BRD / DDR – Vergangenheit
Henrich ‚Henner‘ Misersky
Am 20. August wurde Henrich Misersky gemeinsam mit Johanna Sperling, Horst Klehr und Hansjörg Kofink mit der Heidi-Krieger-Medaille des Doping-Opfer-Hilfe Vereins (DOH) für Mut, Standhaftigkeit und unbeirrbare Haltung gegen Doping geehrt. Johanna Sperling und Henner Misersky zeugen davon, dass man sich auch in der DDR verweigern konnte. Horst Klehr und Hansjörg Kofink wandten sich bereits in den 70er Jahren entschieden gegen die Dopingpraktiken im Westen.
Henner Miserskys Tochter Antje Harvey-Misersky erhielt den Preis im Jahr 2005.
Im Mai 2012 wurden Vater und Tochter in die deutsche Hall of Fame des Sports aufgenommen.
Henner Mistersky starb Anfang August 2023.
Stasi und Doping
Henner Misersky wurde verdächtigt, an der Fluchtvorbereitung des Rekord-Mittelstreckenläufers Jürgen May, 1965 Sportler des Jahres, beteiligt gewesen zu sein. Genährt wurde der Verdacht auch durch Westverwandtschft und damit angenommene verbotene Westkontakte. Eine umfassende Stasi-Kontrolle begann. Erste Absicht war dem jungen Mann eine Straftat nachzuweisen.
Neben vier Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) der Universitätsgruppe „Olivier“ kamen zusätzlich sogenannte „Patriotische Kräfte“ zum Einsatz. Einer von ihnen hieß Manfred Thieß, später Professor an der Universität Jena und Präsident des Landessport-Bundes Thüringen. Laut Thieß war
„Misersky „ehrgeizig, egoistisch, westlich orientiert, bestens informiert, nutzt westdeutsche Sportler als Informationsquelle, hat Postverkehr mit dem westdeutschen Sportler Letzerich und ist über den DDR-Verrat von Jürgen May informiert“. Die Informationen von Thieß mündeten in einer fatalen Zusammenfassung: „Zu einer progressiven Rolle ist Misersky aufgrund seiner charakterlichen Haltung und politischen Einstellung nicht in der Lage.“ (FAZ, 27.11.1993) Miserskys Sportler- und Universitätskarriere bekam einen scharfen Knick.
Er wurde Hochschullehrer für Sport an der TH Ilmenau und begann sich als Langlauftrainer zu profilieren. Aufgrund seines Erfolges ernannte man ihn zum offiziellen Jugendtrainer beim SC Zella-Mehlis. Eine seiner Schützlinge war seine hochtalentierte Tochter Antje. Doping war kein Thema – bis zum Herbst 1985. Arzt Dr. Peter Gleichmann, von 1980 bis 1990 als Sportmediziner an der KJS Oberhof tätig, informierte Henner Misersky während eines Trainingslagers der Langläufer in Kiruna darüber, dass geplant war, seiner Tochter ,Oral-Turinabol‘ zu geben. (FAZ, 16.2.1995). Im Frühjahr darauf wird es konkret.
Misersky erinnert sich:
„Ich stapfte durch Oberhof, noch immer lag Schnee. In der Sportschule des Deutschen Turn- und Sportbundes der DDR, kurz DTSB, war eine Sitzung mit Spitzentrainern angesetzt. In einem nüchternen Konferenzraum warteten schon Funktionäre des DDR-Skiverbands. Einer von ihnen war Kurt Hinze, der Cheftrainer der Skilangläufer. Auch Helmut Zensler von der Abteilung Methodik war da. Zensler verkündete militärisch knapp: „Ab sofort gehören unterstützende Mittel auch beim Nachwuchs zum Verbandsprogramm. Wie im Frauenrudern und im Kanu.“ Dopingmittel also. Ich horchte auf. Talente mit Dopingmittel verbandsweit zu mästen, das hatte es bis dahin im Skilanglauf nicht gegeben. Meine Sportlerinnen haben kein Doping erhalten, darauf habe ich geachtet. Und nun sollte meine Tochter Oral-Turinabol schlucken, das Standard-Dopingmittel der DDR. Für mich undenkbar.
