14.10.1987 Öffentliche Anhörung von Sachverständigen zum Thema ‚Humanität im Spitzensport‘
Am 12. April 1987 starb Siebenkämpferin >>> Birgit Dressel an einer Medikamentenvergiftung. Teil des Mittelmixes waren auch Dopingsubstanzen.
Schlagartig wurde das Thema Doping aktuell und öffentlich sehr kontrovrs diskutiert. Besonders die Haltung der Sportmedizin rückte in den Mittelpunkt. Welche Verantwortung tragen Ärzte? Ab wann ist die Verschreibung von Medikamenten Doping, ab wann ist sie Förderung der Gesundheit eines möglicherweise überlasteten Sportlerkörpers?
Generell wurde die Frage laut, was war eigentlich in den letzten Jahren im Sport geschehen? Vieles deutete daraufhin, dass die Beschlüsse und Absichtserklärungen, die während und nach der Anhörung im Sportausschuss des Deutschen Bundestages 1977 verkündet wurden, oft nur Augenwisscherei waren.
Der verschärfte Ost-West-Konfliktes veranlasste in vielen Staaten die Sportwelt ihre Sportler medikamentös aufzugerüsten, aber insbesondere die beiden deutschen Staaten lieferten sich zusätzlich ein gefährliches Duell.
Neben den Dopinggeschehnissen trat in den 80er Jahren allgemeine Fragen nach der Stellung des Spitzensports, nach den Bedingungen, denen er ausgesetzt ist in den Mittelpunkt. Immer jünger wurden die Sportler und Sportlerinnen, immer rigider die Trainingsbedingungen, immer schärfer der kommerzielle Druck. Der Dualismus Amateur-Professional weichte auf.
Vor diesem Hintergrund reichten am 3.6.1987 CDU/CSU und FDP eine Kleine Anfrage ‚Humanität im Leistungssport‘ ein, die am 23.6.1987 beantwortet wurde:
>>> Kleine Anfrage ‚Humanität im Leistungssport‘
Eine Fortsetzung der Diskussion erfolgte am 14. Oktober 1987 im Sportausschuss des Deutschen Bundestages mit einer Sachverständigen-Anhörung.
Das Thema Doping und die Frage der ärztlichen Kontrolle und deren Rolle wurde dabei vor allem im zweiten Teil, nach der Mittagspause erörtert. Die Frage der Substitution nimmt darin breiten Raum ein, insbesondere deren Befürworter treten stark auf.
Die beiden Protokolle von 1977 und 1987 sind für das Verständnis der deutschen Dopinghistorie Schlüsseldokumente.
14.10.1987 Stenographisches Protokoll der Öffentlichen Anhörung
>>> 1987 Sachverständigenanhörung, Teil 1, Vormittag
>>> 1987 Sachverständigenanhörung, Teil 2, Nachmittag
1. Werte, Ziele und Grenzen eines humanen Leistungsports
2. Selbstbestimmung im Sport – Teil 1
3. Medizinische, psychologische und pharmakologische Beeinflussung im Leistungssport (Doping)
4. Kinder im Leistungssport – Teil 2
Teilnehmer/innen an der Anhörung waren u.a.:
Clemens (CDU/CSU), Nelle, (CSU/CSU), Spilker (CDU/CSU), Tillmann (CDU/CSU), Büchner (SPD), Klein, (SPD), Steinhauer (SPD), Baum (FDP), Mischnick (FDP), Brauer (Die Grünen)
Beck (DSB), Dr. Berndt (DSB), Donike (BISp), Eicke (DSB), Fallak (DSB), Helmut Meyer (BAL), Horst Meyer, Bouschen (DLV), Henze (DLV), Prof. Kirsch (NOK), Lohre, Dr. Schüller
Prof. Hollmann, Prof. Kaminski, Prof. Keul, Prof. Kindermann, Prof. Liesen
Zitate aus dem Protokoll nachmittags
Manfred Donike (S. 6/119 ff):
„Die Anabolika wurden 1974 von der Medizinischen Kommission des IOC auf die Liste gesetzt, nachdem in München, wo zum erstenmal in einem breiten Umfang auf Stimulantien und Narkotika überprüft wurde, der Mißbrauch von Anabolika offenkundig wurde. Hier ging der Mißbrauch sogar so weit, daß nicht nur im Männersport, wo man über die Notwendigkeit der Dopingkontrolle auf Anabolika wirklich diskutieren kann, sondern auch im Frauensport massive Dosen gegeben wurden und – trivial genannt – Geschlechtsumwandlungen auf diesem Weg angestrebt wurden. Diese Mißbräuche muß man sehen.
…
Um die Situation in Deutschland [bezogen auf Anabolika] darzustellen: Es gibt nach meinen Unterlagen nur zwei Verbände, bei denen von einer Dopingkontrolle im Wettkampf die Rede ist: Der Deutsche Schwimmverband führt offiziell Dopingkontrollen im Rahmen des Wettkampfes durch, und der Bund Deutscher Radfahrer hat über das Jahr verteilt so viele Dopingkontrollen angesetzt, daß die Kaderathleten während dieser Zeit immer mit einer Dopingkontrolle rechnen müssen. Das sind Dopingkontrollen im Wettkampf, aber durch die Vielzahl der Kontrollen wird die Trainingsphase mit abgedeckt.
