Doping in der BRD – 1960er Jahre
J. Keul, H. Reindell, H. Roskamm, E. Doll, H. Weidemann:
Pharmakologische Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit
>>> Historie westdeutscher Sportärzte Josef Keul
1966 veröffentlichten J. Keul, H. Reindell, H. Roskamm, E. Doll und H. Weidemann aus der Medizinischen Universitätsklinik Freiburg i. Br. das Ergebnis einer Studie über den Einfluss physiologischer und unphysiologischer Substanzen auf das Leistungsvermögen von Sportlern.
Eindringlich warnen die Autoren darin vor allem vor den Gefahren des Amphetamin-Dopings und zitieren dazu Beispiele aus dem Radsport.
Der Artikel erschien Zeitschrift ‚Medizinische Klinik‘, 61. Jahrgang, Nr. 30 vom 29. Juli 1966.
Einige Zitate:
Pharmakologische Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit
In zunehmendem Maße werden zur Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit Drogen verwandt. Von Substanzen, die physiologischerweise eingenommen werden (Vitamine, Zucker, Alkalien usw.) ist beim normal ernährten Menschen keine Steigerung der Leistungsfähigkeit zu erwarten. Zu einer Leistungszunahme führen nur wenige Pharmaka. Von denen die Weckamine die wesentliche Bedeutung haben. Diese können durch Enthemmung vegetativer Schutzmechanismen zu schweren Zusammenbrüchen mit tödlichem Ausgang führen. Viele Drogen, die zur Leistungssteigerung eingenommen werden, bewirken einen Leistungsrückgang. …
Es ist verständlich, daß der Mensch eine scheinbar mühelose Steigerung seines körperlichen oder geistigen Vermögens gern versuchte. Wir müssen uns jedoch fragen, ob es überhaupt möglich ist, medikamentös die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhöhen. Weiter ist zu prüfen, ob durch eine unwirksame Substanz (Placebo), die von der Versuchsperson für sehr wirksam gehalten wird, ein Leistungszuwachs zu erwarten ist (…). Eine objektivierbare Steigerung der körperlichen Leistungsfähigkeit durch Placebo läßt sich nicht nachweisen. …
Physiologische Substanzen
Bei den physiologischen Substanzen wäre vorauszusetzen, daß sie in unphysiologisch hohen Dosen oder in unphysiologischer Weise genommen würden. Zu den physiologischen gehören vor allem: Vitamine, Alkalien, Phosphate/ energiereiche Verbindungen, z B. Traubenzucker und Honnone. Verbreitet ist eine übermäßige Zufuhr von Vitaminen, jedoch ist eine Steigerung der Leistungsfähigkeit nicht zu erwarten, wenn eine quantitativ und qualitativ richtige Ernährung gegeben ist. Sind in der Ernährung zu wenig Kohlenhydrate, Fette, Eiweißkörper, Vitamine oder Mineralien enthalten, so bewirkt die zu wenig vorhandene Substanz eine Minderung der Leistungsfähigkeit.
In einem solchen Fall bewirkt die Zulage der mangelnden Substanz eine Steigerung der Leistungsfähigkeit. Die normale Leistungsfähigkeit wird wieder hergestellt, eine Steigerung über die normale Leistungsfähigkeit tritt jedoch nicht ein. Aus diesem Grunde bestehen unterschiedliche Meinungen […] über die Wirksamkeit von Vitaminen/ Phosphaten, Zucker, Alkalien usw. Es ist nicht zu belegen, daß diese Substanzen bei ausreichend ernährten Menschen die Leistungsfähigkeit steigern. Eine Ausnahme bilden Wettkämpfe, bei denen die im Organismus vorhandenen Reserven an energiehaItigen Substraten aufgrund der Dauer der geforderten Leistung nicht ausreichen/ z. B. bei Marathonläufen. …
Bei der Prüfung von Nebennierenrindenhormonen konnten Uselli u, Cavazzi […] eine Zunahme der Ausdauer nachweisen. Wir selbst fanden eine unbedeutende Zunahme der körperlichen Leistungsfähigkeit, so daß wir geneigt sind, den Nebennierenrindenhormonen keine leistungsfördernde Wirkung beim Gesunden zuzuordnen. Beim Trainierten sind Hypertrophie und erhöhte Funktionsbreite der Nebennierenrinde nachweisbar, die unter extremen körperlichen Belastungen nicht voll ausgeschöpft werden, wie wir durch ACTH-Infusionen zeigen konnten. Hettinger […] fand nach mehrwöchiger Zufuhr von Testosteron eine Zunahme des Leistungsvermögens, wobei nach Ariens […] die Wirkung auf den anabolen Effekt von Testosteron zurückzuführen ist.
