Jörg Sievers – Schwimmer, gestorben mit 16 Jahren
Jörg Sievers war 16 Jahre alt, als er 1973 in Magdeburg, DDR, starb. Katrin Helmstaedt und Hans-Joachim Seppelt zeichneten in dem Buch Anklage: Kinderdoping, erschienen 1999, den kurzen Lebensweg des Schwimmers nach.
Grundlage des folgenden Textes ist das Kapitel „Tod eines Schwimmers“ Die Suche nach der Wahrheit: Der Fall Jörg Sievers“ (S. 157-176).
ein vielversprechendes Talent
Jörg Sievers begann mit dem regelmäßigen Schwimmen bereits im Alter von 5 Jahren. Da er als begabt eingestuft wurde, konnte er mit 10 Jahren in die Magdeburger Kinder- und Jugendsportschule (KJS) wechseln. Er gehörte damit gleichzeitig dem SC Magdeburg an. Von Anbeginn an ging es um Leistung, die mit hartem Training gesteigert werden sollte. Neben Hanteltraining mussten die Kinder Langstrecken- und Skilanglaufen sowie mindestens zweimal am Tage zum Schwimmen in das Becken. Die Wochenenden waren meist mit Wettkämpfen belegt.
Jörg entwickelte sich gut. Mit 13 Jahren war er über 100 m Klassenbester, über 200, 400 und 1500 Freistil sowie über 200 Rücken lag er an zweiter Stelle. Die Betreuung war rund um die Uhr gegeben. Dazu gehörte auch die stetige Vermessung der körperlichen Entwicklung des Jungen um mögliche und mögliche Leistungsentwicklungen vorausbestimmen zu können. Eisern wurde auf die Einhaltung akribisch ausgeklügelter Trainingspläne ebenso wie auf eine gesunde Ernährung geachtet – damit wurden auch die schon für sehr junge Sportler und Sportlerinnen bereitliegenden Pillenrationen erklärt, die Vitamine enthalten sollten.
Neben dem Sport wartete auf die Schüler der volle Schulunterricht, wobei das Trainingspensum immer weiter intensiviert wurde. Der 15 Jahre alte Jörg musste „im Durchschnitt elf Trainingseinheiten pro Woche absolvieren, in bestimmten Phasen steigerte sich das Pensum gar auf 18 bis 22 (…) an manchen Tagen wurde zehneinhalb Stunden trainiert, aber nur drei davon im Wasser.„ Solch ein Training gilt heute als völlig überzogen und kontraproduktiv, Gesundheitsschäden sind nicht auszuschließen. Das Trainingspensum hielten nicht alle Jugendlichen durch. Im zweiten Jahr an der Sportschule hatten bereits 4 Mitschüler aufgeben müssen. Später blieben 4 Jungen und 4 Mädchen übrig. Das waren noch viele. Es gab Klassen, da hatten Kinder Einzelunterricht, da sie als einzige der Belastung und den Erwartungen stand gehalten hatten – die anderen waren ‚ausdelegiert‘ worden.
Leistungsstagnation
1972 mit 16 Jahren ließen seine Leistungen langsam zu wünschen übrig. Der Zuwachs entsprach nicht den Vorgaben. Jörg gehörte zu dieser Zeit dem erweiterten Kader der DDR-Nationalmannschaft an und konnte damit von den Olympischen Spielen in München träumen. An seinem 16. Geburtstag, am 28. Juli, stellte er noch bei der Kinder- und Jugendspartakiade mit der Magdeburger 4×100-m -Freistil-Staffel einen Altersklassenrekord auf, seine Einzelleistungen genügten jedoch nicht mehr für die Olympiaqualifikation.
Ärztliche Untersuchungen ergaben bei Jörg ein bedrohlich vergrößertes Herz. Der Arzt informierte Jörgs Mutter über den Befund. Jörg Sievers müsse mit dem Hochleistungssport aufhören. Jörgs Trainer Gernot Schweingel („Jahre später von Schwimmverbandsarzt Dr. Lothar Kipke als Doper der 15jährigen Magdeburger Schwimmerin Antje Stille genannt“ (S. 176)) eröffnete dem jugendlichen Schwimmer erst nach Weihnachten 1972 das Ende seiner sportlichen Laufbahn, gab aber als Begründung allein das Nichterreichen der Normzeiten an. Über das abnorm große Herz verlor er kein Wort. Jörg musste die KJS verlassen.