Empört sagte ich im kleinen Kollegenkreis, meine Sportler würden da nicht mitmachen. Irgendeiner plauderte, und nun schaltete sich Zensler ein; er hatte das neue Verbandsprogramm offenbar ausgearbeitet. Er versuchte, mich auf Linie zu bringen, sanft noch, mit Versprechungen. Allerdings vergeblich. Dann griff Hinze ein, und nun ging es rauer zu. „Leute wie Du sind politisch unzuverlässig“, sagte er, „die müssen verschwinden.“ Kurz darauf rief Thomas Köhler, der Vizepräsident Leistungssport des DTSB, beim SC Zella-Mehlis an. „ Misersky ist sofort zu entlassen“, ordnete er an. Danach war ich gefeuert, sechs Wochen nach der ersten Sitzung.“ (Tagesspiegel, 19.7.2009). Die offizielle Begründung für die Entlassung lautete, „er habe seine Athletinnen nicht motiviert, in die SED einzutreten.“ (die Zeit, 19.3.1998).
„Abgesehen von dem Betrug habe ich Skrupel gehabt, meinem Kind und den anderen Sportlern die Drogen zu verabreichen und ihnen damit bewußt zu schaden“, erinnert sich Misersky. Zu Recht, und das wußte auch der DDR-Staat. Ohne medizinische Gründe verordnete man damals 14- und 15jährigen Leistungssportlerinnen die Pille. „Nur um zu verhindern, daß sie durch das Doping mißgebildete Kinder zur Welt bringen“, vermutet Misersky. „Die hatten Angst.“ (Ärztliche Praxis, 7/1999)
Der Trainer informierte seine Sportlerinnen über die Dopingpläne und die mit Doping verbundenen gesundheitlichen Gefahren. „Nach der Wende habe ich erfahren, dass alle Sportlerinnen, die sich weigerten, ohne ihr Wissen gedopt wurden.„ Seine Tochter wurde aus dem Leistungskader entfernt, nicht ohne dass vorher versucht wurde, sie zu überreden, den engen Kontakt nach zuhause abzubrechen.
Nachdem Misersky an die TH zurückgekehrt war, erfuhr er keine Schikanen mehr, er konnte seine Sportlehrertätigkeit unbehelligt ausüben.
die Wendejahre
Als 1990 die Wiederveinigung kam, wechselte Antje Misersky zum Biathlon über. Vater und Tochter erhofften sich eine Wende beim Funktionärs- Trainer- und Ärztepersonal. Doch sie wurden enttäuscht, viele ihnen einschlägig bekannte Personen kreuzten weiterhin ihre Wege.
Misersky schwieg nicht. Im März 1991 griff er die von Biathlet Jens Steinigen angestoßene Diskussion um dopingbelastete DDR-Trainer und Funktionäre auf. Er wandte sich an den Deutschen Sportbund (DSB), den DSV sowie den Sportausschuß des Bundestags und monierte
„wenn man die generellen Überprüfungen hinsichtlich politischer Belastung von Lehrern, Hochschulangehörigen, Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern bewertet“, sei es erforderlich, genauso bei Bundestrainern zu verfahren. Eine Antwort auf diesen Brief, sagt Misersky, habe er nicht erhalten.
„Ich wollte darauf aufmerksam machen, was für Leute da übernommen werden.“ Umsonst: „Die alten Seilschaften haben sich schon wieder etabliert.“ Daß Menschen, „die keine moralische Kompetenz haben, solche Ämter ausüben“, inzwischen auch in den obersten Gremien des vereinigten deutschen Sports sitzen, hat ihn verbittert. Den Glauben daran, daß ihn irgend jemand für seine konsequente Haltung in der DDR belohnen würde, hat er ohnehin längst verloren. „Man hat sich entschieden, mit den alten Leuten weiterzuarbeiten. Deshalb ist niemand an einer konsequenten Aufklärung interessiert. Es würde ja alles zusammenbrechen.“ (FAZ, 31.1.1992)
Die entsprechenden Trainer mit Dopingvergangenheit waren Kurt Hinze, Wilfried Bock, Harald Böse und auch Frank Ullrich.
Harald Böse, von 1990 bis 2007 Co-Biathlon-Bundestrainer, war als IM ‚Horst Sommer‘ an der Bespitzelung von Biathlet Andreas Heß beteiligt und somit auch an dessen Karriere-Zerstörung (dradio, 16.1.2005).