Wir fassen zusammen, daß von den physiologischen Substanzen – abgesehen von Hormonen – keine Steigerung der Leistungsfähigkeit zu erwarten ist und sie auch im eigentlichen Sinne nicht zu den Dopingmitteln zählen.
Unphysiologische Substanzen
Die Bauern der Steiermark nahmen, um das Arbeitsvermögen zu erhöhen, Arsen […]. Arsen greift wahrscheinlich in Stoffwechselvorgänge der Muskelzelle ein. Inwieweit Arsen eine objektive Beeinflussung der Leistungsfähigkeit bewirkt, ist nicht bekannt. Es muß vor der Anwendung von Arsen wegen seiner karzinogenen Wirkung strengstens gewarnt werden. Strychnin erregt die interneuralen Synapsen und steigert die Reflexerregbarkeit. In höheren Dosen bewirkt es das Gegenteil und führt zu Fehlinnervationen […]. Bei Fahrradergometerarbeit konnte eine geringe Leistungssteigerung nachgewiesen werden […]. …
Mit Morphium und seinen Derivaten konnte eine geringe Leistungssteigerung nachgewiesen werden […]. Es führt aber bald durch eine starke Erregung des Vaguszentrums und Minderung der Zielstrebigkeit zu einer Leistungsminderung. Durch die Euphorie, die nach Morphium auftritt, wird es bei langdauernden, schweren Belastungen genommen. Auch nach Einnahme von Kokain konnte eine Steigerung der Leistungsfähigkeit nachgewiesen werden ….
Koffein hat einen zentralen und einen peripheren Effekt. Es verringert die Müdigkeit und erhöht die körperliche Arbeitsleistung […] dadurch, daß es auf die motorische Hirnregion und auf den Himstamm sowie in der Peripherie wirkt; da es auch in hohen Konzentrationen am isolierten Muskel die Arbeitsleistung erhöht […]. …
Lehmann, Straub u. Szakall […] konnten bei Ergometerarbeit nachweisen, daß eine Steigerung der Leistung durch Amphetamin und Methamphetamin durch eine erhöhte Inanspruchnahme der Leistungsreserven möglich ist. Bei erschöpfender Arbeit kann unter Pervitin mehr geleistet werden, aber der Organismus findet sich nachher in einem größeren Erschöpfungszustand. …
Wie sich die eine Sportart aufputschender und kraftsteigernder Pharmaka bedient, werden von anderen Sportlern (Schützen) Sedativa angewandt. Nach Hellpach […J ist unsere Zeit das Leistungszeitalter schlechthin, und so ist es gleichgültig, ob anregende oder dämpfende Mittel genommen werden, entscheidend ist die Beeinflussung der Leistung!
Es erhebt sich die Frage, ob eine Droge zur Steigerung der Leistungsfähigkeit ohne Gefahr für den Menschenverwandt werden kann, oder ob eine Leistungssteigerung mit einer Schädigung des Organismus erkauft wird. Morphin, Kokain und Amphetamine können zu einem süchtigen, persönlichkeitszerfallenen, kranken Menschen führen. …
Mehr und mehr wird über Schädigungen oder gar über Todesfälle nach Einnahme von Drogen zur Steigerung der Leistungsfähigkeit berichtet. Wir waren bei den Radweltmeisterschaften 1961 Zeuge eines schweren Zusammenbruchs. Ein Rennfahrer torkelte mit dem Fahrrad und konnte kaum zum Untersuchungszeit geführt werden. Er war verwirrt und mußte wegen Unruhe auf einer Bahre angeschnallt werden. Es trat Erbrechen ein, Harn und Kot gingen ab, der Puls war so tachykard, daß er nicht mehr gezählt werden konnte. Es bestand eine schwere Zyanose. Klinikaufnahme war erforderlich, und dort konnten Amphetamine im Harn nachgewiesen werden.
In einem anderen Fall kam es bei einem Straßenrennfahrer, der ungefähr 120:-150 mg Dexedrine® (Dexamphetamin) genommen hatte, plötzlich zu einem schweren Zusammenbruch. Es traten Verwirrtheitzustände, schließlich Bewußtlosigkeit und Fieber auf. Vor diesem Zusammenbruch war der Athlet in unserer Klinik zur Untersuchung gewesen, und sämtliche Befunde waren normal. Nach dem Zusammenbruch fanden sich im Ekg pathologische Veränderungen (…). Ferner hatte sich die Leistungsfähigkeit verschlechtert. Vill […] und ebenfalls Gmeiner […] fanden schwere Ekg-Veränderungen nach Pervitinvergiftungen.
Schönholzer […] berichtet über einen schweren Zusammenbruch mit epileptiformen Krämpfen bei einem Rennläufer nach Pervitineinnahme. Ferner verstarb ein Radrennfahrer an den Folgen einer Weckaminintoxikation bei den Radamateurmeisterschaften 1959 […].
