Doping: 2013 Nicolet, Gérard: Sportmediziner

Frankreich Doping Geschichte(n)

2013 la Commission d’enquête sur la lutte contre le dopage –
Ermittlungskommission zum Doping im Sport

Gérard Nicolet: Sportmediziner, Arzt bei Radrennen wie der Tour de France
– Erfahrungen und Meinungen

Gérald Nicolet berichtete er am 23.Mai 2013 vor der Senatskommission unter Eid über seine langjährigen Erfahrungen insbesondere im Radsport. Er sieht den gegenwärtigen Bemühungen des Anti-Dopingkampfes in weiten Teilen kritisch. Vor allem fordert er mehr Aufmerksamkeit für die Doping-Prävention, hier seien alle gefragt, einschließlich der Mediziner. Der junge Sportler braucht Aufmerksamkeit, darf nicht allein gelassen werden, wie es heute noch die Regel sei. Zudem müsse das Umfeld der Sportler, die Eltern, Trainer usw. auf ihre Rolle hin untersucht werden, die sie hinsichtlich des Dopings spielen. Hier bestünde noch großer Handlungsbedarf.

Nicolet sagt kaum etwas über das Doping früherer Jahrzehnte, über das er, insbesondere den Radsport betreffend, gute Kenntnisse haben müsste. Die Kommissionsmitglieder stellen auch keine diesbezüglichen Fragen.

2013 Anhörung Senatskommission, Bericht und Presseecho

Eine Übersetzung seines Beitrags, ist nicht mehr online.

Übersetzung wesentlicher Textstellen:

GERARD NICOLET:

Seinen beruflichen Werdegang beschreibt Nicolet wie folgt:

… Meine Ausbildung begann beim Bataillom von Joinville, wo ich als Arzt arbeitete. Danach war ich Arzt für Jugend und Sport im Departement Jura, kümmerte mich später um Radrennen, wie der Tour de l’Avenir, Paris-Nizza, die Mittelmehrrundfahrt. Die Tour de France begleitete ich 12 Jahre, Paris-Nizza 25 Jahre und die Mittelmeer-Rundfahrt 29 Jahre lang. Bei diesen Gelegenheiten, ebenso wie bei der Moubtainbike-Tour, konnte man den Sportlern wesentlich näher sein und sie besser kennenlernen als es heute der Fall ist. Heute gibt es bei den Rennen eine größere Distanz zu den Ärzten als zu meiner Zeit.

Mit dem Skilanglauf arbeitete ich als Mediziner bei der Tour de Massifs. Ich hatte zudem das Glück Arzt der Schiedsrichter bei der Fußball-WM 1998 zu sein. Während dieser 45 Tage konnte ich etwas Erfahrung sammeln bezüglich des Anti-Doping-Kampfes in diesem Sport. Ich war als Sportmediziner am Centre hospitalo-universitaire (CHU) in Besançon, leite das sportmedizinische Centre d’évaluation in Dole, und bin leitender Mediziner des nationalen Zentrums für Ski nordisch in Prémanon … wo wir das französische Kader betreuen. Es gibt dort Hypoxie-Kammern, die im Rahmen des Anti-Doping-Kampfes diskutiert werden…

Ich übte auch Funktionen innerhalb des französischen Radsportverbandes aus. Immer noch bin ich Regionalverbands-Mediziner und ich war für 12 Jahre als Mediziner in das Direktions-Komitee gewählt. Und ich habe einen Sitz in der Disziplinarkommission dieses Verbandes, wo ich Pierre Chany von l’Équipe nachfolgte, der, als er ging, sagte, er habe genug von diesen ‚Hühnerdieben‘ (Kleinganoven), während die wirklichen Banditen in Freiheit blieben! Nach meiner Wahl nahm ich an den Sitzungen der Berufungskammer des Verbande teil, wo alle schwierigen Doping-Fälle des Radsports landen.