Wilfried Bock arbeitete bis 2009 als Trainer, nun musste er aufgrund der wieder aufgebrochenen Diskussion um die Anstellung dopingbelasteter Trainer seinen Hut nehmen, er überstand die Überprüfung nicht so gut wie Frank Ullrich.
Kurt Hinze verklagte auf Betreiben des Deutschen Skiverbandes Jens Steinigen, bekam jedoch nicht Recht. Henner Misersky trat während des Prozesses gegen ihn als Zeuge auf. Hinze wurde danach Ende 1991 offiziell entlassen, doch das hinderte ihn nicht daran, weiter mittendrin dabei zu sein.
1992 wird Antje in Albertville Olympiasiegerin über 15 km. Deutschland ist begeistert. Auch Henner, doch er sieht, wer so alles vor Ort mitjubelt. Er nutzt die Gelegenheit und spricht im ZDF über das was ihn bewegt und verstört:
Ein „schöner Tag“, ganz bestimmt, aber der „größte Tag“ für ihn sei der Fall der Mauer gewesen. Hoffnung habe er geschöpft, die Diskriminierung seiner ganzen Familie werde nun ein Ende haben. Nichts davon! Obwohl er, Misersky, immer gewarnt habe, „hat Herr Weinbuch die belasteten Funktionäre unbesehen übernommen“.
Helmut Weinbuch, damals Sportdirektor des Deutschen Skiverbandes, später bis 2002 dessen General-Sekretär sah es anders, Sportler bräuchten ihre Vertrauenstrainer, irgendwann müsse auch Toleranz herrschen. (die Zeit, 19.3.1998) Weinbuch 1992:
„Der Deutsche Skiverband hat nicht anders gehandelt wie andere Verbände auch. Unsere Zielsetzung war es, den Sport zu erhalten, deswegen wollten wir die Trainer, die die Athleten gewohnt waren, die Bezugspersonen, erhalten.“ (WDR, 19.1.2010)
Eine Konsequenz gab es jedoch, Weinbuch entließ am nächsten Tag Ulrich Wehling, dreimaliger Olympiasieger in der Nordischen Kombination und im Osten als Koordinator tätig. (der Spiegel, 24.2.1992) Wehling, Tarnname ‚Springer‘, stritt immer jegliche Verfehlungen ab, nach seiner Entlassung ging er zur FIS und war hier von 1992 bis 2012 Sport/Renndirektor für die Nordische Kombination (der Spiegel, 5.3.2007). Bei den Miserskys gingen nach dem TV-Auftritt Morddrohungen ein.
Manfred Thieß
Manfred Thieß, einer der IM, die Ende der 60er Jahre mithalfen Hennes Misersky zu diffamieren, war 1993 Professor für Soziologie an der Universität Jena und Präsident des Landessportbundes (LSB) Thüringen. Nachdrücklich verkündete er während dieser Zeit, Stasiverstrickungen müssten aufgedeckt werden, „die Überprüfung führender Sportfunktionäre auf eine eventuelle Stasi-Mitarbeit muß mit großer Konsequenz erledigt werden“ – wenn auch nicht in Thüringen, hier kam die Sache nicht so recht voran. Obwohl einiges zu untersuchen gewesen wäre, z. B. die Vergangenheit von Werner Riebel, der wie Thieß als „Patriotische Kraft“ beim Fall Misersky mitwirkte und der Thieß der Stasi als Informant empfohlen hatte. 1993 ist Riebel Mitglied im Landesausschuß Wissenschaft und Bildung des LSB. (FAZ, 27.11.1993)
Thieß leugnet jegliche Verantwortung trotz erdrückender Beweise gegen ihn. Der Präsident des Deutschen Sportbundes, Hans Hansen, und Vizepräsident Manfred von Richthofen sind von der Richtigkeit der Vorwürfe überzeugt. Doch von den anderen Präsidiumsmitgliedern kommt Gegenwind. Thieß hatte sich gegen den ausdrücklichen Wunsch von Hansen, sein Amt als Beisitzer im Präsidium des DSB bis zur endgültigen Klärung ruhen zu lassen, gewehrt und fand Unterstützung, der Antrag wurde abgelehnt. (FAZ, 6.12.1993)
Anfang des Jahres 1994 gab der Rektor der Friedrich-Schiller-Universität in Jena die Entlassung von Thieß bekannt. Wenig später forderte das Präsidium des Deutschen Sportbundes (DSB) Thieß auf, sein Amt als Beisitzer im DSB-Präsidium ruhen zu lassen. Der Landessportbund Thüringen sprach seinem Präsidenten allerdings auf einer außerordentlichen Sitzung des Hauptausschusses mit großer Delegierten-Mehrheit sein Vertrauen aus. Damit wurde die Empfehlung eines unabhängigen Untersuchungsausschusses unter Leitung des Thüringer Landtagsabgeordneten Matthias Büchner (Fraktionslos/Neues Formum) abgelehnt. Wenig später musste er aber doch zusammen mit seinem Präsidiumskollegen Harry Felsch zurücktreten. Thieß wurde Leiter der Thüringer Sportakademie in Oberhof.
