Dr. Jochen Neubauer
Dr. Jochen Neubauer war von 1982 bis 1989 beim DDR-Klub ASK (Armeesportclub) Potsdam verantwortlicher Arzt für die Sektion Schwimmen. Nach der Wende hatte Dr. Neubauer eine Stelle am Olympiastützpunkt Potsdam inne, die er 2002, 50 Jahre alt, aufgrund seiner Einbindung in das DDR-Dopingsystem aufgeben musste. Er arbeite als Vereinsarzt von Tennis Borussia und Mannschaftsarzt des SV Babelsberg 03.
Michael Regner, seit 1978 einer der Trainer dieses Klubs, berichtete nach der Wende über seine Erfahrungen mit dem Dopingsystem vor Ort und über seine eigene Einbindung. Sein Bericht ist nachzulesen im der Spiegel, 12.3.1990 (auch in Brigitte Berendonk, Doping, 1992, S. 70ff). Regner schildert auch wie Jochen Neubauer ihn in das System integrierte. 1987 betreute Regner 2 junge hochtalentierte Schwimmerinnen (12 und 14 Jahre alt).
Auszüge aus Michael Regners Bericht
„Wie jeden Tag stand ich während des Trainings am Beckenrand, als mich der beim ASK Potsdam für die Sektion Schwimmen zuständige Arzt Jochen Neubauer zu sich ins Zimmer 131 an der Kopfseite der Halle bat. Neubauer schloß die Tür hinter sich, wir saßen uns an seinem kleinen Konferenztisch gegenüber. Dann legte er einen verschlossenen Briefumschlag auf den Tisch. „Paß mal auf“, sagte der Arzt, „hier sind ein paar Pillen drin. Red da mal nicht drüber und gib denen, die zur Europameisterschaft fahren, pro Tag eine halbe Tablette. Du wirst sehen, das ist gut so.“
In dem Umschlag waren 12 blaue Tabletten, rund, etwas vier Millimeter lang. Jeweils eine halbe davon sollte ich den Schwimmerinnen während der nächsten 12 Tage verabreichen – „und zwar am besten so, daß sie nichts davon merken“, wie Dr. Neubauer betonte. Der Einfachheit halber könne ich die Pillen in Wasser auflösen und sie dann „dem Vitamingetränk beimischen“. Auf meine Frage, was das denn überhaupt für ein Mittel sei, meinte Neubauer lapidar: „Das erkläre ich dir ein andermal. Gib das mal, ist schon okay.“
Schließlich klärte er mich noch über mögliche Nebenwirkungen auf. „Die Mädels“, meinte er, würden durch diese Tabletten vermutlich „ein bissel lustiger“ werden, und sollte eine Sportlerin zudem „über Verspannungen klagen“, so müsse man eben mal einen Tag mit der „Gabe“ aussetzen. Weil uns beide zu diesem Zeitpunkt schon ein absolutes Vertrauensverhältnis verband, habe ich an diesem Tag keine weiteren Fragen gestellt und mich strikt an die Anweisungen gehalten.“
Regner meinte, er habe zu dem damaligen Zeitpunkt nicht gewusst, dass es Oralturinabol gewesen sei und er die minderjährigen Mädchen gedopt habe. Das wurde ihm erst im Laufe der nächsten Monate klar. Ende September 1987 wurde er von Dr. Neubauer aufgefordert eine Geheimhaltungserklärung zu unterschreiben dahingehend, „daß alles was im Zusammenhang mit den „Unterstützenden Mitteln“ (UM) steht, der strengsten Geheimhaltung unterliegt.“ Der Trainer wollte wissen, was denn UM seien, erhielt die Antwort darauf von Neubauer aber erst vier Wochen später, „dies sei ein Beitrag von medizinischer Seite, der die Sportler belastungsverträglicher macht und auch psychisch ein bißchen lockerer.“
Nachdem Regner den Trainerposten für die ‚weibliche Spitzengruppe des ASK Potsdam‘ erhalten hatte, wurden ihm die Dopingmittel nicht mehr versteckt sondern in Originalverpackungen gereicht. Er hatte sie dann ‚ohne dass es jemand merkt‘ auszugeben. Ein DDR-zentrales ‚Programm für die sportmedizinische Untersuchung‘ steuerte das Anabolikadoping. Darin wurde penibel festgehalten, welche Sportler wann was erhalten haben. Die Dosierung sei jedoch vor Ort vorgenommen worden. Verantwortlich vor Ort waren die Klubärzte. So hatte Dr. Neubauer bei den Gesprächen mit Regner „meist den Ordner mit den Terminen für meine Sportler vor sich liegen. Die Anforderungen wurden stets genau befolgt, denn sie garantierten perfektes Training: Nie wurde ein Mitglied des ASK Potsdam des Dopings überführt.“
Feste Dosierungen gab es nicht. Die Trainer standen untereinander in Konkurrenz, die Erfolge der Sportler waren auch die Erfolge des Trainers und so behielt jeder seine Mengengaben für sich. Abgestimmt werden durften diese nur mit dem Arzt.
Dass Neubauer auch über Neuentwicklungen und deren Erprobungen informiert war, wird deutlich durch eine Bemerkung gegenüber Regner 1988, wonach „zur Zeit neue Dopingmittel ausprobiert werden, die aus Nasenspray-Fläschchen eingenommen werden. Dieses Experiment habe sich aber, so der Doktor, „nicht bewährt“.
