Teil 4: Suchtgefahr und Quellenangaben
Was hat Drogensucht mit dem Thema Doping und Tod im Radsport zu tun?
Hans Michalsky wurde weiter oben im Text bereits zitiert mit seinen Erfahrungen in Zusammenhang mit Doping, wonach viele ihm bekannte Fahrer, vor allem aus der zweiten Reihe, „heute schon gar nicht mehr leben, etliche, die entweder durchgedreht sind, oder rauschgiftsüchtig sind, oder alkoholsüchtig.“ In späteren Jahren waren es Marco Pantani und José-Maria Jimenez. Doch gibt es hier tatsächlich ein Problem?
Drogensüchtige haben, sofern ihnen ein dauerhafter Entzug nicht gelingt, häufig eine geringere Lebenserwartung aufgrund gesundheitlicher Schädigungen. Zudem leiden sie nicht selten an Depressionen, wodurch die Selbstmordgefahr steigt.
Die Dopinggeschichte des Radsports ist auch eine Geschichte des Drogenmissbrauchs, vor allem der Amphetamine und damit verbunden der Drogencocktails „Pot belge“ und „Pot néerlandais“. Bis in die jüngste Zeit scheinen diese beliebt zu sein, wie Prozesse in Frankreich aufzeigen. (doping-archiv.de: Prozesse, Cofidis, Drogenbericht 1999)
Dabei ist das Verhältnis des Sports, insbesondere des Leistungssports, zu Drogen und Doping komplex und keineswegs einseitig. Vieles spricht dafür, dass der Leistungssport nicht selten als Sucht nach Sport beginnt und/oder der Sport dazu dient, Depressionen zu überspielen bzw. abzubauen. Zudem kann intensives physisches Training das Verlangen nach psycho-aktiven Substanzen (legalen und illegalen) erhöhen – ebenso wie Wettkampfstress häufig psychische Spuren hinterlässt, die einer Suchtanfälligkeit Vorschub leisten.
Bekannt ist ebenfalls, dass nicht allein die herkömmlichen Drogen wie Alkohol, Kokain und Amphetamine süchtig machen. Auch Medikamente, die gerne von Ärzten verschrieben werden, oder viele, die zur Leistungssteigerung genommen werden, besitzen Suchtpotential. Dr. William Lowenstein, französischer Suchtexperte:
„Heute führen die benutzten Produkte – wie die Corticoide – zu Störungen, die denen gleichen, die durch Kokain hervorgerufen werden. Auch wenn sie sich zeitlich etwas länger hinziehen, haben sie doch dieselbe Stärke. Man spricht oft von physischen und somatischen Effekten der Corticoide, aber ihre psychologischen sind wirklich destabilisierend und da euphorisierend und stimulierend, sehr suchtfördernd.“ (Interview mit Lowenstein).
Und Prof. Sörgel, Leiter des Instituts für Biomedizinische und Pharmazeutische Forschung in Nürnberg:
„Natürlich können gerade die anabolen Steroide auch zu Depressionen führen. Das gilt auch für andere Dopingmittel, die in irgendeiner Weise die Psyche beeinflussen. Es kommt nur darauf an, wie der Einzelne auf diese Mittel anspricht. Es gibt Fälle, in denen haben Dopingmittel sehr schwere Depressionen ausgelöst. Die Wirkung auf den Einzelnen ist schwer vorherzusagen.“ (Tagesspiegel, 17.2.2004).
Oft wird auch ein Kreislauf, eine Spirale in Gang gesetzt, aus der es kein Entrinnen mehr gibt. Antidepressiva z. B. wie Prozac, sollen in Sportlerkreisen häufig zur Anwendung kommen. Auch sie machen süchtig oder verstärken die Problematik. (s. Manzano-Interview, 28.4.2007)
Jugendliche, deren Psyche und Physis noch in der Entwicklung stecken, sind besonders gefährdet durch Anabolika. So scheint der Anabolikakonsum den Entstehungsprozess der Serotonin-Produktion im Hirn dauerhaft zu schädigen, wodurch lebenslanges aggressives Verhalten gefördert wird (wissenschaft.de, 25.11.2003). Auch schwere Depressionen mit Selbstmord von Jugendlichen sind bekannt (New York Times, 26.11.2003).
Doch auch Wachstumshormone scheinen bei Jugendlichen Depressionen mit Selbstmordgefahr auszulösen. Jeff Novitzky kennt Beispiele aus der jugendlichen Baseballszene, vor allem aus den Jahren des ungehemmten Dopingmissbrauchs.