„Ironie des Schicksals“ … Tochter Antje erreichte jüngst ein Brief vom LSB. Darin wurde die Biathlon-Olympiasiegerin aufgefordert, sich im Falle einer Stasi-Mitarbeit doch zu offenbaren. Unterzeichnet war das Schreiben vom Leiter des Olympiastützpunktes Thüringen, Rolf Beilschmidt, einst Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi. Als Person des Vertrauens für den Fall der Offenbarung bietet sich der LSB-Präsident persönlich an: die „Patriotische Kraft“ Manfred Thieß.“
(FAZ, 27.11.1993)
Stasivergangenheit und kein Ende
Im August 2004 wurde der Landessportbund Thüringen erneut in den Strudel der unverarbeiteten Stasi- und Dopingvergangenheit gezogen. Anlässlich der Biathlon-WM in Oberhof durchleuchtet die Presse ehemalige Geschehnisse und damit auch die Riege der Verantwortlichen.
„Auch Schüler der KJS [Oberhofer Kinder- und Jugendsportschule] sind in die sogenannte „Dopingkonzeption“ des Skiverbandes der DDR eingebunden worden. Viele der Minderjährigen haben es nicht gemerkt, weil die verbotenen wie zum Teil lebensgefährlichen Mittel in einem Entmüdungstrunk gemischt wurden. Zu diesem Ergebnis kamen Beamte des Landeskriminalamtes Erfurt bei ihren Recherchen. Sie befragten zwischen 1997 und 1999 rund 700 Athleten. Eine Wintersportlerin brachte ihnen daraufhin eine Pille mit, im Glauben, ein Vitaminpräparat über die Jahre verwahrt zu haben, so wie es Ärzte und Trainer behauptet hatten. Die Analyse ergab: Mestanolon, ein Hormon.“ … „Bislang weiß man, daß vier hauptamtliche Offiziere mehr als 100 Inoffizielle Mitarbeiter (IM) als Spitzel im Sport und dessen Umfeld einsetzten. 14 beschatteten das Dopingopfer Grundler, die Akte mit den Berichten der IM umfaßt gut 200 Seiten. Es sind Sportkameraden, Funktionäre, Trainer, Ärzte, Physiotherapeuten, Lehrer der KJS, Betreuer der Sportanlagen, Menschen aus der Nachbarschaft, die der „Firma“ mehr oder weniger als Denunzianten dienten.“ (FAZ, 5.2.2004)
Der LSB, dessen Hauptgeschäftsführer Rolf Beilschmidt selbst mit Stasiverbindungen in Zusammenhang stand, sah sich gezwungen eine Stasikommission einzurichten. Henner Misersky wurde als Mitglied berufen. Anfang Oktober 2005 gab er seine Mitarbeit auf. Die Kommission habe konstruktive Vorschläge nicht aufgegriffen, stattdessen sich im Kreis bewegt und auf Zeit gespielt. Er warf dem LSB „fehlenden Willen zur Aufarbeitung“ vor nachdem dieser „im Herbst 2004 per Beschluss eine freiwillige Selbstüberprüfung für die Verbands- und Vereinsstrukturen abgelehnt hatte““. (Berliner Zeitung, 5.10.2005).