In früheren Jahren hatten Teams wohl schon Ärzte.
André Noret, Arzt der Tour de France,
schreibt 1981:
„Den meisten Sport-Veranstaltungen sind Mediziner oder ein medizinischer Dienst zugeordnet. Oft haben während des Ablaufs des sportlichen Wettbewerbes Teamärzte keine Möglichkeit, ihre Sportler zu betreuen. So bspw. bei den Olympischen Spielen und der Tour de France, wo die Teamärzte nur im Olympischen Dorf oder den Hotels praktizieren dürfen.
Die Tour de France als eine der größten Veranstaltungen der Welt, hat einen großen und guten medizinischen Dienst, der aber für alle Notfälle, Unfälle von Fahrern ebenso wie unter den Mitgliedern der Werbekaravane zuständig ist. … Man kann den Ärzten des medizinischen Dienstes keine Verantwortung zuschieben. Häufig haben sie überhaupt keine Zeit, sich um die Fahrer zu kümmern, zudem sind sie oft in weit entfernten Hotels untergebracht. Im Allgemeinen verbleiben dem Fahrer 5 Stunden zwischen dem Aufsuchen seines Zimmers und dem Schlafengehen. Da bleiben selbst dem Teamarzt in der Regel nur 2 Stunden für seine Radsportler.“

Frage: Als Sie Mediziner der Tour de France waren, waren Sie da auch verantwortlich für den Anti-Doping-Kampf?

Gérard Nicolet: Überhaupt nicht. Die einen behandelten, die anderen kontrollierten – das muss auch so sein. Wir waren Mediziner der Rennen, wohl wissend, dass sich deren Rolle bei der Tour de France und den anderen Rennen im Laufe der Jahre verändert hatte. 1984-1985 besuchten wir noch alle Teams. Die Teams hatten noch keine eigenen Ärzte. Am Abend war das meiste los. Wir suchten die Fahrer in ihren Zimmern auf, wo wir sie verpflegten. Damals wurden die Behandlungen im Rahmen des Teams vorgenommen. Heute betreten die Mediziner der Rennen so gut wie nie mehr die Zimmer der Fahrer, außer es liegen sehr präzise Gründe vor. Wir sind nicht so präsent, sind nicht mehr so eingespannt wie damals.

Was ist Doping?

… Alle Befragten gaben [vor der Kommission] an, dass es schwierig [für sie] sei, eine Doping-Definition zu geben. Zudem ist die gängige sehr restriktiv: es ist die Einnahme/Anwendung von Doping-Produkten. Bis in die Gegenwart ging es dabei für den Mediziner um den Missbrauch von Medikamenten. Während seiner Anhörung vor der Senatskommissions sagte Prof. Audran (Protokoll, S. 319-325) aber, dass es sich nicht nur um Medikamente handelt.

In der Tat, dieser Missbrauch existiert. Wenn man sich für Doping interessiert, muss man dessen Geschichte kennen. … Als Mediziner stelle ich dabei fest, dass von Beginn an der Glaube an die Wirksamkeit der Produkte vorhanden war. … Dieser Glaube ist heute unter Sportlern noch genauso verbreitet. … In den 1960er Jahren glaubte man z. B., man habe den Krieg gegen die Nazis mit Hilfe der Amphetamine gewonnen, da die aliierten Flieger damit länger als ihre Gegner im Flugzeug ausharren konnten. Die Sportler haben diese Botschaft vernommen…

Später kamen die Anabolika, EPO, die Peptidhormone. Zur Zeit findet man, wie Prof. Audran erklärte, Designerdrogen und Produkte, die in kleinen privaten Laboren zusammen gebraut werden. …

Aufgrund des Arztgeheimnisses kann ich wenig sagen, doch man findet heute Produkte die wahre Bomben sind, ohne dass dieses Doping organisiert wäre. …

wer dopt?