…
Der Internationale Leichtathletikverband hat in Rom Beschlüsse gefaßt, die auch darauf hinzielen, daß in Zukunft Dopingkontrollen [auf Anabolika ?] außerhalb des Wettkampfes durchgeführt werden. Er hat auch viele kleine Schritte initiiert, nämlichmehr Wettbewerbe in die Kontrolle einzubeziehen. Auf der anderen Seite steht ein Beschluß, daß demnächst bei nationalen Wettkämpfen ein internationaler Delegierter Dopingproben ziehen kann. Das Problem ist also auf den Weg gebracht, aber noch weit von einer Lösung entfernt.
Die Notwendigkeit von Dopingproben au8erhalb des Wettkampfs ergibt sich einfach aus der Pharmakogenetik der anabolen Steroide. Ich habe schon 1974 bei einer Tagung gesagt, daß man die Wettkampfregeln nicht entgegen den biologischen Gesetzmäßigkeiten aufstellen kann. Eine Dopingprobe nach dem Wettkampf ist dann unsinnig, wenn im Training Dopingmittel verwendet werden. Das sollte plausibel und logisch sein.
…
Vielleicht noch etwas zur Wirkung der Dopingmittel, um hier die Luft aus der Diskussion zu nehmen: Die Medizinische Kommission des lOC erklärte laut und deutlich und wiederholt, daß der Hauptgrund der Aufführung von gewissen Substanzgruppen als Dopingmittel der Schutz der Gesundheit der Athleten ist, nicht die eventuelle Leistungssteigerung, die erzielt werden kann.
…
Wenn wir die Frage der Wirksamkeit von Anabolika diskutieren wollten, müßte ich Sie zu einer 14tägigen Vorlesung einladen, denn dieser Aspekt ist sehr verwickelt, sehr komplex. Das ist in weiten Bereichen heute ein strittigerPunkt.“
„Ich habe als ehemaliger Berufssportler und als Biochemiker die größten Schwierigkeiten, medikamentöse Maßnahmen, die heute an Spitzensportlern durchgeführt werden, nachzuvollziehen. Ich könnte eine ganze Reihe von Beispielen nennen, wo eine pharmakologische Behandlung an den schlichten Gesetzmäßigkeiten der Biochemie, der Zelle, des Zellaufbaus, vorbeigeht. Einer dieser Maßnahmen war die sogenannte Kolbe-Spritze 1976. Dort wurden von einem Enzymkomplex, der auf fünf Co-Faktoren angewiesen ist, zwei gespritzt, und dann wurde behauptet, man rudere schneller und man laufe schneller. Ich frage mich als Biochemiker, worin der Sinn einer gezielten Desinformation besteht, der doch nur darin liegen kann, eine medikamentöse Maßnahme zu propagieren. Ich sehe keinen Sinn darin, Substitution zu treiben, wo nichts zu substituieren ist. Denn wenn jemand substituiert, dann muß er erst einmal das Defizit feststellen. Und von Analytik und von der Feststellung von Normbereichen verstehe ich etwas, und das haben wir nachgewiesen. In weiten Bereichen wird von Substitution gesprochen, wo keine Substitution erforderlich ist. Das zum Problem der Substitution auch mit anabolen Hormonen. … Ich kann nicht postulieren, daß ich dieses oder jene Medikament gebe, wenn ich nicht weiß, wie es in der Zelle auf molekularbiologische Weise wirkt, wo der Ansatzpunkt ist.“ [S. 6/160,161)
Heinz Liesen (S. 6/125 ff):
„Ich will auch noch zu der Problematik, zu der ich direkt gefragt wurde – Substitution und Doping -, etwas sagen, auch gerade bezüglich der Anabolika. Die Anabolika sind Hormone, die in der Öffentlichkeit und sicher auch für die meisten von Ihnen einen sehr negativen Beigeschmack haben. Sie sollten nur alle sehr glücklich sein, daß Sie sie selbst in erheblichen Mengen produzieren, denn ohne sie könnten Sie wahrscheinlich gar nicht leben. Das sind lebensnotwendige und wichtige Hormone. Wir brauchen sie in der Entwicklung, auch die Jugendlichen in ihrer Entwicklung, und wir brauchen sie im Sport zur Regeneration. Um eine erhöhte sportliche Leistung überhaupt aufbauen zu können, muß ein Athlet so trainiert werden, daß er die Fähigkeit besitzt, mehr anabole Hormone zu prodUZieren. Da fängt das große Problem schon an, daß vielfach im Training – und darin sehe ich die Hauptprobleme – aus sportmedizinischer Sicht erhebliche Fehler gemacht werden. Das können eigentlich nur Leute beurteilen – das habe ich auch in meinen Thesen geschrieben -, die sich wirklich mit Hochleistungssport auseinandersetzen und die sich die Mühe machen, den Patienten nicht nur über die Analyse im Labor und als einen klinischen Patienten, krank im Bett, oder als ambulanten Patienten zu beobachten, sondern wirklich in den Hochleistungssport gehen.“
