Doping BRD: Olympische Spiele in Montreal 1976

976 Olympische Spiele Montreal:
die Kolbe-Spritze, das Aufblasen von Därmen und mehr

Positive Kontrollen Montreal 1976:
Stimulanzien: 3 Fälle (Schießen, Gewichtheben, Segeln)

anabole Steroide:
3 Fälle während der Spiele (1 x Diskus Frauen, 2 x Gewichtheben) 5 Fälle einen Monat später (alle Gewichtheben)

Dr. Hans Evers, Vorsitzender des Sportsauschusses des Deutschen Bundestages, meinte u.a. während der Sachverständigenanhörung am 28.9.1977:

„Meine Damen und Herren., was den Insidern im Bereich des Leistungssports, vor allen Dingen den Aktiven, Trainern, den Medizinern und den Pharmakologen, schon lange bekannt war, wurde während und nach den Olympischen Spielen in Montreal im vergangenen Jahr und den spektakulären Vorgängen dort zu einem allgemeinen Thema. Nach diesen Vorfällen in Kanada beherrschten Argumentationskomplexe wie Chancengleichheit und Humanisierung des Leistungssports die Diskussionen ebenso wie die Schlagworte Manipulationen des Menschen oder am Menschen und Raubbau mit der körperlichen Leistungsfähigkeit; Fremdworte wie anabole Steroide, Pharmaka und technische Manipulationen fanden Eingang in die öffentliche Diskussion.“ (Protokoll der Anhörung, S. 6/8)

Die Bundesregierung hatte jedoch bereits vor dieser Anhörung auf Fragen von Abgeordneten im Rahmen einer Fragestunde zu dem Montreal/Doping-Komplex Stellung bezogen:
>>> Dt. Bundestag, Fragestunde, 17.3.1977

Siehe zu der Diskussion rund um die Kolbe-Spritze und die Diskussion um Doping im westdeutschen Sport in den 1970er Jahren auch
Meiers et al, 2012: Nebenwirkungen leistungssteigernder Experimente: Die „Kolbe-Spritze“, Teilergebnis der Studie ‚Doping in Deutschland….‘.

die Kolbe-Spritze

Mannschaftsarzt Prof. Josef Nöcker:
„Kein Athlet geht heute ohne Vitamingabe an dern Start; wir sind verpflichtet, unseren Sportlern anzubieten, was andere auch bekommen.“

„Vitamine als essentielle Bestandteile einer physiologischen Ernährung seien nicht schädlich, sondern dienten vielmehr der Gesunderhaltung. Viel eher, so Keul, verletze ein Arzt seine Pflicht womöglich dann, wenn er einem Athleten das Mittel verweigere, das dieser braucht, um seine volle Leistung zu bringen.“
(Selecta, 27.9.1976)

sid, 9.9.1972:
Die Spritze … war absolut nicht ungewöhnlich. Jede Spritze sei zu statistischen Zwecken der medizinischen Kommission des IOC gemeldet worden. Nöcker: „Allein daran kann man ersehen, dass es sich um keinen außergewöhnlichen Vorgang handelte, ich bin seit 1956 Olympiaarzt und seitdem wurde immer gespritzt.“

Ruderer Peter-Michael Kolbe bekam von Ruderverbandsarzt Dr. Rolf-Dieter Krause mit Empfehlung von Joseph Keul eine ‚Vitaminspritze‘, eine Kombination von Berolase und Thioctacid, die nicht verboten war, um das «Stoffwechselgeschehen zu erweitern».

„Doch Kolbe, der vorübergehend in Führung gelegen hatte, büsste für das überzogene Anfangstempo und erlitt im Duell gegen den Finnen Pertti Karppinen gerade im Endspurt eine Schwächephase. «Wie ein Taschenmesser», so beschrieb es ein zeitgenössischer Chronist, «ist Peter-Michael Kolbe in Montreal in der Schlussphase zusammengeklappt.»“ (siehe auch der Spiegel, 2.8.1976: Noch diesseits)

Auch andere Sportler wurden mit demselben Spritzeninhalt, teils auch von Joseph Keul, behandelt, so Schwimmer Peter Nocke, die Bahnradfahrer und die Achter-Ruderer. Niemand außer Kolbe hatte damit Probleme. (Selecta, 27.9.1976)

Sportmediziner Professor Dr. Paul Nowacki, Arzt von Kolbe, kritisierte die Anwendung als „sportmedizinischen Kunstfehler“. Kolbe sei gegen Spritzen sehr empfindlich gewesen.