Jean-Pierre Paclet:
„Eine dritte Gruppe betrifft Sportarten in denen die physische Leistung sich aus den Faktoren Technik, kollektive Dynamik, Psyche herleitet…“

Frage: „Macht EPO im Fußball Sinn?“
Paclet: „Nein. Höchstens in der frühen Trainingsphase zu Saisonbeginn könnte man damit die Erholung fördern.“

Frage: „Sie haben Zweifel bezüglich früherer Jahre?“
Paclet: „Nicht was das Personal des Französischen Teams anbelangt sondern bez. der Praktiken in Teams, in denen unsere Spieler spielten. … Juventus und andere italienische Mannschaften. Das ist eine Frage der Kulturen. Die Engländer z. B. erlauben ihren Spielern vor dem Spiel zu trinken und zu essen, was immer sie wollen. Italien ist der harte Kern des Dopings in allen Disziplinen.“

Jean-Pierre Paclet (Anhörung, S. 583-589), einer meiner Freunde, ehemaliger Arzt der französischen Nationalmannschaft, machte hier vor der Kommission eine Unterscheidung zwischen dem Ausdauersport und den Sportarten wie Fußball, die als technische Sportarten eingestuft werden. Diese Diskussion kenne ich aus dem Jahr 1998 anlässlich der Fußball-WM, die mit der Festina-Affaire zusammen fiel. … Was musste ich mir nicht alles über den Radsport anhören. Ich antwortete damals den Kritikern: „Was glaubt ihr wohl was alles bei Juventus Turin läuft?“ Man erklärte mir, das sei alles ganz anders, denn der Fußball sei eine technische Disziplin. Ich sah welche Mühe die französische Mannschaft in Lyon gegen Dänemark hatte. Ich war am Tage des Finales im Stadion. Als Emmanuel Petit los lief um das dritte Tor für Frankreich zu erzielen, wandte ich mich an den Trainer und sagte: „Ich verstehe, er läuft darauf los, aber auf technische Art und Weise.“ Ich wollte so ausdrücken, dass Fußball keineswegs anders ist…

Ich denke, kein Sport ist ausgenommen. Nicht die Sportart entscheidet darüber, ob gedopt wird. Die 100 m waren immer schon 100 m, aber bei Ben Johnson war es sein intensives Training, das ihn zum Doping brachte. Nicht der Sport ist immer der Ursprung des Dopings sondern die Art und Weise, wie er ausgeübt wird, ändert alles.

Die Sportler unterscheiden sich nicht von Sport zu Sport. Es gibt die Tendenz Radsportler als weniger intelligent als andere zu bezeichnen. Ich meine, dies stimmt nicht. Wenn ich mir nach dem Spiel Interviews mit Fußballspielern anhöre, scheinen sie ebenso ‚hirnlos‘ wie die Radler, wenn nicht noch mehr. Die Vorstellung, der Radfahrer, der aus bescheidenen Verhältnissen kommt, müsse deshalb gewinnen, stimmt nicht ganz. Wir Mediziner sprechen von einem „Leistungsmosaik“: Das ist ein Profil, eine Einheit. Michel Serres nennt es einen „Harlekinmantel“. Es setzt sich zusammen aus genetischen, physischen und psychischen Faktoren. Dies alles muss berücksichtigt werden.

Ist es ein Problem der Volksgesundheit? Serge Simon hat das hier verneint. … Die Problematik der Volksgesundheit war aber der Grund dafür, dass man sich auf das Thema Doping stürzte. Doch man sollte Schnelligkeit nicht mit Hast verwechseln. Doch genau das hat man [vor allem 1998-1999] gemacht… Doch heute sollte man überlegter vorgehen.

Unangebracht scheint mir die Unterstellung, Ärzte seien allmächtig. Nicht alle „Doktoren“, denen ich vor allem im Ausland begegnete, waren Mediziner. Ich wurde von der Polizei im Rahmen der Affaire TVM befragt. Der Doktor, um den es ging, war überhaupt kein Arzt. Zahlreiche Präparatoren / Leistungsdiagnostiker sind es ebenfalls nicht. In Frankreich wurden Präparatoren eher Mediziner als umgekehrt. Wir haben in Frankreich das Glück, nicht allzu viele dieser Menschen zu kennen…

Als Mediziner, der Jugendliche informieren und weiter bilden möchte, sehe ich manche Begriffe kritisch: so finde ich, dass man zu viel von Doping-Mentalität [conduite dopante] spricht. Wer Vitamine oder Aspirin vor einem Wettkampf nimmt, dem wird Doping-Mentalität unterstellt. Dies sei der erste Schritt! … Man sollte Realist sei und die Bevölkerung nicht beunruhigen indem man überall Doping-Mentalität hinein interpretiert. So sehe ich das…

Ich denke ebenfalls, das Doping ein Problem der Gesellschaft ist. In einer Gesellschaft, in der man immer weniger arbeiten möchte, erwartet man vom Sportler, dass er immer mehr leistet… Hier gibt es einen Widerspruch, eine Falle für diesen…

was läuft falsch?

