWF in einer Fernsehdiskussion in 3sat heftig über allgemeine Dopinganschuldigungen gegenüber Gewichthebern im ZDF-Sportstudio echauffiert, nach der Sendung soll er jedoch alles bestätigt haben. Laut Zeugen bestätigte er auch die ZDF-Angaben, Milser habe in seiner aktiven Zeit Anabolika konsumiert. Das ZDF erwog nach der 3sat-Sendung gerichtliche Schritte gegenüber Peter. Milser bestritt Doping, doch die Zeugen blieben bei ihrer Aussage, Peter habe erklärt, Rolf Milser habe zu seiner aktiven Zeit gedopt. (FAZ, 25. und 26.1.1993) Immerhin soll er laut SZ vom 27.10.1977 gesagt haben „solange es nicht verboten war, habe auch ich Anabolika in vertretbaren Mengen genommen“.
Nach dem Verbot, so wird er zitiert, hatte er dagegen protestiert, denn sein Körper gehöre ihm (SZ, 4.11.1977).
SCHWIMMTRAINER CLAUS VANDENHIRTZ
Im Januar 1993 gab der Deutsche Schwimmverband bekannt, dass die beiden Schwimmerinnen Simone Schober (18 Jahre) und Kristina Quaisser (24 Jahre) für sechs Monate wegen Dopings gesperrt worden seien. Ihnen wurde im Dezember 1992 das anabole Steroid Metenolon nachgewiesen. Ihr Aachener Schwimmtrainer Claus Vandenhirtz sei zurück getreten, der DSV habe gegen ihn ein Disziplinarverfahren wegen „Mittäterschaft bei einem festgestellten Dopingverstoß“ eingeleitet. Beide Sportlerinnen gaben an nicht wissentlich gedopt zu haben, sie hätten „nur getrunken, was uns der Trainer gemixt hat“.
Erhärtet wurde dieser Verdacht durch Aussagen von Christel Justen, die in der Süddeutschen Zeitung erzählte, wie Vandenhirtz ihr 1973 im Alter von 13 Jahren das Anabolikum Dianabol verabreicht hatte. Christel Justen war 1974 in Wien Europameisterin über 100 Meter Brust mit Weltrekordzeit geworden. Sechs Monate später trat die Sportlerin des Jahres 1974 mit 16 Jahren vom Hochleistungssport zurück, vor allem „aufgrund seiner mangelnden pädagogischen und psychologischen Fähigkeiten.“
„Vandenhirtz habe ihr und vier anderen Mädchen ihrer Schwimmgruppe „am Beckenrand“ immer wieder „kleine, weiße Tabletten“ verabreicht, die er Vitamin-Präparate genannt habe: „Mal Vitamin A, mal Vitamin B.“ Christel Justen habe die Tabletten wie ihre Kameradinnen „in gutem Glauben genommen“, bis ihr Vater, der mittlerweile verstorben ist, wissen wollte, was die Tochter da regelmäßig zu sich nahm.“.“ Im nachhinein wundere sie nur, daß niemand unter den Eltern der jungen Schwimmerinnen etwas gegen Vandenhirtz unternommen habe, obwohl die Erkenntnisse ihres Vaters „natürlich die Runde gemacht“ hätten.“
Auch andere wussten davon. Auch davon, dass er nicht nur Christine Justen sondern weitere von ihm betreute minderjährige Schwimmerinnen zur Anabolikaeinnahme veranlasst hatte.
„Der frühere sportliche Leiter des ASV Aachen 06, Rainer Schulze-Rettmer, habe indes, laut „Aachener Nachrichten“, schon 1977 Doping durch Vandenhirtz aufgedeckt. Er habe damals die vom Trainer an eine Schwimmerin verabreichte Kapsel untersuchen lassen. Von Professor Donike sei diese als Dianabol analysiert worden. Donike sagte gegenüber den „Aachener Nachrichten“: „Schon bei einer Einnahme im Milligramm-Bereich kommt es zu Bartwuchs, oder die Stimme wird tiefer.“ Genau das beobachtete Schulze-Rettmer. „Mir vertrauten sich mehrere Schwimmerinnen der von Vandenhirtz betreuten Mannschaft an. Manche hatten bereits eine tiefe Stimme und Bartwuchs. Jede, die sich weigerte, die Mittel zu nehmen, wurde von ihm aus der Mannschaft ausgeschlossen.“ (FAZ, 12.1.1993)
Vandenhirtz gab danach die Anabolikagaben in den siebziger Jahren zu, da sie nicht verboten gewesen seien. (Im Schwimmverband? Gilt sofern es sich um Testosteron handelt, Anabolika mit Ausnahme Testosteron waren vom IOC ab 1974 verboten). Empfohlen hätte ihm die Anabolikaanwendung der damalige Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes Dr. Max Danz, der jedoch schnell alles abstritt, „das ist eine gemeine Lüge. Ich kenne den Mann gar nicht und erwäge eine Klage.“ (FAZ, 15.1.1993) Der Trainer gab an mit den Anabolika aufgehört zu haben, sobald die geringsten Zweifel aufgekommen wären. Die Süddeutsche Zeitung hatte allerdings am 15.1.1993 erwähnt, dass Vandenhirtz noch mit den Dopingfällen Ulla Hübner (1977) und Anja Jauernig (1988) in Verbindung gebracht werden könne (Singler/Treutlein, S. 164).
Im April 1993 verurteilte der DSV Vandenhirtz zu einer Geldstrafe über 4000.- DM, der möglichen Höchststrafe. Der Trainer habe die Dopingverstöße der Schwimmerinnen Simone Schober und Kristina Quaisser verschuldet, „mindestens aber mitverschuldet“. (FAZ, 16.4.1993)
Simone Schober und Kristina Quaisser wurden daraufhin vom DSV-Gnadenausschuss begnadigt, die noch verbliebenen 66 Tage Sperre wurden ihnen erlassen,
„weil beide offensichtlich durch ihren Trainer Claus Vandenhirtz ohne nähere Hinweise veranlaßt worden seien, unter Dopingverbot fallende Substanzen einzunehmen“. (…)Der Trainer habe offensichtlich auch schon früher rücksichtslos mit Dopingmitteln die ihm anvertrauten Schwimmerinnen ohne nähere Aufklärung versorgt.“ (FAZ, 6.5.1993)
andenhirtz hatte nach dem Schuldspruch sofort Einspruch erhoben. Ein Jahr später waren die Vorwürfe gegen Vandenhirtz vom Tisch. Er hatte bereits im April 1993 vor dem Gruppen-Schiedsgericht West des DSV Einspruch erhoben worauf die Zahlung der Strafe ausgesetzt wurde. Im April 1994 hieß es, das Verbandsgericht sähe seine Beteiligung am Dopingverstoß der von ihm trainierten Schwimmerinnen Simone Schober und Kristina Quaisser als nicht bewiesen an. (FAZ, 9.4.1994) Staatsanwaltliche Ermittlungen wegen Körperverletzungen, durch die Eltern von Simone Schober ausgelöst, liefen offenbar ebenfalls ins Leere.
Claus Vandenhirtz war und ist wieder seit vielen Jahren Vizepräsident der Deutschen-Schwimmtrainer-Vereinigung (DSTV), er vertritt den DSTV im DSV im Bereich Schwimmen.