Die Antidopingbewegung wächst. Etwa beim Baseball ist es deutlich besser geworden. Bis 2004 gab es dort überhaupt keine Dopingtests. Nichts! Es war überall – und breitete sich auch bei Jüngeren aus: im College, auf Amateurniveau, sogar bei High-School-Kids. Ich habe mit vielen Eltern gesprochen, deren Kinder auf der High-School gedopt haben. Viele haben Wachstums-Hormone in der Entwicklung überhaupt nicht verkraftet, wurden depressiv, einige der Jugendlichen haben Selbstmord begangen. (taz, 3.9.2016)
Singler und Treutlein sehen den Radsport in einer besonderen Rolle:
„Im Radsport, so scheint es, wird so viel, so ausdauernd und so multimedikamentös gedopt, dass von einer Betrugsabsicht alleine offenbar längst nicht mehr ausgegangen werden kann. Hier liegt längst eine weit verbreitete Medikamenten- und sicherlich auch Drogensucht vor, die angesichts des jahre- bzw. jahrzehntelangen mehrstündigen Trainings pro Tag eng mit einer regelrechten Sportsucht verbunden zu sein scheint.“ (R. Meutgens, 2007, S. 90)
Nach Beendigung ihrer aktiven Karriere droht den Sportlern die meiste Gefahr. Nicht selten folgt der totale Absturz in die Sucht und Abhängigkeit. Darin sind sich alle Experten einig. In England gibt es eine Klinik, die nur abhängige Sportler betreut, die ‚Drugs in Sport clinic‘ von Dr. Rob Dawson nahe Newcastle. In Frankreich ist das Problem ebenfalls seit Langem bekannt.
„Eine Insiderinformation aus Frankreich besagt, dass in der Provinz zwischen 10 und 30 % der Patienten von Suchtzentren Personen sind, die intensiv Sport getrieben haben (bis hin zu Mitgliedern von Nationalmannschaften), in Paris ca. 50 %.“ (Singler/Treutlein, Doping, 2000, S. 178).
Wie viele Radsportler darunter sind, wird nicht gesagt, aber die verschiedenen Doping-Prozesse, die in Frankreich geführt wurden, zeigen, dass der Radsport ein gravierendes Suchtproblem hatte und wahrscheinlich noch hat. Und es ist zu vermuten, dass etliche Sportler aufgrund dessen früh ihr Leben lassen mussten.
In Deutschland wurde dieses Problem bislang kaum in der Öffentlichkeit behandelt. Es herrschte überwiegend Stillschweigen. Auch das Schicksal von Frank Nowak, einem ehemaligen Radsportler, der nach fast 2 Jahren im Wachkoma als Doping-Opfer verstarb, brachte dem Thema kaum mehr Aufmerksamkeit ein. (Frank Nowak)
weitere Beispiele:
André Cordelette – Herzprobleme als Folge
Christian Ossowski
Philippe Boyer
Laura Chiotti
Fazit
Tötet Doping? Ja, das ist möglich, es gibt nachgewiesene Fälle. Verringert Doping die Lebenserwartung von Sportlern? Es könnte sein, es gibt Hinweise darauf und es gibt Einzelfälle, die eindeutig mit Doping in Zusammenhang stehen. Doch um genaue Aussagen machen zu können, fehlt es nach Meinung von Dopingexperten an Daten und sicherlich fehlt es auch an Mut und Offenheit, Fälle oder Verdachtsmomente bekannt zu geben. Die juristische Maschinerie läuft schnell an, wie das Beispiel Gianettis 1998 zeigte. Zudem ist es immer zwiespältig, Verdächtigungen auszusprechen, ohne exakte Beweise zu haben. Die DDR-Dopingopfer-Schicksale zeigen jedoch deutlich wie Doping, besonders in frühen Jahren, irreversible gesundheitliche Schäden hinterlassen kann. Wie viele dieser Sportler/innen bereits gestorben sind, weiß ich nicht, aber es gibt Todesfälle.
Leider liegen kaum Langzeitstudien vor, die Sportler auf ihrem Lebensweg begleiten. Die dopenden Athleten stellen sich mehr oder wenig freiwillig einem großen Experiment, von dem viele, auch Fans, profitieren, doch sie werden mit den Folgen weitestgehend allein gelassen. Es wird dringend Zeit, dass entsprechende epidemiologische Forschungen durchgeführt werden. Das Beispiel aus dem Fußball, wo auffällig viele Fußball-Spieler, am häufigsten aus Italien, an amyotropher Lateralsklerose (ALS), auch als Gehrig-Syndrom bekannt, erkrankten und früh verstarben und sterben werden, sollte eine Warnung sein. Zumal das Doping-Problem längst nicht mehr auf den Hochleistungssport begrenzt ist, sondern sich zum Massenphänomen auswächst.