„Deswegen habe er ihm bei Untersuchungen nur einmal im Jahr Blut entnehmen können. Die Spritze vor dem Start habe bei Kolbe „zumindestens ein psychisch bedingtes Fehlverhalten im Wettkampf“ zur Folge gehabt. Kolbe sei deshalb im Finale von Montreal „gegen seine biologischen Möglichkeiten gefahren“, er habe sein Tempo und seine Herzschlag-Frequenzen überzogen. Der Zusammenbruch kurz vor Ende des Rennens sei damit zwangsläufig programmiert gewesen.“

Die natürliche Betreuung sei durch die Sportmedizin noch lange nicht ausgeschöpft, doch medizinisch werde manipuliert. Nowacki:

„Bundesdeutsche Athleten und Mediziner dürfen dem DDR-Sport seine medizischen Manipulationen bei fast allen Sportarten in Zukunft wohl nicht mehr vorwerfen“. (HA, 14.08.1976)

Auch Manfred Steinbach, Präsidiumsmitglied des DSV äußerte sich entsetzt. Er sprach von einer ‚ungemein verhängnisvollen Entwicklung‘ und verwies wie Nowacki auf die DDR, die schon in frühester Jugend nachweislich schädliche anabole Hormone an Sportler verabreiche.

„Wenn es stimmt, daß die Vitaminspritze im internationelen Sport bereits so alltäglich ist, wie das Einwachsen von Skibrettern, dann hat die Medizin die Athleten in eine Sackgasse hineinmanövriert, aus der es nur noch schwer einen Ausweg gibt.“ (Schwäbische Zeitung Leutkirch, 21.8.1976)

Prof. Joseph Keul meinte dagegen,

„es wäre doch geradezu unmenschlich, einem Sportler nach jahrelangem Training (täglich sechs Stunden) im entscheidenden Augenblick die Hilfe zu verweigern und damit seine Niederlage gegen die hormongeladene Ost-Konkurrenz vorweg zu besiegeln.“ (die Welt, 26.8.1976)

Allerdings scheint Keul zum Zeitpunkt der Anwendung der Spritze experimentiert zu haben, denn angeblich wusste er nicht genau, was er da empfahl. Er meinte zwar,

„die Spritze, die Kolbe bekommen hat, führte sicher nicht zu seiner Niederlage.“ Er sagte aber auch weiter: „Wir in Freiburg wußten bis vor kurzem nichts von dem Mittel.“ … „Wir werden auf jeden Fall das Präparat nach Montreal in Freiburg gründlich untersuchen. Wir haben ja dafür alle Möglichkeiten.“ (Bad. Zeitung Freiburg, 28.7.1976)

1992 klagte Keul vor dem Berufsgericht der Ärztekammer Südbaden in Freiburg gegen Klümper, der u.a. behauptet hatte, Keul hätte 1975 Schwimmern und Ruderern sehr schmerzhafte intravenöse Spritzen zur Leistungssteigerung gesetzt. Das Gericht konnte einige Vorwürfe nicht erhärten, doch es stellte fest, dass Keul zu Recht vorgeworfen werden dürfe, er habe 1976 in Montreal Sportlern leistungssteigernde Spritzen verabreicht. (SZ, 19./20.9.1992)

HANG  ZUM SPRITZEN

Zitat:

„Legt man die von Professor Paul Nowacki, dem ehemaligen Arzt der Ruder-Nationalmannschaft, beim Doping-Hearing des Sportausschusses des Deutschen Bundestages in Bonn vorgetragene Zahlenangabe als Basis für die zur Zeit geübte Praxis zu Grunde, so erscheint das Verhältnis zwischen Medizin/ Pharmakologie und Spitzensport in einem seltsamen Licht: Insgesamt 1500 Spritzen seien während der olympischen Tage von Montreal bei den deutschen Sportlern injiziert worden— bei einer Manschaftsstärke von etwas mehr als 300 Aktiven also fast fünf Spritzen für jeden. Leistungsschübe per Kanüle oder: Was andere können, können wir auch.“ (die Zeit, 4.11.1977, )

Prof. Nowaki hatte sich in der Anhörung verwundert über diese Spritzenaktion geäußert und eine aus dem Osten gesteuerte Aktion gegen den Westsport vermutet. Es musste sich aber >>> Dr. Alois Mader als Verantwortlicher der Spritzenaktion outen:

„Diese Maßnahme habe ich damals vorgeschlagen unter dem Aspekt“ daß sie nicht gegen die bestehenden Dopingregeln verstößt und daß nach menschlichem Ermessen und nach den vorliegenden Unterlagen keine unerwünschten Nebenwirkungen zu befürchten sind. Wenn man heute sagt, daß diese Substanz Nebenwirkungen hat, dann bezieht sich das auf das gespritzte B 1, nicht auf Cocarboxylase.“ (Protokoll, S. 6/144ff)