Ich sagte, dass man sich etwas überhastet in den Antidoping-Kampf gestützt hat… Manch einer führte sich auf wie der „Weiße Ritter“ . Das ist verheerend. Ein Abgeordneter sagte mir einmal: „Wenn ein Problem existiert, das noch nicht analysiert ist, das man noch nicht gut versteht, man aber dennoch etwas dagegen tun möchte, stehen einem zwei Techniken zur Verfügung. Die erste ist, man kündigt an, man werde handeln.“ Das geschah 1998. Man sagte, EPO sei nachweisbar. Das stimmte aber nicht. Françoise Lasne hat hier erklärt, dass der Test erst 2000 validiert wurde. Man hat eine falsche Ankündigung gemacht.

Die zweite besteht darin, dass man einen Sündenbock schafft. Es stört mich, dass sich alle auf Armstrong stürzen so wie seinerzeit auf Richard Virenque. …

1998 war ich am Genfer See, fast wäre ich Mediziner von FDJ geworden…. An jenem Tag wollte mich ein Fahrer sehen. Er sagte mir, seit 2 Jahren trainiere er wie nie zuvor, gebe sein Bestes, setze alles ein, falle aber jeden Sonntag zurück. Er wolle wissen, was er tun könne. Ich fühlte mich ratlos, wie ein Arzt, der einem unheilbaren Kranken gegenüber steht. Ich konnte ihm nichts raten. Wusste aber, dass er zwei Monate später zu den 98% Fahrern der Tour de France gehören würde, die etwas nehmen. Ich sagte mir daher, etwas müsse geschehen.

Zusammenhänge

Gewöhnlich spricht man im Sport von einer Leistungs-Kette. Der Sportler ist das letzte Glied nach den Eltern, den Trainern, den Erziehern, den Journalisten, den Medien, der Öffentlichen Hand, den Mandatsträgern. Leistung wird definiert als Zusammenspiel des Sportlers mit seiner Umwelt. Letztere spielt eine große Rolle, die man gerne vergisst. Das bedeutet, man darf den Sportler nicht isoliert betrachten, sondern muss das gesamte System unter die Lupe nehmen.

In meinem Buch [Le dopage, Nicolas Guillon, Gérard Nicolet, 2000] habe ich die Dopingspirale, in der der Sportler und der Mediziner sich befinden, beschrieben. Der geborene Betrüger wird ein Produkt benutzen, sobald es verfügbar ist. Der Sportler mit größerem ethischen Bewusstsein wird nicht sofort danach greifen, aber dann, wenn er sieht, dass es wirkt. Der Sportler mit der höchsten ethischen Überzeugung wird sich die Frage stellen: „Darf ich das nehmen oder muss ich aufhören?“ Darüber kann er nicht mit allen sprechen. Er ist allein, isoliert und der erste Lieferant, der dann vorbei kommt, wird ihm seine Produkte verkaufen. Das ist für den Sportler schrecklich…

Diese Spirale kenne ich auch in Bezug auf den Mediziner. Jemand hier vor der Kommission hat von Geltungsdrang gesprochen. Der kann Teil der Sportler, der Eltern aber auch der Mediziner sein. Einige Monate vor der Festina-Affaire, während der Mittelmeer-Rundfahrt, habe ich mich zwei Stunden lang mit dem Arzt des Teams, der ein Gespräch brauchte, unterhalten. Die Szene spielte sich im Hotel Primotel, in Marseille, ab. Ohne vom Doping in seinem Team zu sprechen, schilderte er mir seine Situation. Es war sein Traum in diesem Milieu zu arbeiten und er wollte dabei bleiben. Er wusste sehr wohl vom organisierten Doping in seinem Team, auch wenn er selbst nicht der Organisator war, aber er befand sich in dieser Spirale und blieb darin. Einige Monate später verstarb er. Auch er war in diese Falle geraten, die sich dem Sportler stellt. Diese Isolierung scheint mir schwierig und wird nicht genügend beachtet. Mir scheint, den Sportler isoliert zu betrachten, ist ein Fehler. Diejenigen, die meinen, es genüge ihn zu sanktionieren, irren ebenfalls.