ASTRIS STRAUß
Die Querelen um den Fall der Schwimmerin Astrid Strauß, die im März 1992 begonnen hatten, dauerten auch 1993 weiter an. Am 10. März 1992 wurde bei Astrid Strauß, 23jährige Star-Schwimmerin und Olympia-Hoffnung aus Magdeburg, ein zu hoher Testosteronwert nach einer Trainingskontrolle festgestellt. Ihr Trainer Bernd Henneberg, ehemals DDR, geriet damit ebenfalls unter Verdacht. Die Schwimmerin wurde vorläufig gesperrt. Sie bestritt jegliches Doping und gab die Schuld ein paar Gläsern Erdbeerbowle. Der DSV sprach eine vorläufige Startsperre aus, doch die Schwimmerin erstritt mittels einer einstweiligen Verfügung den Start bei den Deutschen Meisterschaften Ende Mai. Doch direkt nach dem 800m-Rennen bei den Deutschen Meisterschaften, bei dem Strauß als Zweite anschlug, wurde ihr der Beschluß der Disziplinarkommission überreicht mit dem Beschluss einer sechsmonatige Sperre. Strauß erwirkte auch dagegen eine Entscheidung doch der DSV blieb bei der Sperre, der Start bei Olympia war nicht möglich. Ihre Freundin Dagmar Hase nahm nach ihrem 400m Freistil-Sieg in Barcelona die Siegerehrung durch Harm Beyer zum Anlass, im Olympia-Fernsehstudio das Verhalten des DSV zu kritisieren und für Strauß einzutreten. Der Eklat war perfekt.
Die Auseinandersetzungen gingen weiter. Hätte der DSV das fragliche Rennen, nach dem der verdächtige Testosteronwert festgestellt wurde, werten müssen? War es kein Doping? Prof. Joseph Keul schlug vor, Astrid Strauß unter Quarantäne-Bedingungen untersuchen zu lassen. In einem Kompromiss zwischen Verband und Strauß wurde vereinbart, dass der DSV den Fall nicht an den Weltverband FINA melden und für eine Quarantäneuntersuchung sorgen würde.
„Während diese erst ein knappes halbes Jahr später vorgenommen wurde (dabei werfen sich die Beteiligten wechselseitig vor, den Beginn verschleppt zu haben), begannen im November internationale Turbulenzen. Die Anfrage der Fina zu dem Fall Strauß beantwortete der gerade ins Amt gekommene Medla prompt und im Alleingang. Ohne Beyer, der Mitglied des obersten Fina-Gremiums ist, zu unterrichten, informierte Medla die Fina. Der Hinweis, das geschehe nur inoffiziell und dazu sei er auch nicht verpflichtet, interessierte bei der Fina niemanden. Der Weltverband setzte wie schon in einigen Fällen zuvor die Strafe für die national sechs Monate Gesperrte auf das Dreifache herauf.“
Nun gerieten FINA und DSV heftig aneinander, hatte der internationale Verband überhaupt das Recht Sportler aufgrund von Trainingskontrollen, die in den Statuten nicht erwähnt waren, zu sperren? Doch auch die Satzung des DSV sah explizit solches nicht vor.
Astrid Strauß ließ sich bei Prof. Hans-Kuno Kley, Singen, testen, doch das gesamte Verfahren war geprägt von gegenseitigem Misstrauen. Kley stellte offen die Lauterkeit der IOC-akkreditierten Labore infrage und Hans Evers, Antidoping-Beauftragte des Deutschen Sportbundes frug „wer garantiert denn, daß Astrid Strauß während der Quarantäne nicht heimlich Testosteron zu sich genommen hat?“ Manfred Donike bezeichnete Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen Alkohol und Hormonspiegel bewiesen haben sollen, als „absoluten Quark“. (FAZ, 3.6.1993)
Ende November 1993 wurde der Fall zu den Akten gelegt. Professor Hans Kuno Kley hatte erklärt, „daß zwar keine Stoffwechselstörung bei ihr vorliege, sich aber der Testosteron/Epitestosteron-Quotient (T/E-Quotient) unter Alkoholeinfluß verschieben könne“ – ein Ergebnis, das wiederum auf heftigen Widerspruch anderer Wissenschaftler stieß. (FAZ, 30.11.1993)
FAZ, 30.11.1993:
„Die Ergebnisse seien für ihn eine Überraschung gewesen, sagte Kley. Er warf der Wissenschaft vor, bislang noch nie den Zusammenhang zwischen Alkohol und der Produktion des Hormons Testosteron bei Hochleistungssportlerinnen untersucht zu haben. Seine Ergebnisse werde er aber nicht publizieren, da dieser Einzelfall wissenschaftlich keinen Wert besitze. Diese Entscheidung erstaunt den Heidelberger Professor Franke sehr. Es sei absolut üblich, über Einzelfälle zu berichten. „Wenn es so seltene sind, ist man geradezu dazu verpflichtet.“ Kley betonte indes, keine Verpflichtungen zu haben. Er habe für den DSV unentgeltlich gearbeitet und kein Eigeninteresse an den Ergebnissen wie viele ihn kritisierende Wissenschaftler. Allerdings ist Kley ein harter Kritiker der indirekten Nachweismethode des Dopings nach dem T/E-Quotienten.“
PROZESS GEGEN JOCHEN SPILKER UND HANS-JÖRG KINZEL – DAS HAMMER-MODELL
Im September 1993 werden nach dreijährigen Ermittlungen Heinz-Jochen Spilker und Hans-Jörg Kinzel vor dem Erweiterten Schöffengericht des Amtsgerichts Hamm angeklagt. Beide hatten in Hamm unter jungen Leichtathletinnen ein Dopingsystem – das Hammer Modell – etabliert.
Ihnen wird vorgeworfen, von dem in der Bundesrepublik nicht zugelassenen Präparat ,Anavar‘ von 1988 bis Anfang 1989 fortlaufend insgesamt ungefähr 300 Tabletten an drei Sportlerinnen des vorbezeichneten Vereins abgegeben zu haben“
so der Leitende Oberstaatsanwalt Babatz. (FAZ, 2.9.1993) Als Spilkers Fehler erwies sich, die Deutsche Juniorenmeisterin Claudia Lepping anzuheuern. Die Leichtathletin ging an die Öffentlichkeit. Zudem wurde aus Kanada durch die Anhörung im Fall Johnson bekannt, dass Spilker sich mit Doping bestens auskannte. Spilker war 1993 Rechtswart des Landessportbundes Thüringen und ist heute seit über 13 Jahren Vize-Präsident des Landessportbundes Thüringen. Im Februar 1994 wurde Spilker zu 12 000 DM und Kinzel zu 750 DM wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz verurteilt. (Urteil vom 21.2.1994)
>>> mehr Informationen zur Dopingaffaire Heinz-Jochen Spilker
SYLVIA GERASCH
Am 12. November 1993 wurde die ehemalige erfolgreiche DDR-Schwimmerin Sylvia Gerasch mit einem zu hohen Koffeingehalt positiv getestet. 1986 hatte sie bei den Weltmeisterschaften den Weltmeistertitel über 100m Brust erreicht sowie mit der 4×100 m Lagenstaffel (Kristin Otto, Kathrin Zimmermann, Sylvia Gerasch, Kornelia Greßler) gesiegt.
Der Weltschwimmverband FINA sperrte Gerasch für 2 Jahre bis zum 21. Januar 1996, doch das Schiedsgericht des Deutschen Schwimm-Verbandes wandte sich gegen diesen Bescheid und hob ihn auf nationaler Ebene auf. Damit konnte die Schwimmerin in Deutschland starten.
Nach der Wende war die Schwimmerin zu einem ihrer DDR-Trainer, zu Dieter Lindemann zurückgekehrt.
1998 standen Lindemann und ihr anderer Trainer Volker Frischke in Berlin wegen Dopings, insbesondere Minderjährigendopings vor Gericht. Sie sollen zwischen 1982 und 1988 Sylvia Gerasch mit Anabolika gedopt haben. 1982 war Sylvia Gerasch 13 Jahre alt. Gerasch war als Zeugin geladen. (die Zeit, 25/2000, Berliner Zeitung, 25.4.1998)
FALL KRABBE, BREUER, DERR
Der Dopingfall um Trainer Springsteins Läuferinnen Katrin Krabbe, Grit Breuer und Manuela Derr beschäftigte den DLV das gesamte Jahr 1993. 1992 waren die drei der Einnahme von Clenbuterol überführt worden, Clenbuterol stand aber noch nicht auf der Liste der verbotenen Medikamente. Krabbe und Breuer waren zuvor schon unter schweren Dopingverdacht geraten, da eine Dopingprobe 1991 Betrug mit Fremdurin nahegelegt hatte.