Das Spritzen begann schon früh. Brigitte Berendonk schreibt in ihrem Buch ‚Doping‘, 1992, S. 44:

„So berichtete Ilse Bechthold, Vizepräsidentin des DLV, in einem Verbandsgerichtsverfahren (Schreiben vom 10.5.1977), wie sie und Sportwart Otto Klappert mit vereinten Kräften den Dr. Mader, der mit Spritzen voller „unterstützender Mittel“ auf dem Einlaufplatz den Damen nachstellte, zurückhalten mußten: „Anläßlich des Junioren Länderkampfes gegen die USA am 7./8.7.1976 in Lüdenscheid fanden auch Vorbereitungswettkämpfe in einigen Disziplinen auf die Spiele in Montreal statt, so auch 400-m-Läufe für Frauen. Auf dem Einlaufplatz wurde ich von Gerd Osenberg, Trainer (TuS 04 Leverkusen), darüber unterrichtet, daß Athletinnen mit ‚leistungsfördernder‘ Spritze versehen werden sollten. – Der DLV-Sportwart… und ich haben sofort die notwendigen Schritte eingeleitet, diese Maßnahme zu stoppen.“ Klappert betonte dazu noch in einer Erklärung vom 11.5.1977: „Ich sprach Dr. Mader darauf an und untersagte ihm vor Zeugen, Athleten des DLV diese Injektionen weiter zu verabreichen.“

Dr. Mader hatte die Anwendung der Mittel Berolase und Thioctacid offenbar in der DDR kennengelernt, wenn auch dort selbst nie praktiziert. Darauf weisen die Forscher der Humboldt-Universität in ihrer Teil-Vorabzusammenfassung des Forschungsberichtes >>> Doping in Deutschland von 1972 bis 1989 hin. Darin heißt es weiter:

„In der Bundesrepublik Deutschland hat Mader das Medikament in die nichtöffentliche bundesdeutsche Diskussion eingeführt, an der Vergabe mitgewirkt und die Anwendung danach vor dem Bundestagssportausschuss sowie in internen Schreiben zu rechtfertigen versucht. Es besteht ein systemischer Hintergrund für die Entwicklung, Finanzierung und Anwendung dieser Form von Medikamentenmissbrauch besteht. Der Zahl von insgesamt 1.200 Spritzen mit Berolase und Thioctacid, über die in der Presse berichtet wurde, wird zwei Jahre später in einem internen Brief Herbert Reindells an Kirsch genannt. Das Bundesinstitut finanzierte die Versuche Maders 1975 und 1976, was sich auch in den Substanzen eines Antrages Hollmanns von 1976 spiegelt, in dem Nifedipin, Fendilin-HCL, Oxyefedrin, Co-Carboxylase sowie eben Thioctacid aufgeführt waren. Der vorhergehende Satz in Hollmanns Antrag lautete nach derselben Quelle aus dem BISp, die 1991 verschriftet wurde: „Aus Gründen der Geheimhaltung können an dieser Stelle nicht alle untersuchten chemischen Körper aufgeführt werden.“

In der Bundesrepublik wurde die Spritze vor Montreal in drei Sportarten getestet: Schwimmen Leichtathletik und Bahnradfahren. Wie groß der Druck vor Ort war, zeigen die Erinnerungen eines Arztes *, der sich an Handgreiflichkeiten erinnerte, als er sich weigerte, den DLV-Leichtathleten diese Spritzen zu setzen. Wie wichtig die Spritze genommen wurde, zeigt das Ergebnis der Recherchen von Erik Eggers:

Erhofft wurde eine Leistungssteigerung vom einem Prozent (was über Medaille oder Platzierung entscheiden konnte). Schon hier zeigt sich, wie problematisch die Berolase- und Thioctacid-Spritze gewesen ist, obwohl sie von den Substanzen her auch aus IOC-Perspektive seinerzeit nicht unter die Doping-Regularien fiel, wenn auch aus der „intentionalen Perspektive“ (Spitzer 2010) Dopinghandeln erkannt werden kann, wie es das Standesgericht 1992 tat, nicht etwa ein Sportgericht.!

* Der Arzt war wohl Dr. Heinz Liesen.