Lösungswege

Was soll der Arzt nun machen? Er muss versuchen, die allgemeinen und individuellen Werte zu respektieren. Das ist nicht einfach… Der Sportarzt ist kein Richter, ist aber Teil der Leistungskette. In diesem Zusammenhang muss er die Entwicklung des Sportlers, insbesondere des heranwachsenden, sicher stellen. Die interessanteste Arbeit hierbei ist dabei zu helfen, Fortschritte zu erzielen.

Die Aufgabe des Mediziners besteht darin, den Sportler zu begleiten, aber vor allem muss er ihm die Wege der sportlichen Praxis aufzeigen, sei es für den Wettkampf oder in der Freizeit, indem dieser lernt, die ethischen Regeln zu respektieren um seine Gesundheit zu schützen. Es ist wichtig, dass der Sportler fühlt, dass genau dies die wichtigste Aufgabe des Arztes ist. Die Risiken des Dopings und Folgen dieser Praktiken müssen Hauptanliegen des Arztes, insbesondere bei Jugendlichen sein.

Hierbei sind einige Bedingungen zu beachten. Im Kontakt mit dem Sportler muss das Arztgeheimnis gewahrt bleiben. Es ist unvorstellbar, dass der Arzt Informationen über den Sportler preis gibt. Der Staat hat das Aussageverweigerungsrecht geschaffen, Journalisten müssen ihre Quellen nicht weiter geben aber der Arzt sollte sich nicht auf sein Arztgeheimnis berufen dürfen? Das scheint mir sehr wichtig, wenn man möchte, dass sich die Leute anvertrauen und die Mechanismen unterbrochen werden. Es gibt keine andere Lösung!

Deshalb können die regionalen Antidoping-Einrichtungen, wo die Sportler sich einer Antidoping-Agentur stellen sollen, nicht funktionieren. Ich selbst hätte mich geweigert das Arztgeheimnis zu lösen, so wie es die Ärztekammer von uns verlangt hat.

Zusammengefasst sieht die Zukunft für einige düster aus. Prof. Audran zeigte sich sehr beunruhigt angesichts der Einführung neuer Produkte, darüber, dass die Wirksamkeit von Dopingkontrollen aufgrund der Unkenntnis über diese Produkte abnimmt. Manche schlagen vor, die Sanktionen zu erhöhen: doch die Kontrollen bringen immer weniger positive Fälle. Hier handelt es sich um den Ankündigungsseffekt. Man will sanktionieren, was man gar nicht findet.

Die alleinige Berücksichtigung des Sportlers ist ein Fehler. Man muss alle um ihn herum einbeziehen. In Franche-Comté hatten wir gemeinsam mit einem Turnlehrer versucht, eine Kommission zu gründen, mit dem Ziel Erzieher für Doping-Prävention auszubilden. Sobald man dabei aber auf ein höheres Leistungs-Niveau trifft, mit Geld und Abhängigkeiten, bleibt man außen vor. Man muss daher den Personen, die Glieder der Leistungs-Kette sind, ihre Verantwortung bewusst machen. Daher bin ich froh darüber, heute hier sprechen zu können. …

Entwicklung von Doping-Mentalität

Frage: … Sie sprachen davon, dass die sog. Doping-Mentalität [conduites dopantes] weniger gefährlich sei als angenommen. Aber man rät den jungen Sportlern – Schülern, Junioren – vor Wettkämpfen Vitamine einzunehmen und Getränke zu konsumieren, die mehr oder weniger gefährlich sind. Das ist vielleicht nicht gefährlich aber könnte damit nicht eine Verhaltensänderung eingeleitet werden? Wenn diese Kinder dann eines Tages Profis werden sollten oder Amateure auf hohem Leistungsniveau, werden es keine Vitamine mehr sein sondern andere Produkte. Beeinflusst man damit nicht Verhaltensänderungen?