>>> die Krabbe-Affaire
Zwischen den Sportlerinnen und dem DLV, aber auch zwischen DLV und internationalem Verband kam es in Folge zu heftigen Schlagabtauschen. Doch auch in der Öffentlichkeit führte der Fall zu erbitterten Diskussionen.
Im März verurteilt der DLV-Rechtsausschuss Krabbe und Breuer zu je 12 Monaten, Derr zu acht Monaten Sperre – nicht wegen Dopings sondern wegen einer ‚Sportwidrigkeit‘, wegen des Gebrauchs ‚eines Medikamentes, das gegensätzlich zur Ethik im Sport sei‘.
Wäre Clenbuterol als anaboles Steroid anerkannt worden, hätte man eine 4-Jahressperre aussprechen müssen. Der IAAF erhöhte im August die Sperren der drei Sportlerinnen auf je 2 Jahre und erkannte damit den Tatbestand des Dopings an. Damit war allerdings noch nicht das Ende der Affaire erreicht. Katrin Krabbe gelang es durch Klagen vor ordentlichen Gerichten, dass ihr 2001 von der IAAF 1,2 Millionen MarkSchadensersatz gezahlt werden musste.
Aufarbeitung Doping-West
Während die Doping-Historie der DDR in Verbindung mit den allgegenwärtigen Stasienthüllungen für Schlagzeilen sorgte und in den Verbänden Sprengkräfte freisetzte, geriet die westdeutsche Dopinggeschichte in den Hintergrund. Einer der wenigen, die das so nicht stehen lassen wollten, war Prof. Gerhard Treutlein, der zudem den Blick auf die Gesamtheit der Verantwortlichen (weg von der fast alleinigen Betrachtung der Trainerschaft), lenken wollte. In den Blickpunkt gehörten seiner Meinung nach unbedingt die immer einflussreicher gewordenen Mediziner. Eine Reihe prominenter Sportärzte spielte jahrzehntelang in Verbindung mit der Dopingproblematik keine geringe Rolle. Ohne ihre Forschungen und Anwendungen wäre das verbreitete Anabolikadoping nicht möglich gewesen. Heute kennen wir die Verstrickungen genauer und es zeigt sich deutlich, dass schon vor Jahrzehnten ein scharfes kritisches Hinsehen viel Klarheit gebracht hätte und bei einigen wenigen auch hat. Die Disziplin ‚Unter-den-Teppichkehren‘ erfreute sich allerdings großer Beliebtheit.
G. Treutlein forderte bereits 1993 bei vielen Gelegenheiten dieses schärfere Hinsehen, vor allem auch auf die Gesamtsrukturen. In einem Artikel für die Zeitschrift ‚Arzt und Sport‘ fasste er zusammen:
„Sportmediziner wie Klümper und Keul spielen wohl auf der Vorderbühne ein anderes Spiel als auf der Hinterbühne; dabei stehen ihre Namen nur stellvertretend für andere; interessanter als das Darstellen individuellen Handelns wäre das Herausarbeiten der dahinter liegenden Strukturen, die zu solchem Handeln veranlassten oder auch verführten: Die westdeutsche Sportmedizin hat ihre Vergangenheitsbearbeitung noch vor sich (inklusive der Forschungsförderungspraxis des BISp). Durch die Anlehnung an die Erfolgsorientierung des Spitzensports katapultierten sich manche Sportmediziner automatisch in die Machbarkeitszwänge des Leistungssports hinein. (…)
Welche Verdrängungsleistungen bei der Vergangenheitsbewältigung bewältigt werden, zeigt das Beispiel des Präsidenten des Weltverbands für Sportmedizin, Prof. Dr. HOLLMANN, der sich bis heute z. B. weder von der früheren Tätigkeit seines zeitweiligen Assistenten MADER (vgl. Berendonk 1992, vor allem S. 43 f) noch von seiner Förderung des früheren DVFL-Arztes und späteren Bayreuther Professors RIEDEL distanziert.
Für die Vergangenheitsbewältigung in Ost und West sollten wir uns an die Aussage eines Vertreters der Bürgerrechstbewegung, Manfred KRUCZEK (Sportsprecher des Neuen Forums) halten: „Es ist uns wichtig, daß der Sport weiterlebt, aber nicht nach der Augen-zu-Methode, sondern in ehrlicher Aufarbeitung und Bewältigung der Vergangenheit“ (FAZ vom 9.12.1992). Denn „Vergangenheit vergeht nicht einfach so; schon gar nicht für die Opfer, aber auch nicht für die geistige Kultur eines Landes.“ (Gauck im Spiegel 1994/2, 174). Dies gilt auch für die Sportmedizin.“
Der Artikel ist nicht erschienen, denn die Zeitschrift wurde Ende April 1993 eingestellt, u. a. wurde dies vom Verlag damit begründet, dass zu viel und zu häufig Doping-Artikel erschienen wären.
Der vollständige Artikel ist >>> hier nachzulesen nachzulesen.
Dopingkontrollen, Dopingregeln
Die Kontroversen zwischen dem Deutschen Schwimmverband DSV und dem internationalen FINA sowie dem DLV und dem IAAF zeigten, dass die Harmonisierung des weltweiten Antidopingkampfes noch in weiter Ferne lag. Wiesen doch selbst innerhalb Deutschlands die Verbände sehr unterschiedliche Regelwerke auf. Die Diskrepanzen ließen nicht selten deutsche Verbandsfunktionäre in Richtung Weltverbände nach Klärung rufen. So auch Helmut Digel, der aufgrund immer deutlicher werdenden Doping-Verdachtsmomenten China aber auch die USA infrage stellte. Insbesondere das Fehlen von Trainingskontrollen in anderen Ländern wurde hierzulande moniert.
„“Wir können nicht nur China diskreditieren. Einige sagen, Amerika sei viel schlimmer.“ „Digel klagte über die mangelnde Einsicht im Council des Weltverbands: „Und dann stehen im Council Leute auf wie Kubas Verbandspräsident Alberto Juantorena und halten eine flammende Rede, in der sie behaupten, sie würden niemand kennen, der jemals gedopt hat. Das ist doch ein Treppenwitz.““.“ Nach Digels Meinung geht die „Seuche“ viel tiefer in die Leichtahtletik als bisher angenommen: „Mißtrauen besteht nicht nur gegenüber den Chinesen. Und wer kontrolliert eigentlich Jackie Joyner-Kersee. Das in den Staaten beliebte Bodyshaping ist Anabolikakonsum schlechthin.“ (FAZ, 19.8.1993)
Vorreiter bei Trainingskontrollen scheint Deutschland aber nicht gewesen zu sein. 1992 wurden zwar 4000 Trainingskontrollen durchgeführt, damit wurde das Ziel möglichst jeden Athleten mindestens einmal außerhalb der Wettkämpfe zu testen, erreicht, aber
„Weltmeister im Kontrollieren sind wir deshalb noch nicht“, merkt Professor Manfred Donike, der Leiter des Kölner Doping-Kontrollabors, an. Ein Hinweis für forsche deutsche Sportfunktionäre, die, laut Donike, „im Ausland den Lehrmeister spielen wollen“. In Belgien und Schweden werden Athleten seit mehr als zehn Jahren nicht nur bei Wettkämpfen, sondern auch im Training kontrolliert. In Deutschland erst seit Sommer 1989 und damals zunächst nur in ausgewählten Disziplinen.“
Bezogen auf die Bevölkerungszahlen von 1991 liegen Norweger, Schweden und Australier vor den Deutschen.