In einem Interview mit dem Spiegel ist zu lesen:

SPIEGEL: Wann merkten Sie, welch große Rolle die Rivalität zur DDR spielte?
Liesen: Das war während meiner ersten Olympischen Spiele, 1976 in Montreal. Damals verwendeten wir eine Spritze, eine Kombination aus Berolase und Thioctacid, die vorher in Köln getestet worden war. Die Präparate standen zwar nicht auf der Dopingliste, sie zu verabreichen war allerdings für die Gesundheit nicht ganz unproblematisch. Der Ruder-Vierer holte damit überraschend Bronze.

SPIEGEL: Und das sprach sich herum?
Liesen: Eines Morgens traf ich August Kirsch, den Präsidenten des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, im olympischen Dorf. Er packte mich und sagte: „Toll, wie das funktioniert. Das brauchen wir auch.“ Ich erwiderte, das sei nicht zu verantworten, ohne vorher die Reaktion der Athleten zu untersuchen. Da schrie Kirsch mich an, ich wolle dem westdeutschen Sport Medaillen verwehren. Dann hat er mir links und rechts eine geknallt. Ich stand da wie ein dummer Junge.

SPIEGEL: Ein Schlüsselerlebnis?
Liesen: Sicherlich. Einerseits wusste ich ja, dass Kirsch mit meinem Chef in Köln, Wildor Hollmann, Tennis spielt und Einfluss hat. Auf der anderen Seite hat es mein Bewusstsein geschärft, was man als Sportmediziner mitmachen darf – und was eben nicht. (der Spiegel, 31.10.2011)

das Aufblasen des Dickdarms

Probleme hatten aber auch andere:
Olympiaarzt Prof. Klümper: US-Olympiasieger im Diskus „MacWilkins selbst flüchtete aus Montreal in unser Trainingslager nach Trois Riviers, weil er Angst hatte, daß er in einer Voruntersuchung eventuell der Einnahme von Dopingmitteln überführt werden könnte.“ (Berendonk, 1978) (McWilkins wurde zu der Zeit von Christian Gehrmann trainiert)

„Die Zauberlehrlinge des Sports werden die Geister, die sie riefen, ohnehin nicht mehr los: „Ich mag nicht verlieren“, schimpfte Dr. Irving Dardik, Mitglied des US-Ärzteteams in Montreal. „Unsere Athleten mögen es auch nicht.“ Zwei Wochen nach der olympischen Niederlage gründeten die USA eine sportärztliche Kommission, die „alle Tabu-Zonen ausleuchten“ soll.“
„Ich lehne die Ansicht ab, daß wir für den Erfolg nicht soweit gehen dürfen“, sagte Dardik. „Das klingt mir zu sehr nach sauren Trauben.“
(der Spiegel, 30.8.1976)

Leichtathletik, 16.11.2011:
„[Margot] Eppinger war 1973 und 1975 Deutsche Mehrkampfmeisterin und 1972 in München und vier Jahre später in Montreal zweimalige Olympiateilnehmerin im Fünfkampf. … „Bei den Spielen in München sprach man noch über einzelne Athleten, in Montreal ist die Sache dann so richtig losgetreten worden“, sagt die inzwischen 59 Jahre alte Lehrerin. … „1976 in Montreal hat sich der Sport grundlegend verändert“ … „Als wir ins Athletendorf eingezogen sind, lagen im Badezimmer die Rasierer“, erinnert sie sich. Sportlerinnen mussten sich rasieren und fielen durch ihre tiefen Stimmen auf. Frustrierend sei dies gewesen. Eppinger-Bayer betont, dass sie selbst klare Indizien hatte, dass die Dopingproblematik kein Ostproblem war. Schon im Trainingslager in Malaga vor den Spielen in Kanada vernahm sie Gerüchte von Doping im eigenen Lager.“

Zeitgeist:
1974 Bundesinnenminister Werner Maihofer vor dem Sportausschuss des Dt. Bundestages:
„Als der Leiter der Ständigen Vertretung der Deutschen Demokratischen Republik, [Michael] Kohl, bei mir zu seinem Antrittsbesuch war, habe ich ihm herzlichst gedankt für den Aufschwung der Körperkultur in der DDR, denn der habe uns so erst richtig den Stachel ins Fleisch gedrückt und angespornt, nun auch selbst in unserem politischen System das Äußerste zu tun, um auf unsere ganz andere Weise unsererseits den Spitzensport zu fördern. Ich habe ihm allerdings verhießen, daß wir der DDR das nächste mal zeigen werden, was wir vermögen. Dieses Ziel würde ich gerne gemeinsam mit Ihnen erreichen.“
(zitiert nach Henk Erik Meier et al., 2012)