das Ende der Sportlaufbahn
Jörg Sievers stand erst einmal unter Schock. Alles wofür er bislang gelebt hatte, galt nicht mehr. Doch er blieb ruhig,
„es schien, als akzeptiere er die Entscheidung, wie er alles andere zuvor in seinem Leben akzeptiert hatte.“ Er sollte mit dem Abtrainieren im Januar beginnen. d. h. „über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren sollte das Training graduell reduziert werden, um den hochgezüchteten Körper allmählich und ohne Risiko von dem Level extremer sportlicher Belastung wieder auf ein gesundes, normales Maß herunterzuschrauben“
– so die Theorie. In der Praxis wurde Jörg allein gelassen. Weder Trainer noch Ärzte kümmerten sich um den Jungen, er blieb völlig auf sich gestellt. Das Krafttraining fiel komplett weg und das Schwimmtraining konnte er nicht in dem Umfang ausübern, wie gefordert, da das Trainingsbecken überwiegend von den aktiven Leistungssportlerinnen und Sportlern beansprucht wurde.
unbemerktes Sterben
Am Nachmittag des 17. Januar, nachdem Jörg einige Bahnen zurückgelegt hatte, wartete er auf einem Startblock sitzend, auf den Beginn eines Kurses für Lebensretter, an dem er teilnahm. Ein Bademeister bemerkte bei Jörg blau angelaufene Lippen und erkundigte sich danach, wie es ihm ginge. Obwohl Jörg antwortete, ihm sei schlecht, kümmerte sich der Aufsichtshabende nicht weiter um ihn.
Zwei Stunden später fielen Schwimmern in der Umkleidekabine Jörgs Kleidung und Schuhe auf. Und erst mehr als eine weitere Stunde später wurde der tote Jugendliche auf dem Boden des Schwimmbeckens unter dem Sprungturm gefunden. Von den vielen Aktiven im Wasser war im trüben Wasser niemand aufmerksam geworden. Jörg Sievers musste bewusstlos oder bereits tot ins Wasser gestürzt und in die tiefste Beckenstelle getrieben worden sein. Niemand hatte etwas bemerkt.
Als Todesursache wurde von dem damaligen Cheftrainer Jürgen Tanneberger des SC Magdeburg und dem Arzt Dr. Eberhard Köhler, Abteilungsleiter Clubbetreuung der Sportärztlichen Hauptberatungsstelle Magdeburg, den Eltern Herz- und Lungenversagen angegeben, eine Grippe hätte das Herz angegriffen gehabt. Ein vergrößertes Herz wurde dabei nicht erwähnt.
Den Eltern war von einer akuten Grippe nichts bekannt, der Junge hatte solches nicht erwähnt, zudem war er einige Wochen zuvor gegen Grippe geimpft worden.
Die Eltern trauten der Angabe nicht und bemühten sich um weitere Informationen. Doch vergebens, selbst der Obduktionsbefund wurde ihnen nicht vorgelegt. Der Fall wurde zu den Akten gelegt und da der Unfall außerhalb der Trainingszeit stattgefunden hatte, sprang auch die staatliche Unfallversicherung nicht ein. Den Mitschülern und den Eltern wurde nahegelgt, nicht länger über den Fall zu sprechen und nachzuforschen. „Ich habe dann nicht mehr nachgefragt und nichts mehr gehört. Er war einfach nicht mehr da,“ so die Mutter.
Etliche Jahre später berichtete die Schwester von Jörgs Vater von einem Gespräch ihres Mannes mit Arzt Dr. Köhler, die miteinander gut bekannt waren. „Sie meinte gehört zu haben, wie der Arzt die Bemerkung fallenließ, Jörgs Herz sei durch die Einnahme von Anabolika gerissen.“
Die Erwähnung der Anabolika überraschte die Eltern. Sie hatten zwar von der Einnahme der Vitaminpillen gehört, doch mehr wussten sie nicht zumal die Sportler wenig zuhause erzählten, da sie zum Schweigen über ihr Training und alles damit Zusammenhängende angehalten waren. „Alle Kinder haben die Tabletten genommen. Wir haben uns damals wirklich nichts dabei gedacht. Erst viel später habe ich das in Zusammenhang mit Doping gebracht,“ so Frau Sievers.
die Suche nach der Wahrheit
Giselher Spitzer:
„Demnach wurden bei dem Jugendlichen Veränderungen an Leber, Milz und Nieren festgestellt. Dies, so der Bericht, sei toxisch bedingt gewesen. Da solche Veränderungen typische Folgen von Langzeitmissbrauch oder Hochdosierung von Anabolika sind, ist der Tod des jungen Schwimmers nun in einem neuen Licht zu sehen. Die Hinweise zur Trainingsmethodik des Jungen lassen die Vermutung zu, dass er nicht nach zentralen Richtlinien gedopt, sondern in einem Menschenexperiment einer Belastungsprobe unterzogen wurde.