„Auch bei den Trainingskontrollen der Olympiateilnehmer in Barcelona verschafften sich die Deutschen mit durchschnittlich 5,7 Trainingskontrollen keinen herausragenden Vorsprung (…). Norweger, Amerikaner oder Australier sind kaum weniger häufig (5,6 und 4,1 und 3,7 mal) getestet worden. Wohl aber die 244 chinesischen Sportler, die sich 1991 nur 59 Trainingskontrollen (0,2) unterziehen mußten und in Barcelona 54 Medaillen gewannen.“ (>>> doping-archiv.de-Dossier China und Doping)
Manfred Donike erklärte im Spiegel vom 9.8.1993:
Donike: Auch hier [im Westen, im Vergleich zu Russland] beginnt das Kontrollprogramm zu greifen. Allerdings fummeln immer mehr Athleten mit Substanzen wie Testosteron herum, die eine kurze Ausscheidungszeit haben. Wenn sie es per Hodenpflaster oder Nasenspray nehmen, kommen wir ihnen mit unserer Analytik nur schwer bei.
(…) Die Vorwarnzeit muß gleich Null sein. Denn jede Manipulation, ob mit Katheter oder Frauenkondom, braucht Zeit zur Vorbereitung. Aber in den USA wissen die Athleten drei Tage vorher Bescheid, das ist ein Witz.
(…) In Deutschland wurden im letzten Jahr über 4000 Trainingskontrollen vorgenommen, immerhin 80 Prozent hatten eine Vorwarnzeit von weniger als 24 Stunden. Doch der Kontrolleur kommt noch zu häufig zur falschen Zeit.
(…) Vor kurzem hat mich einer der bekanntesten deutschen Trainer gebeten, ich möge eine neue Substanz analysieren. Die wolle er in Vorbereitung auf eine Weltmeisterschaft einsetzen – er erhoffe sich davon eine Leistungssteigerung. Wenn solches Denken nicht ausgeschaltet wird, sehe ich schwarz.
Ab 1.1.1993 wurden in Deutschland die Trainingskontrollen ausgeweitet, auch C- und D-Kaderathleten sollen erfasst werden. (FAZ, 8.6.1993)
Manfred Evers von der Antidoping-Kommission des DSB hatte sich in 1992 bemüht mit verschiedenen Ländern ins Gespräch zu kommen und um Informationen zu deren Antidoping-System gebeten. Das Ergebnis der Nachfrage zeigte sehr unterschiedliche und nicht vergleichbare Regularien und Aktionen auf. Selbst die Sanktionen waren verschieden. Daher wünschte sich Evers eine ‚deutsche Delegation, die in die wichtigsten Länder reist, sich informiert und dort Vereinbarungen trifft.‘
FAZ, 5.2.1993:
„An diesem Punkt verläßt möglicherweise auch der DSB seinen bisherigen Weg. Vor allem der Vortrag von Professor Franke aus Heidelberg beim Expertengespräch über Doping vor zwei Wochen in Erfurt hat offenbar nachdenklich gemacht. Frankes drastische Darstellung zukünftiger Doping-Machenschaften, die schon hier und da Wirklichkeit seien, haben zur Erkenntnis geführt, daß vor allem der Handel mit Anabolika nicht vom Sport allein verhindert werden könne. Aus diesem Grund ist das Thema zusätzlich auf die Tagesordnung der Sitzung der Antidopingkommission am kommenden Donnerstag gesetzt worden.“
Dieser Hamonisierung etwas näher kamen die europäischen Länder auf der politischen Ebene mittels der europäischen Anti-Doping-Charta, dem „Europäische Übereinkommen gegen Doping im Sport“. Die Bundesrepublik ratifizierte die Charta am 11. November 1993. Damit verpflichteten sich die Unterzeichnerländer gesetzliche Regelungen gegen den Medikamentenmißbrauch zu erlassen. In der BRD geschah dies später mittels des Arzneimittelgesetzes.
In den USA waren der Besitz von und das Dealen mit anabolen Steroiden bereits gesetzlich verboten.
„Nach den Arzneimittelgesetz-Strafbestimmungen in Amerika soll jede Person, die ein anaboles Steroid in den Verkehr bringt oder besitzt in der Absicht, es weiterzugeben, mit bis zu drei Jahren Gefängnis bestraft werden. Sind Minderjährige im Spiel, wird das Strafmaß auf bis zu sechs Jahre heraufgesetzt. Seit dieses Gesetz (1. Februar 1991) gilt, sind in den Vereinigten Staaten mehr als 300 Urteile gesprochen worden. Auch drei Sportmediziner kamen hinter Schloß und Riegel.“ (FAZ, 6.1.1993)
GERMAN CONTROL
Ende 1993 war das Verhältnis zwischen den deutschen Lagern Sport-Ost und Sport-West nicht sonderlich entspannt. Vier Jahre nach dem Mauerfall herrschte weiterhin Misstrauen, Konkurrenz und Neid, das Handeln von Funktionären zeugte häufig mehr von Hilflosigkeit denn von Souveränität.
Vor diesem Hintergrund brachte die Schließung der in Berlin angesiedelten TÜV-Firma German Control Warenprüfung Ostdeutschland GmbH weiteren Unfrieden mit sich. GCO war 1991 gegründet worden und hatte im Auftrag des Deutschen Sportbundes (DSB) die Trainingskontrollen durchgeführt. Nun sah man sich in Berlin ungerechtfertigten Verdächtigungen ausgesetzt. So hatte Manfred Donike in dem oben zitierten Spiegel-Interview vom 9.8.1993 auf die Frage, ob er GCO traue, gesagt, „ersparen Sie mir einen Kommentar. Weiß ich, ob da nicht noch alte Seilschaften arbeiten? Ich trau‘ keinem aus dem Osten.“ Und auch Hans Evers, Anti-Doping-Beauftragten des DSB, werden kritische Worte zur Last gelegt. Neu beauftagt wurde für die Trainingskontrollen die Münchener „Pabst & Wengoborski Testteam-Service GmbH“. (FAZ, 23.12.1993)
INTERNATIONALES REGELWERK
Das IOC reagierte auf die anhaltende Kritik und beschloss im Juni 1993 sich für folgende Prinzipien einzusetzen:
– die Einigung auf allgemeingültige Anti-Doping-Regeln und Verfahren bei Wettkampf- und Trainingskontrollen zu beschleunigen,
– alle internationalen Fachverbände aufzufordern, jedes Jahr die Liste der verbotenen Substanzen und Methoden des Dopings, die von der Medizinischen Kommission des IOC festgelegt werden, zu übernehmen,
– sich auf eine Minimalstrafe von zwei Jahren bei Dopingverstößen zu einigen und zu gewährleisten, daß dies in die internationalen wie nationalen Regelwerke aufgenommen wird,
– die Sanktionen der jeweils anderen Verbände anzuerkennen, die vom IOC akkreditierten Labors mit der Überprüfung ihrer Proben von allen internationalen Meisterschaften und Trainingskontrollen zu beauftragen,
– die Kooperation zwischen dem IOC, den internationalen und nationalen Fachverbänden, den Nationalen Olympischen Komitees (NOK) und den Regierungen zu verstärken, um den Handel mit Dopingsubstanzen zu bekämpfen,
– spezielle finanzielle Hilfsprogramme für solche internationalen Sportverbände zu entwerfen, die diese Unterstützung zur Verbesserung ihrer Dopingkontrollen brauchen,
– dafür zu sorgen, daß nur solche Sportarten ins olympische Programm eingeschlossen werden, deren internationale Organisationen sich mit sämtlichen genannten Prinzipien einverstanden erklären.
Zudem soll das bestehende internationale Sportgericht entscheidend erweitert werden. Mittels eines „Supreme Council of International Sport Arbitration“ ist beabsichtigt, eine Instanz zu schaffen, die Sportlern, die mit den Entscheidungen ihrer jeweiligen Verbandsschiedsgerichte nicht einverstanden sind, Möglichkeiten zum Einspruch gibt. (FAZ, 22.6.1993) Die Grundlage der heutigen Sportgerichtsbarkeit wurde damit gelegt.