>>> Interview mit H. Misersky, 1.2.2006
Auch 2 Jahre nach Gründung der Kommission, lagen noch keine Ergebnisse vor (und heute? wurde sie aufgelöst?). Die Stasibeauftrage Hildigund Neubert erklärt im Januar 2006:
«An der geistigen Landschaft, in die sich der Sport einspinnt, hat sich kaum etwas geändert. Die sogenannte Wintersportnation Thüringen will sich ausschließlich mit ihren Erfolgen beschäftigen. Niemand soll nach den dunklen Flecken auf der schneeweißen Weste fragen.» «Ohne Druck der Politik und der Öffentlichkeit, die den Thüringer Sport finanziert, wird sich dort wohl nicht viel bewegen.» «Die Beschäftigung mit dem Staatsdoping in der DDR könnte die Jugendlichen vor solchen Irrwegen sicherer bewahren, als alle Vorschriften des internationalen Sports», glaubt deshalb Neubert. «Der Thüringer Sport gerät immer tiefer in ein Geflecht aus Angst und trotziger Isolation.» Vor jedem Großereignis warte der Sport ängstlich auf die nächste Enthüllung dessen, was längst hätte aufgeklärt sein können. (netzeitung, 9.1.2006, s.a. dradio, 16.1.2005)
Im Oktober 2014 werden neue Unterlagen bekannt, die Rolf Beilschmidt, seit 2001 Hauptgeschäftsführer des Thüringer Landessportbundes, weit stärker belasten als bislang bekannt. (dradio, 11.110.2014)
2009 die Trainererklärungen des DLV
Verleugnete und verschleppte Probleme traten auch noch an anderer Stelle zutage. Vor den Olympischen Spielen in Peking 2008 kam die Dopingvergangenheit einiger Trainer wieder hoch. Der Fall Werner Goldmann (>>> mehr Infos) löste eine kleine Lawine aus und brachte den Deutschen Leichtathletikverband DLV, aber auch weitere Verbände einschließlich des Dachverbandes DOSB in Bedrängnis. Eilig mussten Lösungen gefunden werden, langjährige alte und neue Trainerverträge verlangten nach Rechtfertigung. Das Problem Goldmann gestaltete sich schwierig, einfacher schien eine Rehabilitierung anderer. Fünf Bundestrainer erhielten die Möglichkeit, sich mit ihrer Unterschrift unter einer einfachen, wenig differenzierten Erklärung von eigener Schuld zu entlasten.
Henner Misersky ist empört. Die 5 Trainer waren nachweislich tief in das DDR-Dopingsystem verstrickt gewesen, in ein System, das ca. 10 000 Sportlerinnen und Sportler zwangsgedopt hatte – mehr als 1000 von ihnen wurden schwere körperliche und seelische Schäden zugefügt (G. Spitzer, Wunden und Verwundungen). Henner Misersky:
„Das ist der schwärzeste Tag für die Dopingopfer und für diejenigen, die ehrlich und anständig gewesen sind und gesagt haben, ich mach‘ nicht mit. So schlimm ist das mit dem Systemdruck nicht gewesen. Wenn man nicht mitgemacht hat, dann ist man eben als Sportlehrer in den Schuldienst gegangen.“ (Berliner Zeitung, 8.4.2009)
Die Familie Misersky, Ilse und Henner sowie die Töchter Antje und Heike, schließen sich der Erklärung vom 1.4.2009 an, die prominente DDR-Dopingopfer veröffentlichten. Die Familie gibt zu bedenken:
„… Auch wenn es problematisch war, dem Systemdruck in der DDR-Diktatur zu widerstehen, wird trotz einiger Randnotizen ( Interview Ecker-Rosendahl, Mitglied der Steiner-Kommission, idealer wäre in dieser Position eine Brigitte Berendonk gewesen) ausgeklammert, dass es Trainer, Sportler und auch Sportmediziner gegeben hat, die dem Druck zu Doping und politischer Anpassung mit teilweise leidvollen persönlichen und beruflichen Konsequenzen widerstanden haben.
Kritik und Widerstand bedeuteten bedingungslos Degradierung oder Ausschluss aus diesem sensiblen und von hauptamtlichen Kräften der Stasi und IMs überwachten Sportsystem – Bedrohung, Postkontrolle, Telefonüberwachung inklusive. Es ist beschämend und wohl auch so gewollt, dass weder früher im NOK, im DOSB-Präsidium, noch im Sportausschuss des Bundestages oder in der Steiner-Kommission Opfer, Systemgeschädigte oder Insider des ehemaligen DDR-Staatssports Sitz oder Stimme hatten/haben. Jegliche Transparenz wurde und wird durch das Ausgrenzen dieser „ Querulanten, Nestbeschmutzer, Störfaktoren” wirkungsvoll verhindert.