Erstaunlich an diesem Fall ist auch, dass es nicht gelingt, über die Identifizierung des Sportarztes und Inoffiziellen Mitarbeiters des Staatssicherheitsdienstes Eberhard Köhler alias IM Werner Weiss und dessen Dopingverstrickungen in Leipzig hinaus weitere Akten zu finden. Bei den sonst überquellenden Archivalien in den Speichern der Staatssicherheit findet sich nicht einmal eine Karteikarte zu dem Fall. Der Jugendliche existiert dort gar nicht. Es scheint, als sei dieser Fall bewusst aus der staatlichen Überlieferung getilgt worden.“
(FAZ, 27.12.1999)
Zudem fehlt der Name des jugendlichen Schwimmers auch in den KJS-Akten, so als hätte er auch hier nie gelebt.
In den letzten Jahre der DDR und während der Wendezeit kamen immer mehr Details über die Dopingpraktiken in der DDR zutage.
Die deutsch-kanadische Journalistin Karin Helmstaedt, verwandt mit Familie Sievers, griff das Schicksal Jörgs auf und berichtete 1993 im kanadischen Fachmagazin „Swimnews“ erstmals darüber. 1997 wurde der Fall in der ARD-Dokumentation „Kinderdoping“ vorgestellt.
Befragt wurde auch Dr. Eberhard Köhler, mittlerweile freipraktizierender Arzt in Leipzig. Er leugnete zunächst von Lörg Sievers zu wissen, erinnerte sich kurze Zeit später aber wieder, von möglichen Anabolikaschäden hätte er jedoch nichts gehört. Er behauptete zudem, Herzmuskelschäden durch Anabolika seien in der Medizin nicht bekannt.
Nach den öffentlich gewordenen Vorwürfen begannen Staatsanwaltschaft und Polizei zu ermitteln. 25 Jahre nach Jörgs Tod wurde der Obduktionsbericht gefunden. Darin wird von einer „starken muskulären Wandverdickung der linken (19mm) und rechten (7mm) Herzkammer mit deutlicher Ausweitung“ gesprochen. Zudem wies die Milz eine akute Entzündung und die Leber einen „entzündlich-toxischen“ Schaden auf.
Nach Abwägung aller vorliegenden, auch zurückliegenden, Untersuchungsergebnisse des jungen Sportlers wurden die Ermittlungen eingestellt.
„Über 25 Jahre danach lassen sich zwar zahlreiche Puzzleteile zusammensetzen, die darauf hindeuten, daß er Opfer des unerbittlichen DDR-Leistungssportsystems war. Ob Sievers sein Leben auch wegen der gnadenlosen Dopingpraktiken verlor, läßt sich nach den polizeilichen und staatsanwaltlichen Ermittlungen nicht mehr rekonstruieren.“
Rekonstruieren ließ sich aber die Einbindung der beiden Personen, die den Eltern die Todesnachricht überbrachten und die beide in das DDR-Minderjährigendoping eingebunden waren: Dr. Eberhard Köhler und Jürgen Tanneberger.
Dr. Eberhard Köhler
Eberhard Köhler leugnete stets in das Dopingsystem der DDR eingebunden gewesen zu sein. Auf die Frage, ob er von Minderjährigen-Doping in der DDR wusste, meinte er einmal, er könne das weder bestätigen noch dem widersprechen. Er leugnete auch, den Eltern die Todesnachricht ihres Sohnes überbracht zu haben, es sei sein Vorgesetzter Heinz Eckhardt gewesen. Als das Buch „Anklage: Kinderdoping“ erschienen war, drohte er, mit einer einstweiligen Verfügung dagegen angehen zu wollen – was jedoch nie geschah.