Das IOC reagierte damit auch auf die Auseinandersetzung zwischen Burt Reynolds, USA, und dem IAAF. Der 400m Läufer, 1988 Gold- und Silbermedaillengewinner bei den Olympischen Spielen, wurde 1990 durch eine Trainingskontrolle des Nandrolon-Dopings beschuldigt. Daraus entwicklete sich ein langwieriger Rechtstreit an dessen Ende der IAAF 27,3 Mio Dollar an Reynolds zahlen musste. (The Court of Arbitration for Sport, 1984-2004, S. 372).
Antidopingberichte
Im Mai 1994 legte die Bundesregierung einen Antidopingbericht vor, der einen Überblick über die nationalen und internationalen Regelungen und Dopingkontrollen von 1989 bis 1993 gab:
>>> Anti-Dopingbericht der Bundesregierung 1994
Manfred Donike stellte den Jahresbericht 1993 des Kölner Labors im Januar 1994 vor.
Die FAZ hielt hierzu fest:
Im Vergleich zum Olympiajahr 1992 stiegen 1993 die positiven Dopingfälle weltweit um 33 Prozent an. Donike führte dies zwar vor allem auf den hohen Anstieg der positiven Fälle im Pferdesport zurück. Dennoch ist 1993 auch im Humansport die Anzahl der positiven Dopingproben um 20 Prozent gewachsen. Insgesamt analysierte das Institut für Biochemie der Deutschen Sporthochschule in Köln 9969 Proben, davon waren 205 A-Proben positiv. Bei den Verbänden des Deutschen Sportbundes (DSB) waren von 5550 Proben nur 17 positiv (0,31 Prozent), davon zehn in den olympischen Sportarten Radsport (5), Gewichtheben (2), Leichtathletik (2) und Schwimmen (1).
Bei den nicht dem DSB angeschlossenen Verbänden waren es 27 von 102 Proben (26,47 Prozent). Dabei fällt besonders der Deutsche Body-Building-Verband aus dem Rahmen: Von 47 untersuchten Proben waren mehr als die Hälfte, nämlich 26, positiv. Nach Testosteron sei die „ehemalige Modedroge Clenbuterol“, die im übrigen Sport schon fast wieder verschwunden sei, das am zweithäufigsten entdeckte Anabolikum. Der Schwarzmarkt nehme erschreckende Ausmaße an, sagte Donike. Schätzungen, nach denen allein in den Vereinigten Staaten Anabolika im Wert von 500 Millionen Dollar umgesetzt werden, halte er für „relativ konservativ“. Dort seien vor einiger Zeit bei einem Senatshearing bereits eins bis drei Milliarden Dollar genannt worden. Auch angesichts der Entwicklung in Deutschland forderte Donike Maßnahmen, „die die Verfügbarkeit der Mittel einschränken“.
Von ausländischen Verbänden testete sein Labor 3225 Proben, davon waren 118 positiv (3,66 Prozent). In den Vereinigten Staaten sei eine positive Entwicklung zu verzeichnen, dort greife das Netz der Kontrollen besser. “ (FAZ, 2.1.1994
Hochspringer auf Antidopingkurs
Ende 1990 hatten die Zehnkämpfer sich ein eigenes Antidopingprogramm verordnet. Im November 1993 folgten die Hochspringer innerhalb des DLV. Im Mittelpunkt der Aktion standen die Erstellung von Steroidprofilen. Die Leitung übernahm jeweils Prof. Manfred Donike aus Köln. Anhand der Pofile ließen sich eventuelle Manipulationen schneller feststellen bzw. erschweren den Sportlern das Dopen und dessen Verschleierung.
>>> DLV Merkblatt Steroidprofilanalyse 1993
Bei vorerst fünf Hochspringern wurden mittels 6 bis 8 Tests in einem Zweiwochenrythmus individuelle Steroidprofile erstellt.
„Zweck der in Zusammenarbeit mit Professor Donike in Köln vorgenommenen Aktion ist einerseits der Wunsch, die eigene „Sauberkeit“ unzweifelhaft darzustellen, andererseits „ein nachhaltiges und weiter gehendes Signal zu setzen“, wie Hochsprung-Bundestrainer Wolfgang Killing erläutert.“ „Wir planen eine umfassende Aufklärung, etwa auf den deutschen Hochsprungmeetings, T-Shirt-Aktionen, Info-Stände, in die jeweilige Landessprache übersetzte Infos für ausländische Aktive und mehr.“ Dahinter steckt ein hoher Anspruch: Man will die internationale „Hochsprungfamilie“ auf ein gemeinsames Ziel einschwören, eine Sogwirkung erzeugen, andere Verbände, Disziplinen eindringlich zur Nachahmung animieren.
Finanziert wurde die Aktion, anfallende Kosten pro Athlet, 6 000.- DM, durch die Firma „Musiphone“ von Wolfgang Beyer, dem Vater des deutschen Hochsprungmeisters Hendrik Beyer. (FAZ, 24.11.1993)
Zitat aus (der Spiegel, 16.8.1993, das Steroidprofil:)
„Bisher hat nur der Internationale Gewichtheberverband die Methode offiziell anerkannt. Wegen hoher natürlicher Hormonschwankungen wird das Steroidprofil bei Frauen nicht angewendet.“ (>>> doping-archiv.e: 1992 / 1992 DLV Anti-Doping-Maßnahmen, -Informationen, -Broschüren, -Regelwerke)
Zehnkämpfer Paul Meier, 22:
„Als Beweis, daß „Weltklasse auch mit Schwarzbrot und Möhren“ (Marek) möglich ist, entwickelten sie zusammen mit Donike das Pilotprojekt Steroidprofil, eine Art Register für die Hormone der Athleten. Besuchern, die es genau wissen wollen, legt Meier heute seinen Dopingpaß auf den Tisch. Jeder soll sehen, wie streng die Kontrollen sind. 24mal haben die Dopingfahnder im vergangenen Jahr mit ihren Unterschriften die ordnungsgemäße Urinabgabe protokolliert. „Selbst bei meiner Freundin“, erzählt Meier, habe ihn der Fahnder schon mal am Sonntagmorgen rausgeklingelt – wer wirklich sauberen Sport wolle, müsse eben „Einschnitte ins Privatleben hinnehmen“.“
(der Spiegel, 16.8.1993)
CARLO THRÄNHARDT
Hochspringer Carlo Thränhardt findet in SPORTS, 2/1993 deutliche Worte im Rahmen eines ausführlichen Interviews. Zitate:
„Also, ganz klar, Ich hab‘ mein Leben lang Sport getrieben OHNE EINE ART VON DOPING, aber ich weiß, wie oft ich beschissen worden bin. Ich weiß, daß ich bei einer wichtigen Meisterschaft das Ding gewonnen hätte, wenn die beiden Russen, die vor mir waren, sauber gewesen wären. Sie haben es mir hinterher selbst erzählt, und als ich denen dann gesagt habe: Hört mal, ich hab‘ noch nie was genommen, da haben die mich ausgelacht. Das wär‘ doch gar nicht möglich. Sie würden schon was nehmen, um über 2,20 Meter zu kommen. Wenn du solcheSachen hörst, dann kotzt dich das an. Aber du sagst dir auch: Paß auf, die leben in Rußland oder in der DDR, die sind in ANDEREN SYSTEMEN groß geworden, die haben so ein Unrechtsbewußtsein gar nicht. Denen wird halt eingetrichtert, das macht jeder, und wenn du es nicht machst, dann bist du der Depp.
Mit Westathleten war das immer anders. Die, die es gemacht haben – und das war immer die Mehrheit -, die haben schwer darunter gelitten. Ich habe mit vielen gesprochen, die mir dann erzählt haben, wie sehr sie von Ängsten gepeinigt, wie sehr sie von Depressionen heimgesucht wurden. Die wußten genau, welche Risiken sie aufsich nahmen, und daß sie sich in einem Grenzbereich befanden. Da kämpfte permanent GUT gegen BÖSE und es war für die immer ein Schrecken ohne Ende. Ich glaube, viele sind damit nicht klargekommen. Und die wissen heute noch nicht: War ich nun wirklich ein toller Athlet, oder war ich nur wegen Anabolika ein toller Athlet? Ich, für meinen Teil, wollte das immer genau wissen. Die anderen haben jetzt ihr Leben lang ein PROBLEM.