Eindrücklich ist das plötzliche Eintreten des Ereignisses, das sich infolge völliger Ausschöpfung der Reserven einstellt, ohne daß es zum normalen und imperativ bremsenden Ermüdungsgefühl kommt. Es ist ohne weiteres zuersehen, welchen Gefahren der unter Pharmaka stehende Mensch ausgesetzt ist. Eine schädigende Wirkung kann sowohl nach Einnahme leistungssteigernder als auch nicht leistungssteigernder Pharmaka eintreten. Vor allem kommt es bei den Weckaminen zu Schäden. …
Unter Pervitin verschmelzen Ermüdungs- und Erschöpfungsgefühl, so daß keine Leistungsreserve mehr vorhanden ist. Die teleologische Organisation biologischer Abläufe wird durchbrochen, so daß die physiologischen Steuerungen ‚vollkommen versagen können. Im Sport, wo unter situativen Faktoren 50 zwingend eine überhöhte Leistung gefordert und erreicht wird, werden durch Drogen (Amphetamine) die Eigenantriebproduktion und die Impulse zur Erreichung der geforderten Leistungshöhe 50 schrankenlos gesteigert, daß es zu einer völligen Dysregulation biologisch unbedingt notwendiger Vorgänge kommt, deren Ergebnis der Tod sein kann.
Enthemmung und Antriebssteigerung bleiben nur solange einer Leistungsförderung dienlich, als es nicht zu einer Desintegration der Antriebsfunktionen mit unbeherrschten, unorganischen Ablaufen kommt. Dieses Stadium treffen wir häufig bei Sportlern an, da unter dem Einfluß klimatischer Verhältnisse, der gegebenen, augenblicklichen eigenen Form, der psychischen Belastung des Wettkampfes, die Dosis eines Pharmakons schwerlich festgelegt werden kann und folglich „gedopte“ Sportler viel häufiger zu einem Leistungsrückgang als einer Leistungssteigerung kommen. Weiterhin haben viele Pharmaka Nebenwirkungen, die zum limitierenden Faktor werden können. So mußte ein Amateurradrennfahrer bei den Radweltmeisterschaften 1960 wegen Erbrechens während des Rennens aufgeben. Es stellte sich später heraus, daß von dem Athleten Preludin~ (Phenmetrazin) genommen worden war.
Es ist außer Zweifel, daß der Gebrauch von leistungssteigernden Pharmaka für einen Sportler eine schändliche Handlung ist, wie es in einer umfassenden, das Wesen des Sportes beleuchtenden Abhandlung yon Jokl […] zur Darstellung kommt, und Sinn und Zielsetzung des Sports völlig mißachtet werden. Hervorzuheben ist, daß der Athlet sich erstens in unfairer Weise einen Vorteil gegenüber den anderen zu verschaffen sucht. Zweitens führt die wiederholte Einnahme zu einem Persönlichkeitszerfall und einer Minderung moralisch- ethischer Kräfte im Menschen; folglich wird das Training als die physiologische Wettkampfyorbereitung vernachlässigt. Drittens ist eine Schädigung des Organismus sowohl im körperlichen als auch im seelischen Bereich die unausbleibliche Folge.
In unserer Zeit, in der als Maßstab für den Menschen die Leistung schlechthin gilt, wo die Leistung zum Bezugssystem für ganze Gesellschaftsschichten geworden ist, und die Anwendung von anregenden Mitteln, z. B. Koffein, zur Selbstverständlichkeit geworden ist, können wir kaum mit ethisch-moralischen Vorstellungen der Ausbreitung des Dopings entgegenwirken. Die Möglichkeit, dem Doping Einhalt zu gebieten, ist erstens die Unterrichtung und Aufklärung von Betreuern und Athleten. … Die zweite Möglichkeit, dem Doping entgegenzuwirken, ist das Verbot und entsprechende, strenge Untersuchungen und Kontrollen. Der Nachweis von Pharmaka im Urin stellt heute kein Problem mehr dar.
Es gibt leistungssteigernde Drogen, die als mehr oder weniger künstliche Nachschlüssel bezeichnet werden können, um die dem menschlichen Willen unzugänglichen Reserven zugänglich zu machen. Die Natur hat sich diese Reserven für die Überwindung akuter Notstände geschaffen, die pharmakologische Ausbeutung dieser Reserven ist mit großen Gefahren für den Organismus verbunden […]. Vor allem ist festzuhalten, daß es kein Pharmakon gibt, das den Menschen in die Leistungsform bringt, die er durch ein systematisches Training, die richtige Ernährung, ausreichenden Schlaf und eine natürliche Entspannung erreicht.