Es ist davon auszugehen, dass Dr. Köhler zu den Mitverantwortlichen des DDR-Dopingsystems gehörte, in den 70er wie in den 80er Jahren. Die Bezirkssportärzte verteilten die Dopingpräparate nach den Vorgaben des Sportmedizinischen Dienstes (SMD). Dies wurde bestätigt durch eidesstattliche Versicherungen des ehemaligen Oberarztes der Sportärztlichen Hauptberatungsstelle Magdeburg, Dr. Klaus Rönnebeck, wonach Köhler für den Einsatz der UM einschließlich Anabolika für die Sektionen des SC Magdeburg verantwortlich war. Er habe die Sektionsärzte eingewiesen und die Mittel weitergegeben. Von 1979 bis 1980 war er Abteilungsleiter Leistungssport und Stellvertreter des Bezirkssportarztes Dr. Heinz Eckhardt in Magdeburg. Danach wechselte er nach Leipzig. Hier stieg er später zum Chef der Sportärztlichen Hauptberatungsstelle Leipzig auf.
Giselher Spitzer fand Unterlagen in der Gauck-Behörde, wonach Köhler eine nach Sportarten getrennte Dopingbuchführung eingeführt habe.
„Der Nachweis wird von Gen. Dr. Köhler auf offenen Karteikarten mit Namen der Sportler, Art und Menge der ausgegebenen Präparate, Datum, Bestand beim jeweiligen Sektionsarzt und Unterschrift des Sektionsarztes geführt“, heißt es in dem Bericht vom 23. April 1985.“ (Berliner Zeitung, 5.2.2000, svl.ch)
Als IM ‚Werner Weiß‘ berichtete Köhler zudem viele Jahre lang ‚zuverlässig‘ und war ‚interessiert an der Einhaltung der Konspiration‘.
Cheftrainer Jürgen Tanneberger
In den 80er Jahren kletterte Jürgen Tanneberger die Karriereleiter hoch und wurde Verbandstrainer des DDR-Frauenteams im Schwimmen. Bereits seit 1969 ist er als IM ‚Klaus Busch‘ geführt.
„Seine Spitzelberichte, die der Mittelsmann von der Stasi oft gleich vor Ort in der Elbe-Schwimmhalle entgegennahm, umfaßten allein sechshundert Seiten. So enthalten die Dokumente sogar politische Einschätzungen über 14 bis 16 Jahre alte Schwimmerinnen.“
Bereits 1976 berichtete er über Körperschäden bei Schwimmerinnen des Olympiakaders. Danach hätten die Unterstützenden Mittel (UM) bei einigen Veränderungen der Gebärmutter hervorgerufen mit der Folge, dass sie keine Kinder bekommen könnten. Tanneberger hält zudem fest, dass Eberhard Köhler von ‚diesen Dingen‘ Kenntnis gehabt habe.
Die Einbindung Jürgen Tannebergers in das DDR-Doping- und Stasisystem ließ sich in der Wendezeit nicht verstecken. Er gehörte zu den Trainern, die vom Deutschen Schwimmverband (DSV) auf nationaler Verbandsebene nicht übernommen wurden. Allerdings fand er Anschluss beim Düsseldorfer Schwimmclub Jan Wellem
„auf Empfehlung des früheren Schwimmwartes des DSV und langjährigen Funktionärs im Europäischen Schwimmverband (LEN), Rainer Wittmann.“
Wittmann war lange Jahre Protokollchef der nordrhein-westfälischen Landesregierung und Polizeipräsident in Düsseldorf. Wittmann pochte auf die Unschuldsvermutung, erst müsse die Schuld nachgewiesen werden, bis dahin seien alle als unschuldig einzustufen.
„Wittmann müsste es eigentlich besser gewußt haben. Jahrelang als hochrangiger Sportfunktionär tätig, kannte er die internationale Szene so gut wie kaum ein anderer. Die unübersehbaren Indizien für das flächendeckende systematisch Doping in der DDR dürften ihm kaum verborgen geblieben sein. … Er bezeichnete aber noch 1997 Veröffentlichungen über verdächtige Trainer aus der ehemaligen DDR als ‚Hetzjagd‘ und Diskriminierung‘.“
(S. 174)
1999 wurde Jürgen Tanneberger durch das Landgericht Berlin zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung wegen Beihilfe zur Körperverletzung in 47 Fällen verurteilt. 2009 trainiert er im Schwimmclub Berlin wieder Kinder (dradio, 18.9.2009, Berliner Zeitung, 23.12.1999).
Monika, 2009