Der Einzug der Lüge Es ist schlicht ein Witz, daß die ganze Doping-Diskussion erst seit dem Sündenfall Ben Johnson mit Vehemenz geführt wird. Auf den Sportplätzen dieser Well ging das lange, lange vorher los. Plötzlich wurde von Anabolika gequatscht, von Wachstumshormonen oder von irgendwelchen Mittelchen, um das Ganze zu verschleiern. Du standest da, und dann wurde geredet: was der mit den dicken Beinen wohl gemacht hat? Oder die da, die gar keinen Busen mehr hat? Das war sehr eigenartig, sehr komisch.]a, man könnte sagen, daß 1981 die Lüge in den Sport eingezogen ist, und es besteht sicherlich eine Verbindung Zu der Tatsache, daß wir Athleten von diesem Zeitpunkt an auch offiziell Geld verdienen durften. Wir Hochspringer haben uns damals aus dem Verband zurückgezogen und begonnen, mit Musik zu springen. Weil das UNSER DOPING war.
Mit Wut Im Bauch. Funktionäre, Ärzte, Trainer. Viele haben es immer gewußt. ZU VIELE. Und um mal mit den Funktionären zu beginnen: Die sind immer, stillschweigend sozusagen, davon ausgegangen, daß Thränhardt dopt. Ich erinnere mich noch genau an den Rückflug von der HallenWM in Indianapolis, als ich zu einigen dieser Herren sagte: „lch habe nie etwas genommen.“ Da haben die gelacht „Junge“, sagten sie, „hör‘ doch auf, wir wollen es ja gar nicht wissen, aber wir wissen es ja doch, das du was nimmst. Das geht doch gar nicht ohne.“ Mann, ich habe da gesessen und hab‘ die Welt nicht mehr verstanden. Das hat mich angekotzt.
FUNKTIONÄRE UND SAUBERKEIT? Ich glaube nicht, daß jemals von Verbandsseite wirklich der Grundsatzsatz bestand: FAIR GEHT VOR. Das ist ein hübscher WERBEGAG. Mehr nicht, denn ich weiß, daß es Funktionäre gab, die nicht nur für Athleten Anabolika und andere Stoffe besorgt haben, sondern die das Zeug auch noch eigenhändig über Grenzen geschmuggelt haben. Das Schlimmste aber kam jetzt nach der Wende, als man sich hier im Westen hingestellt und pauschal den Osten verurteilt hat. Gott, wie widerlich! Ich fand es eine bodenlose Schweinerei, denn viele, die sich da hingestellt haben, haben es ja hierzulande selbst gemacht. Nur dilettantischer. Und jetzt die Trainer. Die waren bis auf Ausnahmen immer schon abhängig von den Verbandsoberen. Die mußten mit denen im ständigen Dialog stehen, mußten nett sein und sich immer fein in OPPORTUNISMUS üben, weil: Dir als Trainer geht es sonst ganz schnell an den Kragen, und ich weiß eben auch, wie Athleten von Trainerseite zumDoping überredet wurden. Raus aus dem Kader, wenn NEIN. Rein in den Kader, wenn JA. Das machte mal schnell 1000 Mark Unterschied im Monat. Viel Geld für einen Sportler.
Und natürlich die Herren Mediziner. Ärzte hat’es imrner gegeben, die dir was besorgt hatten. Das war nie ein Problem. Ärzte sind eben wie alle anderen Menschen. Es gibt Idioten und ein paar mit Grundsätzen. Es waren einige dabei, die haben – legal oder illegal kleine Testreihen gemacht, und die hat die ethisch-moralische Seite einen Scheißdreck gekümmert. Die WAHRHEIT kommt da ganz sicher nie mehr ans Licht, weil nicht nur alle zusammenhalten. sondern weil es zu komplex ist. Weil es ZU LANGE und ZU OFT gemacht wurde. Ich glaube, wenn alles herauskäme, das wäre ERSCHÜTTERND.
Ein Vorschlag. Annulliert nicht nur die Rekorde, sondern tauscht alle Funktionäre und alle Trainer, die in den letzten zehn Jahren im Westen an verantwortlicher Stelle gearbeitet haben, aus, wenn sie nicht bereit sind, an Eides Statt zu versichern: Ich habe nie gedopt, laßt sie dieses Papier unterschreiben. Oder schmeißt sie raus! Und die ATHLETEN? Wir brauchen eine Gewerkschaft Wir müssen uns organisieren, wir müssen EINFLUSS nehmen – auch auf die Nominierungskriterien -, und wir müssen den jungen ins Hirn hämmern: Es geht auch ohne, es geht auch ohne! Dafür zumindest will ich in Zukunft kämpfen. Und zwar an allen Fronten. Gerade habe ich erreicht, daß die Computerfirma SEGA sämtliche Kosten für Dopingproben im Hochsprung übernimmt. Wäre das nicht traumhaft, wenn der SPORT einmal wirklich für andere gesellschaftliche Bereiche ein VORBILD wäre?“
Das ging dem DLV zu weit. Thränhardt wurde aufgefordert, Namen, insbesondere von Funktionären, zu nennen, was dieser verweigerte. Dabei wurden Thränhardt auch wieder frühere Äußerungen in der Presse vorgeworfen, wonach er einer Vielzahl von deutschen Athleten nach der Wende weiterhin Doping unterstellt hatte. Das DLV-Präsidium stand vor der Entscheidung ein Verfahren wegen Sportwidrigkeit einzuleiten. Ob dies geschah, ist mir nicht bekannt.
Stasi und Doping
Von Richthofen behielt recht, die Enthüllungen über die Stasitätigkeiten, auch in Verbindung mit dem Thema Doping, sorgten zunehmend für Unruhe. Immer deutlicher wurde die Verzahnung des DDR-Sports mit der Staatssicherheit. (der Spiegel, 23.11.1992)
„Auf Initiative der SPD-Bundestagsfraktion richteten die Verwalter der Stasi-Akten eine eigene Stelle für den Sport ein. (…) In Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit ist exakt aufgeführt, wer zum geheimen Kreis der Dopingplaner zählte. Die „Aufstellung der Geheimnisträger für Staatsgeheimnisse“ vom 31. Juli 1987 weist allein beim SC Halle 52 und beim SC DHfK Leipzig 45 Funktionäre und Trainer aus. Auch der Kreis der „Inoffiziellen Mitarbeiter“ war weitaus größer als bisher bekannt. Bei den Olympischen Winterspielen 1980 in Lake Placid agierte fast jeder fünfte in der DDR-Delegation für die Stasi – darunter zehn Sportler und neun Journalisten.“ (der Spiegel, 21.6.1993)
Ende 1993 entdeckte die Gauck-Behörde Stasiberichte von Ärzten, die diese über ihre gedopten Patienten angelegt hatten. Mehr als 200 wissenschaftliche und ärztliche Berichte zum Thema pharmakologische Manipulation im DDR-Sport waren laut Prof. Werner bis 1998 bekannt geworden. (FAZ, 17.6.1998)
Zu den enttarnten IM zählte Dieter Hofmann (IM ‚Rose‘), letzter Cheftrainer des Deutschen Turn-Verbandes (DTV) der DDR und auch nach der Wende entsprechend weiter beschäftigt. Bei ihm verweigerten die Sportler allerdings die Mitarbeit. Er musste aufgeben und ging als Trainer in die Schweiz. (FAZ, 13.11.1993)
So ging es aber weitem nicht immer aus. Die Aufarbeitung und Berücksichtigung der Verstrickungen ließen sich überwiegend zäh an. Und Erkenntnisse zeitigten nicht unbedingt negative Konsequenzen für Stasitäter. So blieben z. B. Prof. Dr. Klaus-Dieter Malzahn, bis September 1992 Präsident des Landessportbundes Sachsen-Anhalt, in der Folgezeit Ämter im Landessport nicht verwehrt. Er behielt 1993, trotz vereinzelter Proteste, seinen Posten als Geschäftsführer des ehemaligen SC Chemie Halle und heutigen SV Halle e.V und wirkte später viele Jahre als LSB-Vizepräsident Leistungssport.