Vorgesehen war diese Methode für Montreal 1976. Das Aufblasen des Dickdarms sollte die Wasserlage von Schwimmern verbessern. Bronzemedaillengewinner Peter Nocke:

„Ich geb’s ja zu, ich habe das auch probiert, aber profitiert habe ich in puncto Leistung nichts. Außerdem war mir die ganze Sache unangenehm. Ich habe mir meine Bronzemedaille ehrlich erkämpft – ohne Luft im Po.“ Die Funktionäre übten heftige Kritik daran, dass die Versuche öffentlich diskutiert wurden. ((1), S. 162)

Da diese Methode nach Begutachtung von Dr. Manfred Donike nicht als Doping eingestuft wurde und Prof. Dr. J. Keul, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des DSB, sie als nicht gesundheitsschädlich bewertet hatte, wollte das Bundesinnenministerium diese Methode finanziell unterstützen.

Andreas Singler:

Die Bundesregierung war damals sogar bereit, bis zu 250 000 D-Mark in eine durch diese Methode erhoffte verbesserte Wasserlage der Schwimmer zu investieren. Doch als die Probanden den Weg vom Trainingslager zu den Wettkampfstätten zurückgelegt hatten, war ihnen bereits buchstäblich die Luft ausgegangen. (Hamburger Abendblatt, 14.08.1976)

Der Spiegel nennt einen weiteren Grund für das Scheitern der Methode: es hätten die Räumlichkeiten für das diskrete Aufblasen gefehlt (der Spiegel, 4.4.1977).

Anabolikaanwendung

Herbert Kunze, Präsident des Deutschen Eissportverbandes, stellte auf der 17. Hauptausschusssitzung des DSB in Baden-Baden einen Antrag auf Entfernung aller jener „Mediziner, Funktionäre, Betreuer und Leistungsorganisatoren aus dem Sport, die im Vorfeld von Montreal und bei den Spielen selbst medizinisch-pharmakologisch gedopt oder am Athleten manipuliert haben.“
Der Antrag wurde angeblich abgeblockt, weil zu viele betroffen gewesen wären.
(die Rheinpfalz, 13.6.1977)

Nach den Vorkommnissen während der Olympischen Spiele kam es zu einer heftigen öffentlichen Debatte, in der vor allem die Haltung deutscher Sportmediziner zu Anabolika in der Kritik stand. Wobei der Begriff ‚öffentlich‘ nicht mit der heutigen Medienöffentlichkeit gleichgesetzt werden kann. Laut Analysen der Münsteraner Forscher zur Dopingvergangenheit Deutschlands, gab es zwar einige Beiträge und Diskussionen in Zeitungen und Magazinen, aber bezogen auf die Gesamtheit der Medien blieb diese Dopingdiskussion eher klein und verhalten. Daher bleibt offen, inwieweit die Bevölkerung an dieser Thematik Anteil nahm. (Die Rezeptionsgeschichte des Dopings in Deutschland von 1950 bis 2009)

Anabolika waren in dieser Zeit zu einem begehrten Dopingmittel aufgestiegen und vielfältig eingesetzt worden. Selbst westdeutsche Sportlerinnen, die bislang von den Anabolikavorwürfen weitgehend verschont geblieben waren, hatten ihren Anabolika-Dopingfall und dann auch noch im Sprint. Die 4x100m-Staffel-Silbermedaillengewinnerin >>> Annegret Kroniger legte ein Geständnis ab. Die anderen Läuferinnen, insbesondere Annegret Richter, Goldmedaillengewinnerin, widersprachen heftig. Weitere Insider gaben jedoch eher Kroninger recht. Hohe Funktionäre und Trainer hätten Bescheid gewusst. Auch Prof. Keul gab an, dass Frauen des DLV vor den Spielen in Montreal Anabolika von ihren Trainern bekommen hätten (stern, ?/1977). Vor der Grupe-Kommission 1977 erläuterte Ingrid Mickler-Becker, dass das NOK sich vor Montreal ‚eindeutig auf Doping und Anabolika festgelegt‘ hätten. Sportler, die sich daran gehalten hätten, wären bei der Nominierung bevorzugt worden (Digel, 2013).

Der Präsident des Deutschen Gewichtheberverbandes

„Wolfgang Peter bezeichnete die Aufnahme von Anabolika (in die Verbotsliste) als ‚Willkürakt des Internationalen Olympischen Komitees‘. Seiner Meinung nach habe bisher kein Mediziner den Nachweis erbracht, daß dieses Kraftmittel schädlich sei. Professor Josef Keul, der die bundesdeutschen Heber in Montreal betreute, sagt: „Bei richtiger Dosierung kann überhaupt nichts passieren.“ Die deutschen Athleten haben bis vier Wochen vor den Wettkämpfen in Montreal die Kraftpille geschluckt.“ (Köllner Stadtanzeiger, 18.8.1976)

Die Anabolika waren seit 1974 vom IOC verboten. In Montreal war es zu ersten Tests gekommen.