Heidi Schüller (S. 6/139 ff):
„Wir haben es doch wohl – und das wollen wir nicht vergessen grundsätzlich mit gesunden Leuten zu tun. Es sind kerngesunde Leute auf dem Zenit ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit, um die es sich doch hier primär handelt, die freiwillig und aus freien Stücken diesen Leistungssport begonnen haben, den ich nicht verteufle, wie mir gelegentlich unterstellt wird, den ich selber sehr gerne, in Grenzen und in Maßen, betrieben habe. Wenn dann Konstellationen auftreten, daß diese Leistungssportler sich aufgrund einseitiger Belastung und extremer Belastung und zunehmend größer werdender Belastung verletzen, dann sollte einem das ein Signal sein und nicht etwas, was man zwangsläufig kaschieren muß, um weiter fortzufahren in dieser Maximierung. Ich denke, daß das ein kurzes Innehalten wert sein sollte, daß hier offensichtlich eine Leistungsgrenze überschritten worden ist.“
Josef Keul (S. 6/134 ff):
„Ich bin eigentlich über die gesamte Dopingdiskussion etwas unglücklich. Wir haben eine ganz geringe Zahl – das weisen auch die Statistiken aus -, wo es zu positiven Dopingfällen kommt, die dann weltweit immer sehr gut verbreitet werden. über der Problematik einzelner Dopingfälle vergessen wir etwas ganz Entscheidendes, nämlich eine besser und stetig ausgebaute ärztliche Versorgung unserer Spitzensportler. Daran tut es not, und darum müssen wir uns mehr kümmern. Wir sollten dem Dopingproblem seinen Platz geben, wir sollten froh sein, daß wir in Deutschland eine so gute Dopinganalytik haben, sicherlich die beste der Welt, bei uns werden auch die meisten Bestimmungen durchgeführt. Wir sind in diesem bereich abgedeckt, aber da wo es bei uns not tut, und was manchmal hinter der gesamten Dopinganalytik zurücksteht, ist der bessere Ausbau der sportärztlichen Versorgung unserer Spitzenathleten. Der Hochleistungssport ist eben nur begleitend möglich, wenn Ärzte dafür sorgen, daß es nicht zu irgendwelchen überlastungsschäden oder zu Fehlhandlungen oder aber zu Trainingsformen kommt, die für den Organismus ungesund oder für seine Leistungsentwicklung nicht günstig sind.“
Emil Beck:
1. So mancher Verdacht auf gedopte Gegner ist ein Alibi für eigene Schwächen.
2. Ein gut vorbereiteter Sportler fürchtet keinen Gegner, und schon gar nicht einen gedopten; wir beweisen es.
3. Die Ausschöpfung aller erlaubten Möglichkeiten der Substitution ist bei hochtrainierten Sportlern nicht nur zu dulden, sondern im Interesse ihrer Gesundheit zu fordern.
Hier möchte ich Herrn Liesen beistehen, denn ich kann mir nicht vorstellen, daß Fechter, deren hoher Schweißverlust nicht durch Elektrolyten ausgeglichen werden kann, keinen gesundheitlichen Verlust und vielleicht auch keine Spätschäden zu befürchten hätten. Deshalb darf ich ganz besonders darum bitten, daß Herr Liesen, soweit es dieses Gebiet betrifft, sehr darum kämpft. (S. 6/53)
Zitate aus der eingereichten schriftlichen Stellungnahme:
„b) Wie bewerten Sie Entwicklungen iminternationalen Spitzensport‘ durch medizinische Beeinfiussungen die individuellen Leistungsgrenzen hinauszuschieben?
– Jede Entwicklung mit einer solchen Tendenz ist abzulehnen- ln den meisten Sportarten spielt medizinisch-pharmakologische Beeinflussung keine oder keine entscheidende Rolle. Es ist zu vermuten, daß die Manipulationsunterstellung bei anderen oft auch als Alibi für mangelnde eigene Leistungen mi8braucht wird.
– Regelungen gegen den Anabolika-Mißbrauch in Maximalkraftsportarten haben nur Sinn, wenn sie durch einen Globalcharakter Chancengleichheit herstellen.
c) Wie sind die dadurch entstehenden Wettbewerbsverzerrungen und möglichen gesundheitlichen Gefährdungen zu beurteilen?
– Die Kontrolle der unter bestimmten Umständen sehr gefährlichen Autputschmittel ist im GriIf.
– Die Anwendung von Beruhigungsmilteln ist keine Frage der Gesundheitsgefährdung, sondern der Chancengleichheit.
– Die Anwendung von Testosteron oder Anabolikapräparaten ist bei erwachsenen Männern vorrangig eine Frage der Chancengleichheit, bei Jugendlichen und Frauen ist sie ernsthaft persönlichkeitsverändernd zu beurteilen.
– Differenziertere Beurteilungen müssen den Medizinern überlassen bleiben.“