Ich hoffe, dass das Schweigen endlich durchbrochen wird und sich aus der Sport-, insbesondere der Radsportszene selbst, bald mehr Stimmen melden, die offen zugeben, dass Doping ständiger Begleiter war und die andere Sportler und Sporterfahrene wie Trainer, Funktionäre, Sportliche Leiter, Mediziner usw. dazu ermutigen, Erfahrungen, Zweifel und Ängste öffentlich zu machen. (***)
***) Rolf Järmann stellt sich weiter dem Thema: „das Thema Schmerz und Doping, das am 22. März nachmittags behandelt wird, steht im Zusammenhang mit der Notfallmedizin: Immer öfter wird in Beruf und Sport die „Schmerz-Grenze“ überschritten, werden Medikamente eingenommen um die Leistung zu steigern und um Schwächen zu kaschieren – bis zum unweigerlichen Zusammenbruch. “ (Luzerner Trendtage Gesundheit am 21. und 22. März 2007)
Quellen und weiterführende Literatur:
doping-archiv
Jean-Pierre de Mondenard, Dictionnaire du Dopage, 2004
Jean-Pierre de Mondenard, Dopage, 2000
Andreas Beune, Did Not Finish, 2005
Ralf Meutgens, Doping im Radsport, 2007
Ralf Meutgens, Wer schneller fährt ist früher tot, in: Sportpädagogik als humanistische Herausforderung, 2011
Nickel/Rous (Hrsg.), Das Anti-Doping-Handbuch, 2007
Éric Maitrot, Les scandales du sport contaminé, 2003
Andreas Singler/Gerhard Treutlein, Doping – von der Analyse zur Prävention, 2001
Jürgen Kern, Das Dopingproblem, 2002
Brigitte Berendonk, Doping, 1992
Giselher Spitzer, Wunden und Verwundungen, 2007
Robin Parisotto, Blood Sports, 2006
NEUROLOGY 2002, Cyclist’s doping associated with cerebral sinus thrombosis
British Journal of Sports Medicine, July 2006, Homocysteine induced cardiovascular events: a consequence of long term anabolic-androgenic steroid (AAS) abuse
Kistler: TODESFÄLLE BEI ANABOLIKAMISSBRAUCH – TODESURSACHE, BEFUNDE UND RECHTSMEDIZINISCHE ASPEKTE
DSHS-Köln: Kardiomyopathie assoziiert mit unkontrollierter Selbstmedikation anaboler Steroide
Int J Sports Med 2011: Increased Average Longevity among the “Tour de France” Cyclists, (TdF-Teilnahmen 1930-1964)
DGK: Leichtathleten, Radfahrer und Schwerathleten sterben überdurchschnittlich oft an Herzproblemen, 14. 4.2012
de Mondenard: amyotrophe Lateralsklerose/Lou-Gehrig Syndrom und Fußball
de Mondenard: Amarican Football – verringerte Lebenserwartung
Spiegel, 21.7.1969, Griff zum Gift
der Spiegel 24/1991, Schlamm in den Adern
Nouvel Observateur, 1.7.1999, La mort au bout de la route
Ärzte Woche, Nr. 35, 2002, Vom Sportler zum Infarktkandidaten
Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin (Jahrgang 51, Nr. 5 (2000)), Erhöhte Sterblichkeit nach vermutetem längeren Anabolikamissbrauch
ÄRZTE WOCHE (16. Jg., Nr. 35, 2002), Vom Sportler zum Infarktkandidaten
wissenschaft.de, 25.11.2003, Anabolika-Missbrauch in der Jugend macht noch im Alter aggressiv
New York Times, 26.11.2003, DRUGS IN SPORTS; An Athlete’s Dangerous Experiment
die Welt, 16.12.2003, Olympia-Arzt Huber fordert: Radprofis intensiver betreuen
le Monde, 1.3.2004, Les morts subites suscitent des interrogations chez les cardiologues
Ralf Meutgens, 5.2004, Gesundheitsrisiko Doping
FAZ, 28.6.2005, Fahrt in den frühen Tod
le Monde, 3.11.2006, Entre 200 et 400 morts subites de sportifs par an en France
Berliner Zeitung, 26.09.2006, Der verhängnisvolle Wahn
le Monde, 10.2.2007, L’usage des corticoïdes représente un grave danger pour la santé des sportifs
FAZ, 3.3.2007, Sportsfreund Alkohol
NZZ, 7.4.2007, Der Tod ist irreversibel
WADA: “Side Effects” of “Doping drugs”
der Spiegel 36/2011, Gebrechliche Herzen
Monika; herzlichen Dank für die Unterstützung an Ralf S. und Manuela