Alle Mittäter, die jetzt für die Perspektive einer lächerlichen Autogrammabgabe einen „Persilschein” in Aussicht gestellt bekommen, hätten nach dem Fall der Mauer durch ein offenes Bekenntnis zu ihrem schuldhaften Verhalten und durch Offenheit und Reue beweisen können, dass sie den Betrug, den „Klassenkampf”, die Indoktrination hinter sich gelassen haben und in der Demokratie endgültig angekommen sind.
Als sichtbares Zeichen sollten diejenigen, die nun aktiv geworden sind, um in den großzügigen Vorteil einer Amnestie-Entschuldung zu gelangen, vor einem unabhängigen Gremium umfassend und transparent nun endlich nach so langer Zeit aussagen und vor allem sich vor den Dopingopfern in aller Öffentlichkeit entschuldigen. Ein sichtbares Zeichen ihrer Reue könnte es sein, dem Fond des Dopingopfer-Hilfevereins regelmäßig einen angemessenen Beitrag ihres Einkommens zu überweisen. …“ (>>> Zur geplanten Erteilung einer „Generalamnestie” für Doping – (und Stasi?)-Täter)
Kritischer Beobachter
Henner Misersky gab seinen Kampf um Aufklärung des DDR-Unrechts lange nicht auf. So zum Beispiel im September 2016, dass es ihm mit zu verdanken war, dass die Personalentscheidung des Thüringer Skiverbandes, Ulrich Wehling zum Geschäftsführer zu machen, überregionale Beachtung erfuhr. Ulrich Wehling, mehrfacher Olympiasieger, war im DDR-Leistungssportsystem bis zum Stellvertretenden Generalsekretär des DDR-Skiverbandes aufgestiegen und hatte das Dopingsystem mitgetragen. Er hat zudem einige Jahre mit der Stasi zusammen gearbeitet, dies aber stest bestritten. (thüringer-allgemeine.de: Nach scharfer Kritik: Thüringer Ski-Verband verteidigt Verpflichtung von Wehling, 29.10.2016, taz: „Eine skandalöse Entscheidung“, 8.11.2016, SZ: Plötzliche Führungsschwäche, 21.11.2016)
In einem langen Interview mit der FAZ vom 9.11.2016 („Makulatur, alles verlogen“) erläutert er die Problematik, die mit der Personalie Ulrich Wehling verbunden ist.
Der Thüringer Skiverband hat den ehemaligen Stasi-Zuträger Ulrich Wehling, der die DDR-Doping-Konzeption mitgetragen hat, zum Geschäftsführer berufen. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie davon hörten?
Mein erster Gedanke: Eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Ulrich Wehling? Das kann doch nicht wahr sein! Das ist skandalös, an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Wehling hat Sportkameraden bei der Stasi denunziert (Es gibt ein Gutachten der Stasi-Unterlagenbehörde, aber Wehling bestreitet, als IM gearbeitet zu haben/d. Red.). Verrat verjährt nicht. Er ist einer dieser hochgradig belasteten DDR-Funktionäre, der für die rücksichtslose Durchsetzung der vertikalen, militanten Befehlsstrukturen zuständig war als stellvertretender Generalsekretär des DDR-Skiverbandes. Er wirkte verantwortlich in einem in wesentlichen Zügen kriminellen Leistungssportsystem. Dass jemand mit dieser Belastung in Thüringen bis zur Rente überwintern kann, vom Landessportbund finanziert, wenigstens indirekt auch vom Steuerzahler, halte ich für grotesk.
Was werfen Sie ihm konkret vor?
In seiner Mitverantwortung wurde in der DDR von 1985 an im Skiverband ein sportlich erfolgloses Verbandsprogramm installiert, das trainingsmethodische Alternativen unterband, einseitig auf die alleinige Anwendung der Skatingtechnik orientiert war und das menschenverachtende Staatsplan-Doping von der Altersklasse 16 weiblich festschrieb.
Er akzeptierte Minderjährigen-Doping?