Gérard Nicolet: Ich stimme Ihnen zu. Was ich ansprechen wollte, ist die inflationäre Verwendung des Begriffes Doping-Mentalität [« conduite dopante »]. Die Jungen verstehen unter Doping etwas anderes als die Älteren. Für sie ist Cannabis kein Doping, das ist eine Partydroge. Und von Koffein sprechen wir am besten gar nicht mehr.

Die größten Schwierigkeiten bestehen in der Information. Woher bekommen die Jungen ihre Informationen über Doping? Fast ausschließlich über die Medien. Während eines Informationsabends zum Thema Doping versuchten wir mit Hilfe eines Artikels die Aufmerksamkeit der Jugendlichen zu erhalten. Darin wurden alle Produkte beschrieben, die zur Leistungssteigerung angewandt werden. Zudem wurden alle Produktnamen genannt. Wenn man versucht die Jugendlichen vom Flicken des Fahrradschlauchs abzuhalten werden die Fahrradhändler sie am nächsten Tag über den Tisch ziehen. Jugendliche sollten nicht wie andere behandelt werden. Es sind keine zurück gebliebenen Erwachsene. Sie haben nicht dieselbe Psyche, nicht dieselben Vorstellungen. Es gibt sicher einiges in Bezug auf diese Problematik zu tun, aber ihnen Angst zu machen, scheint mir weit gefährlicher als hilfreich zu sein. Sie allein zu lassen, ist sehr gefährlich…

Diese Informationen müssten auf allen Ebenen der Leistungskette angeboten werden. Leider gibt es Eltern, die wollen, dass ihre Kinder so erfolgreich sind, dass deren Name in den Zeitungen erwähnt wird. Es ist sehr wichtig, dass der Trainer, der den Kontakt zum Sportler hat, eine moralische Vorstellung davon hat, wie er damit umgehen soll. Der Sportler muss sich an jemanden wenden können und darf sich nicht allein gelassen fühlen in Situationen, in denen ihm unerlaubte Lösungen angeboten werden.

Frage: Was denken Sie über Nahrungsergänzungsmittel? Stellen sie eine Gefahr da? …

Gérard Nicolet: … Eine Freundin von mir, Catherine Garrel, die mit dem Arzt von AS Monaco zusammen arbeitet, hat eine Studie unter den Profi-Teams durchgeführt um fest zu stellen, wie hoch das Interesse an solchen Produkten ist. … Sie wollte wissen, ob diese Produkte auf freie Radikale wirkten, was sehr gefährlich für die Gesundheit wäre. Ihre Studie wird demnächst in einer Sportmedizinischen Zeitschrift erscheinen. Sie kam zu dem Schluss, die Mittel sind nutzlos. Die Produkte sind unwirksam aber möglicherweise gefährlich, da sie die Homöostase verändern. … Es werden sicher viel zu viele Nahrungsergänzungsmittel eingenommen. Die Ergänzungsmittel sind da um zu ergänzen. Wenn man sie nicht braucht, muss man sie auch nicht nehmen. Hierzu muss noch viel gearbeitet werden. Jean-Pierre Fouillot hat dies getan. Hier handelt es sich nicht nur um Doping-Verhalten, das könnte auch ein Kampf gegen sinnlose Produkte sein.

Ich erinnere mich an einen jungen Schweizer Radfahrer, der nach Vitamin B 15 verlangte, das es damals noch nicht gab. Ich antwortete ihm, wenn er das nötig hätte, wäre es der Mühe nicht wert, Profi werden zu wollen. Andererseits bräuchte er es auch nicht. Wir benötigen Informationen. Zu diesem Themenkomplex muss noch viel Arbeit von den Spezialisten geleistet werden. …

Verhalten der Ärzte

Frage: Einige Sportler geben an … dass sie die illegalen Medikamente von ihrem Arzt bekommen hätten. Scheint Ihnen das glaubwürdig? …