In Folge verabschiedeten der DSB und das NOK 1977 eine

>>> Grundsatzerklärung für den Spitzensport.

„“im März 1987 zog ihn [Kinzel] der Frauen-Cheftrainer Wolfgang Thiele auf der Terrasse am Swimming-pool des Touringclub Acoataeias ins Vertrauen: „Was macht ihr denn in Hamm?“ Bei einem doppelten Espresso und portugiesischem Brandy erzählte Kinzel („Ich fand es toll, den großen Thiele mit Du anreden zu dürfen“) bereitwillig, zumal er längst gemerkt hatte, daß unter Kollegen offen über die Dopingpraxis gesprochen wurde.“
>>> das Hammer-Modell

Vor dem Sportausschuss des Deutschen Bundestages im September 1977 gab Sprinter Manfred Ommer, der Anabolikadoping zugegeben hatte, weitere Informationen zu Protokoll:

„Dieses wollte ich eigentlich heute nicht anbringen, da mich aber Professor Dr. Kirsch etwas herausgefordert hat, möchte ich es heute schon sagen, daß Herr Thiele, der Trainer des Deutschen Leichtathletikverbandes mit den Sprinterinnen – und hier haben wir ein besonderes Kapitel der Anabolika-Szene, nämlich Anabolika für Frauen – also mit den Sprinterinnen in Berlin Trainingslehrgänge abgehalten hat, wozu er einen Herrn Dr. Maidorn hinzugezogen hat, der Vorträge über Anabolika gehalten hat, Anabolika in Form von Spritzen an die Mitglieder der Silbermedaille-Staffel von Montreal verabreicht hat; und ein Mitglied dieser Staffel hat diese Aussage gemacht und ist auch bereit, diese per Eid zu wiederholen. Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Komik, daß Herr Thiele in der Zwischenzeit das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen hat; aber das sei nur am Rande erwähnt.“ (Protokoll S. 6/119f, Singler/Treutlein, S. 201)

Ludwig Dotzert, 7.5.1977: Ein Geruch von Apotheke

Am 7. Mai 1977 erscheint in der Frankfurter Rundschau ein Artikel von Ludwig Dotzert, in dem er die Manipulationen zu den und während der Olympischen Spiele in Montreal als Zusammenspiel (fast) aller Sportverantwortlichen schildert.

Der komplette Artikel:

>>> Ein Geruch von Apotheke. Der permanente Anabolika-Skandal im Sport

Versuche aus den 1980er Jahren:
Kalorien via Katheder
„Hochleistungsgewichtheber, die im Training etwa 110 Tonnen täglich zur Hochstrecke bringen, benötigen dafür rund 11 000 Kalorien pro Tag. Wie aus der Physiologie und Arbeitsmedizin hinlänglich bekannt ist, kann diese Menge auf natürlichem Wege über den MagenDarm-Trakt nicht gedeckt werden. Der Ausweg aus diesem sportmedizinischen Dilemma ist die hochkalorische parenterale Ernährung. Während der Athlet schläft, wird ihm der extrem hohe Kalorienbedarf über einen Dünndarmkatheter eingeflößt, so daß er morgens „satt“ und „leistungsbereit “ erwacht. Dopinggegner Professor Wildor Hollmann von der Deutschen Sporthochschule in Köln, der als Realist und Forscher die Szene verfolgt, berichtete unlängst über die Methodik.“
(Der Kassenarzt 36 1988)

Zitate:

Biochemische Trickkiste

Trainingslager entarten … zu Intensivstationen für Gesunde; Startvorbereitungen ohne den Griff in die biochemische Trickkiste gelten als dilettantisch; Trainer ohne pharmazeutische Spezialkenntnisse haben kaum noch eine Chance, als Erfolgstrainer zu reüssieren. Der olympische Hain riecht nach Apotheke.  …

Wie weit der olympische Sittenverfall fortgeschritten ist, läßt sich besonders anschaulich an der Aktion „Luftklistier“ demonstrieren, die der Öffentlichkeit erst Monate danach bekannt wurde. Solange hielt die Schweigemauer, die um die aufgeblasenen Mastdärme der Olympiaschwimmer errichtet worden war.