In die Kritik geriet 1993 auch der ehemaligen Rektor der Pädagogischen Hochschule Potsdam Prof. Dr. Gerhard Junghähnel. Das Mitglied des Präsidiums des Deutschen Sportbundes (DSB) war aufgrund seiner Stasiakte – IM „Physik“ – Anfang Februar zurückgetreten. Sein Amt als Präsident des Landessportbundes Brandenburg (LSB) ließ er vorerst ruhen. Im April verhinderte der LBS Brandenburg mit einer Stimme Mehrheit die Wiederwahl Junghähnels zum Präsidenten, dessen Person zuvor DSB-Präsident Hansen und LSB-Berlin-Präsident von Richthofen als Funktionsträger abgelehnt wurde. (FAZ, 3.4.1993, FAZ, 26.4.1993)
Unangenehm wurde es zudem für den deutschen Sport durch Akten, die auch beliebte Sportler mit Stasitätigkeiten in Verbindung brachten. Besonders viel Aufsehen errang der Fall Heike Drechsler, die als IM „Jump“ Vereinskollegen bespitzelt und dafür sogar Westgeld erhalten haben sollte. (FAZ, 17.12.1993, Focus, 26.9.1993, der Spiegel, 8.11.1993). Dieser Vorwurf wurde allerdings im Jahr 2018 widerlegt. Eine Studie, die Heike Drechsler selbst in Auftrag gegeben hatte, zeigt gravierende Fehler in der Aufarbeitung mancher Stasiunterlagen auf und entlastet Heike Drechsler (Tagesschau: „IM Jump“ – Gutachten widerlegt Vorwurf 24.10.2018).
Auch im Bobsport gab es Unruhe. Detlef Richter, Zweiter im Zweierbob bei den Weltmeisterschaften 1985 und Dritter 1986 soll jahrelang seinen Freund und Co-Piloten Steffen Grummt bespitzelt haben. Grummt beschuldigte desweiteren DDR-Auswahltrainer Erich Enders, IM ‚Emil Müller‘, 1993 Trainer in Italien, und den Rodelolympiasieger von 1988 Jörg Hoffmann. (FAZ, 20.10.1993, FAZ, 27.10.1993)
„“Der Neid ist ihnen aus den Augen gesprungen“, sagt Grummt heute, nach dem Studium seiner Stasiakte XVIII 2145/85, die sich wie ein feinsäuberliches Tagebuch liest. Nur hat nicht Grummt zur Feder gegriffen. 17 Informelle Mitarbeiter (IM), Kollegen, Trainer und gar der engste Freund im Zweierbob bildeten ein Autorenkollektiv für die Stasi zu den Kapiteln Banales, Privates, Politisches und Gemeines. „Er organisierte sich einige Farbkataloge der Firma Mercedes“, berichtet Grummts Pilot Detlef Richter alias „Kurt Schulze“ dem MfS, erzählt vom Eheleben des Freundes mit der Schwimm-Olympiasiegerin Cornelia Ender, von der Abneigung Grummts, SED-Mitglied zu werden, und von den „1000 Mark Valuta“, die er in einer „Pappschachtel im Wertfach seines Spindes hat“.“ (FAZ, 16.11.1993)
Ende des Jahres brachte die Diskussion um Wolfgang Hoppe weiteren Zündstoff.
RUF NACH AUFARBEITUNG DER DDR-VERGANGENHEIT
Bereits im Juni 1993 hatte Professor Horst de Marées, Leiter des Bundesinstituts für Sport nach einer gemeinsamen Anhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestages und der Enquête-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“ staatliche Mittel für einen Forschungsauftrag angekündigt.
„Sie sollen sich beispielsweise eingehend mit der Fülle des Materials befassen, das in Bonn erstmals, aber nur auszugsweise die enge Verstrickung von Ministerium für Staatssicherheit (MfS) und Sport belegte. Erste Versuche de Marées‘ einer Aufarbeitung waren gescheitert, da Wissenschaftler aus der ehemaligen DDR seinem Aufruf zur Veröffentlichung von Untersuchungen nur mit verfälschten Angaben nachgekommen waren.“ (FAZ, 23.6.1993) In dieser Anhörung wurde aber auch von Prof. Werner Franke festgehalten: „Herr Prof. Treutlein aus Heidelberg hat den Deutschen Leichtathletik-Verband vor Jahren händeringend um die Sicherstellung des Archives des DDR-Verbandes gebeten. Das Gegenteil fand statt: Man wollte wohl nichts damit zu tun haben. Es gibt auch einen Förderungsantrag von Prof. Treutlein, zusammen mit Wissenschaftlern aus den neuen Bundesländern dieses ganze Gebiet historisch aufzuklären. Der Antrag ist nicht bewilligt worden.“
Im September 1993 schlugen Hans Hansen, Präsident des DSB und Vizepräsident Manfred von Richthofen dem DSB-Präsidium die Vergabe eines Forschungsauftrages mit dem Thema „Stasi, Sport und Doping in der DDR“ vor. Auch eine Überprüfung führender Funktionäre wird gefordert.
„Der DSB will darüber hinaus eine Liste mit Namen von führenden Mitarbeitern der 22 Olympiastützpunkte, allen beim DSB angestellten Trainern und Mitarbeitern von Forschungseinrichtungen erstellen und diese von der Berliner Gauck-Behörde überprüfen lassen. „Die Stasi hat auf alle Bereiche im Sport tiefgreifend Einfluß genommen und entscheidend bei Doping-Aktivitäten mitgewirkt. In diesem Maße hätten wir das nicht vermutet“, sagte Hans Hansen am Mittwoch in Berlin.“ (FAZ, 2.9.1993)
FAZ, 22.6.1993:
„Ziel der Stasi sei es gewesen, im Ausland sportmedizinische Erkenntnisse zu gewinnen und auf den westdeutschen Sport einzuwirken oder dessen Einfluß, auch in internationalen Gremien, abzuwehren. Geiger nannte als Ziele für das Einschleusen wie das Anwerben von Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) das Bundesinstitut für Sportwissenschaft und die Deutsche Sporthochschule in Köln sowie die Zentrale des Deutschen Sportbundes in Frankfurt am Main.“
Der DSB verabschiedete daraufhin am 24. 9.1993 eine Zehn-Punkte-Erklärung. Danach sollen, wie zuvor gefordert, alle vom DSB angestellten Bundestrainer sowie aller Mitarbeiter in den sportwissenschaftlichen Instituten überprüft werden. Die Fachverbände und Olympiastützpunkte sollten ebenfalls ihre leitenden Mitarbeiter der Gauck-Behörde vorlegen. Die Athleten wurden aufgefordert, ’sich zu offenbaren‘.