Gérard Nicolet: …1967 nahm der Franzose, der eine Grippe hatte, Amphetamine, die er in der Apotheke frei kaufen konnte. In der Zeit, in der die Ärzte den Sportlern die Medikamente gaben, stellten letztere keine Fragen. Manche Ärzte haben dies möglicherweise missbraucht. Heute möchte man, dass der Sportler Verantwortung übernimmt und die Produkte kennt, die er einnimmt. Das Team AG2R muss für acht Tage seinen Rennbetrieb einstellen, weil einer seiner Fahrer EPO genommen hatte, der zweite dann Heptaminol – Ginkgo forte, für das man im TV in Zusammenhang mit guter Wirkung auf Frauenbeine wirbt. Der eine wurde mit 52 km/h im Ortsbereich geschnappt, der andere mit 220 km/h auf der Autobahn [in Frankreich gilt ein Tempolimit von 130 km/h].

Das erzählt man aber weder den Profifahrern noch den Allgemeinmedizinern. Die Sportmediziner wollen normalerweise gar nicht in der Liste, die jährlich zum 1.1. erneuert wird, nachsehen, ob das Mittel, das sie verschreiben, verboten ist oder nicht. Sie verweigern sogar die Annahme jegliche Information darüber. Die Ärzte kennen daher weder die Liste, noch die Produkte gut und weisen jede neue Vorschrift in Verbindung mit Doping zurück.

Frage: … Erhalten die Teamärzte ein Entgeld in Abhängigkeit von den Erfolgen?

Gérard Nicolet: Das ist streng verboten. In Frankreich ist das System vollständig transparent. Es wird gerne als Beispiel angeführt, Und das ist richtig. Man weiß natürlich nicht, was anderswo geschieht. …

Lance Armstrong

Frage: Waren Sie über die Armstrong-Affaire erstaunt? Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Gérard Nicolet: 1998 hieß es 98% des Pelotons würden Substanzen einnehmen. 1999 rechnete man mit der Hälfte, obwohl der EPO-Test noch nicht zur Verfügung stand, der wurde erst 2000 bei den Olympischen Spielen in Sydney eingesetzt.

Ich hatte für Armstrong immer dieselbe Wertschätzung: großer Champion, mental außergewöhnlich stark, hohe Professionalität. 1995 rief mich der Teamarzt Massimo Testa, der ein großartiger Arzt war, jedes Mal an, wenn Armstrong ein traumatologisches Problem hatte. Er behandelte keine Verletzungen des Bewegungsapparates, kümmerte sich nur um die Präparation. Das Team umgab sich bereits damals mit allen möglichen Spezialprofis, es hatte 1995 bereits einen eigenen Koch.

Man kann sich kaum vorstellen, dass jemand, der so professionell vorgeht, nicht auch Doping anwendet, wenn die anderen Sportler danach greifen. Es war fast klar, dass er verbotene Mittel einnahm. … Ich habe niemals gesagt, dass er dopte, aber ich habe es immer gedacht. Was mir heute nicht gefällt, ist, dass man sich auf den Fall Armstrong konzentriert, währenddessen es noch einiges andere gibt. Das scheint mir für den Anti-Doping-Kampf wenig hilfreich.

Fazit

Frage: Möchten Sie noch ein paar abschließende Worte sagen?

Gérard Nicolet: Ich wollte meine Sicht der Dinge als Mediziner darstellen. Ich weiß, dass im Anti-Doping-Kampf jeder in seinem eigenen Bereich arbeitet, aber obwohl es Felder gibt, in denen dies sehr gut funktioniert – Zoll, Polizei – finde ich es schade, dass man Doping so sehr kriminalisiert. Den Sportler zu isolieren, ist ein schwerer Fehler. Er muss Gehör finden können, seine Probleme müssen verstanden werden, bevor er zu Doping greift.

Der Sportler braucht ein Umfeld, in dem er ethisches Verhalten und Methoden lernt, die es ihm ermöglichen, ohne Doping aus zu kommen.

Was die Spitzensportler anbelangt, habe ich allerdings, vor allem als Mediziner, keine Idee darvon, was zu machen wäre.

Man muss in Bezug auf die Möglichkeiten, die uns zur Verfügung stehen bescheiden bleiben, aber ich denke, noch sind nicht alle ausgeschöpft. Das ist ein gesellschaftliches Problem, wenn diese sich nicht ändert, wird es schwierig.