Inzwischen liegt eine „Dienstliche Erklärung“ des Leitenden Direktors im Bundesausschuß für Leistungssport (Ba-L) vor, aus der zu entnehmen ist, daß hier keineswegs nur ein paar spinnerte Einzelgänger am Werk waren, sondern Dutzende von hohen und höchsten Funktionären unbekümmert mitzogen, als es darum ging, der Konkurrenz auf hinterlistige Weise in letzter Minute ein Schnippchen zu schlagen. Erst im April 1976, also wenige Wochen vor Beginn der Spiele in Montreal, wurden nach der Darstellung des Ba-L-Direktors Helmut Meyer konkretere Hinweise auf ein Mittel an die zuständigen Stellen herangetragen, das Leistungssteigerungen von einem Prozent und mehr garantiere.

Für die Preisgabe seines Wissens verlangte‘ der Unterhändler die runde Summe von einer Million Mark. Schon dieser Betrag und die Kürze der Frist, in der sich der Fortschritt vollziehen sollte, hätte dem Fachmann sagen müssen, daß hier etwas faul ist. Der dreiste Geschäftemacher bekam jedoch nicht etwa die Tür gewiesen, sondern wurde zu weiteren Verhandlungen eingeladen, die am 16. Juni 1976, also genau vier Wochen vor Beginn der Wettkämpfe von Montreal, zu einem „erfolgsorientierten Vertrag“ auf Prämienbasis führten. Letztes Wort: 150 000 Mark bei einprozentiger, 250000 Mark bei zweiprozentiger Leistungssteigerung.

Am 25. Juni ließen die Hexenmeister dann endlich die Hosen herunter: Das Geheimnis der „Luftdusche“ ging zwecks alsbaldiger Versuche am Mann in den Besitz der bundesdeutschen Medaillenplaner über. Entsprechende Tests fanden im kanadischen Trainingslager statt, verliefen „positiv“. Die Luft im Mastdarm wurde erst vor Ort, also bei den Vorkämpfen in Montreal abgelassen, „nicht zuletzt wegen mangelnder technischer Voraussetzungen“ eine euphemistische Umschreibung dafür, daß sich in der Montrealer Schwimmhalle keine Räumlichkeit fand, wo sich die peinliche Prozedur unbeobachtet erledigen ließ.  …

In der „Dienstlichen Erklärung“ des Leitenden Ba-L-Direktors werden unter anderem namentlich erwähnt (in der Reihenfolge ihres Auftretens): Der Aktivensprecher des Deutschen Verbandes für Modernen Fünfkampf, Heiner Thade, Mitglied des Beirats der Aktiven im Ba-L: Von ihm stammte die erste Ankündigung des „Wundermittels“.

Handball-Nationalspieler Hans-Jürgen Bode, bis Dezember 1975 Vorsitzender des Beirats der Aktiven und Vorstandsmitglied des Ba-L, der ohnehin verpflichtet ist, Leistungen zu fördern: Er verlangte die Million und verlieh dieser Forderung dadurch Nachdruck, daß er im Falle der Ablehnung das Mittel an andere Nationen verkaufen wolle.

Ba-L-Direktor Meyer selbst sowie seine engsten Mitarbeiter: Sie entschlossen sich zur Weiterbehandlung der Angelegenheit, „da uns gerüchteweise bekannt war, daß im internationalen Rahmen im Schwimmen für Montreal verschiedene Möglichkeiten und Methoden zur Leistungssteigerung erprobt und überprüft würden“.

Der stellvertretende Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats, Professor Dr. Josef Keul; er erklärte das Mittel für nicht gesundheitsschädlich.

Dr. Manfred Donike, Doping-Experte am Institut für Leibesübungen in Münster/Westfalen: Er bestätigte, daß das Mittel beziehungsweise seine Anwendung nicht gegen die Doping-Vorschriften verstößt.

Ministerialrat Detlev Flotho vom Bundesinnenministerium: Er versprach für „den genannten Zweck“ 250 000 Mark aus Bundesmitteln bereitzustellen, die umständehalber dann allerdings nicht bezahlt wurden.

Schwimmverbandspräsident ManfredKreitmeier, sein Vizepräsident Ortwin Kaiser und Schwimmwart Hermann Henze: Sie gingen auf das Geschäft ein, auch nachdem heraus war, um was es sich handelte, und akzeptierten die angedrohte Konventionalstrafe in Höhe von 100 000 Mark, die laut Vertrag auf einem Bruch der Schweigepflicht stand.