Doch „DSB-Präsident Hansen und Professor Helmut Digel, Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), sprachen sich gegen eine Vorverurteilung von Sportlern aus, die der Stasi-Mitarbeit verdächtigt werden. Sie bestanden auf einer Prüfung eines jeden einzelnen Falles. Selbst bei erwiesener Stasi-Mitarbeit sei noch zu prüfen, ob der Athlet einem Menschen geschadet habe. Eine Amnestie für die Bespitzelung unter den Athleten schloß Hansen nicht aus: „Über diese Variante wird der DSB-Präsident nachdenken. Die Amnestie bei Doping von Athleten zum 1. Januar 1992 war eine hervorragende Entscheidung“, sagte Hansen.“ (FAZ, 27.9.1993) Als erster Sportler soll der Olympia-Dritte über 50 Kilometer Gehen von Barcelona, Ronald Weigel, Digels Aufforderung nachgekommen sein, er sei von 1980 bis 1989 als IM tätig gewesen. (FAZ, 30.10.1993)
Es gab aber in Richtung Athleten auch andere Signale. Manfred von Richthofen, Vizepräsident des Deutschen Sportbundes (DSB), erklärte
„jeder Athlet, der bei seinen Stasiaktivitäten andere nachweislich denunziert hat, wird vom Olympiateam ausgeschlossen.“ (FAZ, 22.12.1993) Das NOK schloss sich diesen Forderungen an und forderte eine Einzelfallprüfung. „Man stehe wie der Deutsche Sportbund (DSB) „auf der Seite der Opfer, es wird aber auch berücksichtigen, daß im Bereich des Sports viele sogenannte Täter in Wirklichkeit Opfer sind“.“ (FAZ, 23.12.1993)
Aktuell musste über Wolfgang Hoppe Bobfahrer entschieden werden. Hoppe war vor kurzem von der Bundeswehr entlassen worden, da er seine Stasitätigkeit verschwiegen hatte. Pikant in diesem Fall war zudem, dass Walter Tröger, NOK behauptet hatte, der Präsident des DBSV Klaus Kotter habe ihm schon vor anderthalb Jahren von Hoppes Spitzeltätigkeit berichtet, was dieser wiederum heftig bestritt. Hoppe konnte in Lillehammer starten.
Während es in den folgenden Wochen zu Spannungen zwischen der Gauck-Behörde und dem DSB kam – Hansen warf Hans-Jörg Geiger fehlende Zuarbeit vor – wurden in der Öffentlichkeit immer weitreichendere Verstrickungen bekannt.
„Karl-Heinz Wehr, 63, der „Möve“ war, arbeitet bislang unerkannt als Generalsekretär des Internationalen Amateur-Box-Verbandes (AIBA). Der Ex-Spion ist einer der wenigen deutschen Funktionäre, die in den Weltgremien des Sports Sitz und Stimme haben. Die über 3000 Seiten seiner Akte werden ihn nicht nur um sein Amt bringen. Sie zeigen auch beispielhaft, mit welcher Intensität der Krake Stasi den für die Selbstdarstellung des zweiten deutschen Staates so eminent wichtigen Leistungssport umklammerte. Weil in nahezu allen medaillenträchtigen Disziplinen Sportler, Ärzte, Trainer und Funktionäre Geheimnisträger des Staatsdoping waren, blieb die Kontrolle bis in die Nachwendezeit total. Geradezu sklavisch folgte der Deutsche Turn- und Sportbund der DDR (DTSB) dem Diktat der Stasi. (…) Beinahe täglich wächst das Heer der enttarnten Spitzel in Trainingsanzügen. Viele haben bereits eine neue Karriere begonnen. Je etablierter die einstigen Stasi-Zuträger im vereinten Deutschland sind, desto schwerer fällt nach dem Outing das Schuldgeständnis.“ (der Spiegel, 8.11.1993, Beichtstuhl für Spitzel)
In Hinblick auf die Olympischen Winterspiele 1994 in Lillehammer gab sich auch das Bundesinnenministerium besorgt. Der Sport habe das Problem allerdings ‚aus eigener Kraft‘ zu lösen. Betroffene Sportler mögen sich an ihre Verbandspräsidenten wenden. (FAZ, 27.11.1993) Das war keine leichte Angelegenheit angesichts der Einbindung alter Stasimitarbeiter in so manche Landesverbände.
So hatte es Diskussionen um drei Präsidenten ostdeutscher Landessportbünde in Verbindung mit Stasienthüllungen gegeben.
„Als erster stolpert der LSB-Präsident von Sachsen-Anhalt, Klaus Dieter Malzahn. Fünf Jahre lang war er als sogenannter Gesellschaftlicher Mitarbeiter für die Staatssicherheit tätig. Im September 1992 wird Malzahn abgewählt. Doch bereits zwei Jahre später stehen für ihn die Türen des LSB Sachsen-Anhalt wieder weit offen: Er wird Vizepräsident für Leistungssport. Daneben ist Malzahn seit 1992 Geschäftsführer des SV Halle, des mittlerweile größten Sportvereins in Sachsen-Anhalt.“ Der zweite war der Präsident des LSB Brandenburg Gerhard Junghänsel. „Der ehemalige Rektor der Pädagogischen Hochschule Potsdam ist umstritten. Schon immer galt er als strammer SED-Genosse. Im Frühjahr 1993 schließlich wird seine Stasi-Vergangenheit öffentlich. Unter dem Decknamen „Physik“ hatte sich Junghähnel per Handschlag für das MfS verpflichtet. Nach heftigen Auseinandersetzungen stellt er sein Amt als LSB-Präsident zur Verfügung, jedoch nur, um kurz darauf erneut zu kandidieren.“ (dradio, 19.9.2010)
Der dritte im Bunde war Manfred Thieß, Präsident des LSB Thüringen und Beisitzer im DSB-Präsidium und als IM „Patriotische Kraft“ geführt, der nicht bereit war seine Ämter ruhen zu lassen.
Helmut Digel, DLV-Präsident, erklärte im November im DLV-Präsidium, an der Spitze der Landesverbände gäbe es keine stasibelasteten Mitarbeiter mehr, die Überprüfung sei abgeschlossen, die der Bundestrainer bis zum Ende des Jahres.
„“Wenn die Einverständniserklärungen der Athleten vorliegen, wollen wir die ganze Vergangenheit aufarbeiten“, sagte Digel. Der Sportwissenschaftler ließ keinen Zweifel daran, daß es eine Reihe von belasteten Athleten gibt. „Der DLV hat sich auf die Seite der Opfer zu stellen. Wer Schuld auf sich geladen hat, wer Informeller Mitarbeiter der Stasi war, kann nicht Mitglied im Verband sein. Wir haben eine Kommission eingerichtet, die in Sportwidrigkeitsverfahren Sperren ausspricht.“ (FAZ, 22.11.1993)
Im Dezember 1993 forderte der DLV-Präsident ein ‚Ehrengericht für die Lösung von Stasi-Fällen im Sport‘. (FAZ, 6.12.1993)
Prof. Werner Franke erklärt am 21.6.1993:
Dann wurde ich vorhin gefragt: Was soll man machen. Was macht man mit den Sportlern heute? Meine Frau [Brigitte Berendonk] hat eine ganz einfache Antwort darauf gegeben: Die Wahrheit sagen. Es gibt doch gar keine andere Lösung. Wir werden die Diskussion in der Tat noch viele Jahre haben, auch wenn Sie jetzt eine Amnestie aussprechen für etwas, was nie eingestanden wurde.“
Helmut Digel schreibt am 20.1.2009:
„Versuche zur Aufarbeitung hat es wohl mehrfach gegeben. Doch keiner dieser Versuche wurde konsequent zu Ende geführt. Vor allem war keine dieser Bemühungen darauf angelegt, dass man dann, wenn man die entsprechende Aufarbeitung geleistet hat, eine Perspektive für einen Neuanfang gefunden worden wäre, an dem sich möglichst alle beteiligen können. Nicht zuletzt wegen dieser Versäumnisse hat die Diskussion über den Dopingbetrug der ehemaligen DDR den Charakter einer “unendlichen Geschichte”. (Blog Jens Weinreich)
Quellen:
Singler, A./Treutlein, G: Doping im Spitzensport,Sportwissenschaftliche Analysen, Auflage 2006
Singler, A./Treutlein, G.: Doping – von der Analyse zur Prävention, 2001
Latzel, K./Niethammer, L. (Hg.): Hormone und Hochleistung; darin J. Braun: „Dopen in Deutschland“ Die Diskussion im vereinten Sport 1990-1992
Berendonk, Brigitte: Doping, 1992
Franke, W./Ludwig, L.: Der verratene Sport, 2007
Hartmann, G.: Goldkinder, 1998
Seppelt, H.-J./Schück. H: Anklage: Kinderdoping, 1999
Kösters, F.: Verschenkter Lorbeer, 2009
Zeitungsarchive wie der Spiegels, Berliner Zeitung, FAZ, Deutschlandfunk und viele mehr (s. Text)
Monika