Im April 1989 in Vorbereitung auf einen Länderkampf mit der UDSSR erfuhr Regner weitere Details einer ‚perfekten Vorbereitung‘. Die Gabe von Oral-Turinabol war demnach lediglich eine erste Phase („M1“). Danach sollte er
„vier Tage lang eine andere Sorte von Medikamenten verabreichen. In Fachkreisen nenne man das „M2″. [STS 646] Vom 14. bis 17. April gab ich jeder Sportlerin täglich eine weiße Fünf-Milligramm-Tablette, die ich wiederum in einem Umschlag vom Doktor bekommen hatte: Bis zur Europameisterschaft im August in Bonn mußte dieser Zyklus noch zweimal wiederholt werden, und zwar jeweils während eines Höhentrainingslagers.“
Regner bekam zunehmend Gewissensprobleme auch weil er anhand von Selbstversuchen die Wirkungen einschließlich der Gefährlichkeit der Anabolika feststellen konnte.
nach der Wende
Nach der Wiedervereinigung arbeitete Dr. Neubauer am Olympiastützpunkt in Potsdam.
Ende 1993 verlangten die Anti-Doping-Kommission von DSB und NOK sowie der Bundesausschuß Leistungssport im DSB, der Potsdamer Olympiastützpunkt solle sich von dem Arzt trennen. Zugrunde lagen die Aussagen Michael Regners. Neubauer habe noch keinen ‚Nachweis fehlender Beteiligung am Doping-System der DDR‘ erbracht. Die Angelegenheit war danach auch Thema in einer Stadtverordnetensitzung Potsdam Anfang Dezember 1993.
„Die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Potsdam hat am Mittwoch beschlossen, im Trägerverein des Potsdamer Olympiastützpunktes (OSP) für die Beendigung des Honorarvertrages mit dem Doping-belasteten Mediziner Jochen Neubauer einzutreten. Er soll auch seine Praxisräume auf dem Gelände des OSP aufgeben. … Auch die für Sport zuständige Dezernentin des Potsdamer Magistrats, Hannelore Knoblich (SPD), bestätigte, daß der Antrag zur Beendigung des vertragslosen Nutzungsverhältnisses von Praxisräumen angenommen worden sei. Den Auftrag zur Beendigung des Honorarvertrages mit Neubauer wollte sie nicht bestätigen. Dieser sei in einem Änderungsantrag enthalten gewesen, über den ihrer Erinnerung nach nicht abgestimmt worden sei. Man müsse das Protokoll der Sitzung abwarten, sagte sie. Potsdam hat eine von fünf Stimmen im Vorstand des Trägervereins.“ (FAZ, 3.12.1993)
Neubauer, auch IM „Till Kramer“, blieb jedoch weiterhin angestellt. 1996 schreibt der Spiegel
„Neubauer hat nach wie vor einen Honorarvertrag mit dem Olympiastützpunkt (OSP) in Potsdam. Die Stadtverordnetenversammlung der brandenburgischen Hauptstadt, die inzwischen Eigentümerin des Geländes ist, akzeptierte zudem ausdrücklich einen Mietvertrag, den der Arzt mit dem OSP-Trägerverein zur Führung einer Privatpraxis auf dem Sportgelände abgeschlossen hatte.“ „Den Medaillenfreunden aus Brandenburg erscheint Neubauer unverzichtbar. Ohne ihn, schreibt die Potsdamer Stadtverwaltung in einer Vorlage, wäre die „Vorbereitung für die Olympischen Spiele in Atlanta besonders in Kanu und Schwimmen umfangreich gefährdet“. Damit sei auch „der Bestand des Bundesleistungszentrums in Frage gestellt“. (der Spiegel, 8.4.1996)
Im Frühjahr 2000 wurde Jochen Neubauer wegen „vorsätzlicher Beihilfe zur Körperverletzung in zehn Fällen“ zu einer Geldstrafe von 9 000 Mark verurteilt. Danach forderte der deutsche Sportbund erneut, Neubauer habe seine Stelle am Olympiastützpunkt aufzugeben, ansonsten werden dem Stützpunkt Gelder gekürzt. Doch Neubauer stellte sich stur. Forderungen, wonach er auch seine Tätigkeit als Vereinsarzt beim Fußball-Zweitligisten Tennis Borussia Berlin aufgeben sollte, weckten Widerspruch. (RPO, 28.3.2000) Der Vertrag wurde aber aufgelöst.
Die Auseinandersetzung um seine Anstellung am Olympiastützpunkt wärte bis 2002. „Doch der Sportmediziner lässt sich auch von einer Räumungsklage nicht beeindrucken, er bestelle erst dann den Möbelwagen, wenn sich die Stadt an den Umzugskosten beteilige.“ (rbb. 5.2.2002)
Neubauer hielt sich bis 2002. Am 22. Januar erklärte der Potsdamer Oberbürgermeister Matthias Platzeck, „der Sportarzt Jochen Neubauer werde binnen der kommenden Tage seine Privat-Praxis auf dem Gelände des Potsdamer Olympiastützpunktes räumen: „Endlich hat diese schier unendliche Geschichte ein Ende“, sagte Platzeck.“ (Berliner Zeitung, 22.1.2002)
Monika