Ja. Eine Sportkameradin unserer Tochter Antje (Olympiasiegerin im Biathlon 1992), sie gewannen im Team 1985 in Seefeld WM-Bronze, ist nicht nur selbst geschädigt worden, sondern ihr Sohn auch. Diese Spitzenlangläuferin war wegen ihrer Verweigerung ohne ihr Wissen gedopt worden. Der zuständige Verbandsarzt Dr. Kämpfe, alias IMS (Inoffizieller Mitarbeiter Sicherheit) „Schmied“, hatte diese Praxis empfohlen. 1999 haben die Ermittlungen des Landeskriminalamtes Thüringen ergeben, dass gedopte Frauen durch „Tot- und Fehlgeburten, fehlentwickelte Föten, erzwungene Schwangerschaftsunterbrechungen, Virilisierungserscheinungen und gynäkologische Probleme besonders stark betroffen“ waren. Dieser Tatbestand wird im Zusammenhang mit Wehlings Verantwortlichkeit als stellvertretender Generalsekretär des Deutschen Skiläufer-Verbandes ignoriert. Für mich ist seine Anstellung in Thüringen ein Totalversagen der verantwortlichen Sportpolitiker. Für alle Doping-Geschädigten des DDR-Skisports in der Ära Wehling ist seine hauptamtliche Beschäftigung im deutschen Sport ein Schlag ins Gesicht. Ließ sich denn kein jüngerer Sportmarketingfachmann finden als der 64-jährige Wehling mit dieser Vita? …
Kann man denn vom Fall Wehling auf die gesamte Wiedervereinigung im Sport schließen?
Der Fall Wehling ist exemplarisch für das Verhalten von Verbänden im deutschen Spitzensport seit der Wiedervereinigung. Allerdings ist er in dieser „Spätform“ ungewöhnlich. Und stellen Sie sich mal vor, der frühere SED-Generalsekretär Egon Krenz würde bei Rot-Rot-Grün Innenminister von Thüringen werden. Im Sport geht das.
Es ist rücksichtslos vereinigt worden?
Nicht nur das. Der wiedervereinigte Sport verstößt nach wie vor gegen seine Regularien. Im Abschlussbericht der Ad-hoc-Kommission zur Beratung in Doping-Fragen vom 14. Dezember 1991 heißt es: „Die Kommission empfiehlt Verbänden und Vereinen des Deutschen Sportbundes, dass solche Personen, die in der ehemaligen DDR als Verbandscheftrainer, Verbandsärzte, Generalsekretäre oder andere Funktionsträger im Bereich Spitzensport tätig waren, nicht mehr für irgendwelche Tätigkeiten im Sport eingestellt oder gewählt werden, wenn sie nicht den Nachweis fehlender Beteiligung am Doping-System erbringen können. Sie sollten aus den Organisationen des Sports in Deutschland grundsätzlich ausscheiden.“ Das war damals sehr wichtig für Menschen wie mich und viele andere, die das Doping-System und die ganze damit verbundene Korruption nicht wieder erleben wollten. Aber was ist daraus geworden? Makulatur, alles verlogen. Wehling ist doch kein Einzelfall. Der Hauptgeschäftsführer des Thüringer Landes-Sportbundes, Rolf Beilschmidt, war ebenfalls in Doping verstrickt und hat als Spitzel für die Stasi gearbeitet, der er unter anderem Informationen über den heutigen Leiter der Behörde, Roland Jahn, zukommen ließ. Es geht mir aber nicht allein um die Frage, wer damals eklatant gegen das Fairplay verstoßen hat, sondern ob diese Leute die Basis sein können für eine dringend notwendige Bewusstseinsänderung im deutschen Sport. Wir haben sie bis heute nicht. Und das liegt auch daran, dass skrupellose Leute aus dem Westen ebenso Skrupellose einstellten oder an der Macht hielten.
Die Vereinigung des Sports ist an wesentlichen Stellen ganz anders gelungen als gemeinhin angenommen?