Der Generalsekretär des Deutschen Sportbundes (DSB), Karlheinz Gieseler, und der Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komitees, Walter Tröger: Sie wurden informiert und versäumten es, Alarm zu schlagen.

Die Ärzte. der bundesdeutschen Mannschaftsführung: Sie boten ihre medizinische Hilfe bei der Praktizierung an.

Bundestrainer, Heimtrainer und sämtliche Mitglieder der bundesdeutsehen Mannschaftsführung, die ins Vertrauen gezogen worden waren: Ihnen bescheinigte Meyer. den Gedanken „mit großer Bereitwilligkeit aufgenommen zu haben. Nur Ba-L-Vorsitzender Heinz Fallak erhob Bedenken. Er wurde ausgelacht. Zu den wenigen Nichteingeweihten gehörte auch der Präsident des Deutschen Sportbundes, Willi Weyer.  …

Die Hemmschwellen sind abgewetzt, und zwar bis hinauf in die Chefetagen. Seit der Inhalt des Meyer-Papiers durchsickerte, wissen wir es sogar aus dienstlicher Quelle. Wen wundert es unter diesen Umständen noch, daß sich im Hochleistungssport so gut wie ungehindert eine Seuche ausbreitete, von der nun wirklich niemand mehr sagen kann, sie bringe keine gesundheitlichen Risiken mit sich und verstoße auch nicht gegen die Paragraphen? Gemeint ist die Abhängigkeit vieler Athleten von anabolen Hormonen, von rezeptpflichtigen Arzneimitteln also, die den Muskelaufbau fördern.  …

Für den Sportmediziner Dr. Alois Mader steht fest, daß ohne sie in den sogenannten kraftintensiven Disziplinen keiner der zur Zeit gültigen Rekorde möglich gewesen wäre. Danach hat die Kraftpille die Höchstmarken im Kugelstoßen, Hammer-, Diskus- und Speerwerfen, im Gewichtheben und in verwandten Bereichen bereits weit über das eigentliche Menschenmögliche hinauskatapultiert. Der Erfolg wirkte ansteckend. Von den kraftintensiven Sportarten fraß sich der Anabolika-Virus querbeet fast durch das gesamte olympische Programm bis hin zu den Kunststoffbahnen der Sprinter.

… Ein geradezu glühendes Bekenntnis zur Pille legte Walter Schmidt, der Weltrekordler im Hammerwurf, ab, der keinen Anlaß sieht, sich von unserer „Anna Bolika“ zu trennen. Ober die schädlichen Nebenwirkungen, die das Präparat mit sich bringt, streiten sich die Gelehrten. Die Skala reicht von ..überhaupt keine!“ bis zur „Erhöhung der Leberkrebs-Anfälligkeit!“ … Als Beyer sein Leid [Entzugserscheinungen] jenem Professor Dr. Kaul (Freiburg) klagte, der in Anabolika- und Spritzenfragen hierzulande mit den Ton angibt, soll ihm dieser geraten haben: „Dann setz‘ das Zeug wieder an.“

Beyers Leiden wiederholten sich in großem Stil, als die Schwerathleten in Montreal, um nicht bei der Dopingkontrolle aufzufallen, gezwungen waren, kurze Zeit auf Ihre ständige Begleiterin „Anna Bolika“ zu verzichten. Aus den Quartieren der Zwerge und Kolosse – je nach Gewichtsklasse – drangen Berichte nach außen, die sich von Krankenberichten in einer Nervenklinik nur wenig unterscheiden. Das heulende Elend waberte durch dieTrainingshallen der Weltstärksten von denen ein großer Teil plötzlich an Gewichten scheiterte, die sie noch wenige Wochen vorher „Im Schlaf“ zur Hochstrecke gebracht hatten.

Unter der Überschrift „Das Turnier der Anaboliker“ resümiert das offizielle Standardwerk des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland: „Nicht die Rekorde bestimmten das Gewichtheberturnier von Montreal, sondern die Ausfälle. Die Muskelpille hob nicht mehr mit … Symptome einer Entziehungskur waren unverkennbar … Der Russe Juri Saizew und der Mitteldeutsche Gerd Bonk stellten absolute Minusrekorde auf; Saizew blieb 30 Kilogramm hinter seiner Bestleistung, Bonk 27,5 Kilogramm. Zwölf Weltrekorde wurden in München verbessert (wo es noch keine Anabolikakontrollen gab), nur noch vier in Montreal.“ Sieben Gewichtheber, die den Einnahmeschluß versäumt hatten, wurden in Montreal ertappt, darunter zwei Olympiasieger. Sie mußten ihre Medaillen zurückgeben.  …