Es wucherte zusammen, was zusammengehört. Es ist beispiellos, wie die Gier nach Medaillen alles bedenkenlos wegfegte, was die DDR-Sportdiktatur angerichtet hat. In den Köpfen, in den Körpern. Die westdeutschen Spitzensportverbände hatten keinerlei Skrupel, DDR-Verbandstrainer, Funktionäre, Sportmediziner, Sportwissenschaftler zu übernehmen. Die Latte belasteter Personen im Spitzensport ist ellenlang. Exemplarisch dafür steht die Personalie Werner Goldmann, ein rechtskräftig verurteilter Doper, Bundestrainer Diskus Frauen, vormals Trainer von Olympiasieger Robert Harting (2012). In Rio wurden die erfolglosen Diskusfrauen von ihm betreut. Immerhin ist er problemlos bis zum Ruhestand gekommen. Der Deutsche Leichtathletik-Verband hat auch unter dem jüngst wegen dubioser Geldzahlungen durch den Internationalen Verband in die Schlagzeilen geratenen ehemaligen Präsident Helmut Digel seinen Verband geradezu vollgestopft mit DDR-Trainern. Chef-Verbandstrainer wurde der ausgewiesene „Fachdoper“ Schubert aus Karl-Marx-Stadt; im Skiverband der ehemalige DDR-Auswahlcoach Kurt Hinze, bis er nach einem verlorenen Prozess dann doch gehen musste. Helmut Weinbuch, damals Sportdirektor im Skiverband, erwiderte meine Kritik so: Man wolle den Sportlern die Bezugspersonen erhalten. Das sollten also Vorbilder für die Jugend, den Nachwuchs sein, für Athleten, das wissen wir doch längst, die in Versuchung gebracht wurden, und ihr erlagen lange nach dem Fall der Mauer. …
Sind Medaillen wichtig für ein Land?
Ich glaube nicht, dass es die Lebensqualität der deutschen Bevölkerung tangieren würde, wenn es diese Art von Sport und den Olympiazirkus nicht mehr gäbe.
Was würden Sie im deutschen Sport/Spitzensport reformieren?
Ich würde den steuerfinanzierten Spitzensport abschaffen und den Breitensport mehr fördern. Die Profi-Sportarten sollten sich mit Hilfe von Sponsorengeldern und Werbeeinnahmen finanzieren. Ich würde eine Reformierung des Schulsports fördern, eine tägliche, qualitativ gute Sportstunde einführen, um die Folgen von Bewegungsmangel und das tendenzielle Übergewicht schon im Kindes- und Jugendalter einzugrenzen. Den Medaillenspiegel würde ich abschaffen. Dazu vor allem die völlig ignorierte Bedeutung der Doping-Prävention in allen Programmen nicht nur verankern, sondern verpflichtend durchführen lassen. Ich würde Doper lebenslang sperren lassen, medizinische Ausnahmegenehmigungen und Gefälligkeitsatteste für leistungssteigernde Medikamente generell untersagen. An Doping beteiligten Ärzten müsste die Zulassung entzogen werden. Der Philosoph und Ruder-Olympiasieger Professor Hans Lenk hat es auf den Punkt gebracht. „Der Sport muss sich ernsthaft um eine Zielorientierung bemühen und wissen und endlich sagen, was er wirklich will: Monsterzirkus oder entspanntere echte Eigenleistung.“
Hall of Fame 2017
Im April 2017 ging Henner Misersky an die Öffentlichkeit, nachdem er als Mitglied des Hall of Fame des Deutschen Sports zur Stimmabgabe über neu aufzunehmende Mitglieder aufgefordert wurde. Zur Wahl standen Gustav-Adolf „Täve“ Schur und Heide Drechsler. Insbesondere die Nominierung Schurs rief Misersky auf den Plan. Er wandte sich an die Presse und schrieb einen Offenen Brief an die Deutsche Sporthilfe (DSH), den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), den Verband Deutscher Sportjournalisten (VDS), aus deren Kreis die Vorschläge kamen und an den Verein Doping-Opfer-Hilfe, der selbst vehement gegen die Aufnahme Schurs argumentiert:
>>> Misersky – Offener Brief an DSH, DOSB, VDS und DOH
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Anmerkung:
In den folgenden Jahen vollzog Henner Misesky einen Richtungswechsel. Insbesondere wandte er sich gegen Ines Geipel und den DOH. Er unterstellte Ines Geipel vielfältige Falschaussagen zu ihrer eigene Biografie und bezweifelte insgesamt den „Opferstatus“ vieler ehemaliger DDR-Sportler*innen, vor allem indem er unterstellte, diese hätten immer gewusst, dass sie gedopt würden somit nicht von Opfern zu sprechen wäre. Die Auseinandersetzungen zogen weite Kreise. Sie seien hier nicht dargestellt. Unklar ist damit aber, inwieweit Henner Misersky noch zu seinen früheren Überzeugungen seinem Engagement, wie oben aufgezeichnet, steht.