Corticosteroide / Glukocorticoide
Im Juni 2008 äußerte sich die französische Antidoping-Agentur besorgt über den leichtfertigen Umgang mit den Corticosteroiden (>>> Zusammenfassung, Le Monde, 5.6.2008). Häufig würden von Ärzten Ausnahmegenehmigungen erteilt, die therapeutisch nicht gerechtfertigt seien. Ein Problem, das seit Langen sportübergreifend bekannt ist. Ärzte verschreiben kritiklos das Medikament, Sportler täuschen Symptome vor oder Ärzte bestätigen die Notwendigkeit der Mittel in der Absicht, den Sportlern entsprechendes Doping zu ermöglichen. Bestätigt wurde dieses ‚legale Doping‘ jüngst wieder einmal in Rahmen der Enthüllungen um die Freiburger Sportärzte.
Die französische NADA bemängelte insbesondere die Zunahme von TUE-Anträgen (Ausnahmegenehmigungen) für jugendliche Sportler, denen Ärzte vor Wettkämpfen Cortison-Spritzen geben wollten. Professor Gerhard Treutlein vom Heidelberger Zentrum für Doping-Prävention sieht hier ebenfalls einen unverantwortlichen Umgang mit der Gesundheit von Sportlern, insbesondere konterkariert dieses Ärzteverhalten bei Jugendlichen jegliche Doping-Präventionsbestrebungen.
Doch die Verwendung von Corticosteroiden im Ausdauersport, insbesondere im Radsport, hat eine lange Tradition.
lange Tradition
die Zeit, 8.12.1978:
Frage: Wildor Hollmann vom Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin in Köln berichtete dem Deutschen Sportärzte Kongreß, noch niemals seien ihm so viele Fälle der Glukocorticoide Einnahme bekannt geworden wie in diesem Sommer. Was bewirkt dieses Mittel in welchen Sportarten und wie läßt sich der Gebrauch nachweisen?Donike: In Frankreich wird in der Presse offen diskutiert, daß der „Einbruch“ von Bernard Thevenet bei der diesjährigen Tour de France auf die übermäßige Einnahme von Cortico Steroiden zurückzuführen sei. Diese Mittel werden dazu verwendet, eine psychische Stimulation hervorzurufen. Sie soll die Stimulation durch Amphetamine, die wegen der Kontrollen nicht mehr möglich ist, ersetzen.
Die Glukokortikoide / Corticosteroide (Cortison ist ein Vertreter) eroberten den Dopingmarkt in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Im Ausdauersport zählen sie zu den am meisten verwendeten Substanzen und wurden 1975 vom IOC auf die Verbotsliste gesetzt, die UCI folgte 1980.
Ihre Verwendung/ihr Missbrauch findet sich vor allem in Ausdauersportarten, da diese Medikamente eine katabole Wirkungen haben, im Kraftsport werden eher Cortisonblocker eingesetzt.
Erst 1999/2000 gelang es die synthetischen Kortikoide direkt im Urin nachzuweisen, die ’natürlichen‘ scheinen trotz Ankündigung noch unentdeckt zu bleiben. Zuvor wurden sie nach Meinung des Leiters des Analyse-Lobors in Lausanne, Martial Saugy, von den Athleten eingenommen wie Lebensmittel.
In Kombination mit Amphetaminen wurden/werden Corticoide in Wettkämpfen (z. B. bei Kriterien, bei denen keine Kontrollen stattfinden) benutzt, die wechselseitige Wirkungsverstärkung kann eine euphorische Stimmung hervorrufen. Auch die Verbindung mit Anabolika fand im Ausdauersport und somit im Radsport Zustimmung. Die Nachteile, die mit dem Anabolika-Konsum während der Muskelaufbauphase vor den Wettkämpfen verbunden sind, lassen sich durch Cortisongaben ausgleichen.
In der Regenationsphase sind beide Produkte zusammen beliebt. Es genügen in etwa die therapeutischen Dosen, sie müssen aber individuell angepasst werden. Dies bedingt, dass sich eine medizinische Betreuung anbietet, um die richtigen Dosierungen hinzubekommen und schwerwiegende Nebenwirkungen zu verhindern. Möglich ist das durch eine direkte Kortisonzufuhr aber auch mittels Stimulation des körpereigenen Kortisons durch ACTH (ein natürliches Peptidhormon). Einer der Hauptgründe für den Kortison-Misbrauch dürften aber deren euphorisierenden Effekte sein und eine gewisse positive Wirkung auf die Regeneration.
2008 Dopingrelevanz, Ausnahmegenehmigungen
Im Radsport flammte die Diskussion um das Kortikoid-Verbot immer wieder auf. Hein Verbruggen trat noch 2002 offen für eine weitgehende Freigabe ein.
Da die Kortikoide im Radsport in den 80ern und 90ern zur festen Ausrüstung fast eines jeden Fahrers gehörten, fühlte sich die UCI z. B. 1994 berufen, von einer belgischen Forschergruppe eine Untersuchung durchführen zu lassen. In Zusammenarbeit mit Pharmakologen, Trainern und Sportärzten unterzogen sich in Brüssel 16 Radprofis einem mehrtägigen Leistungstest mit und ohne Corticoide. Als Ergebnis wurde festgehalten, dass der Vorteil dieser Wirkstoffgruppe vor allem in einem verminderten subjektiven Belastungsempfinden liege und dass die Regeneration positiv beeinflusst werden könnte, die maximale Leistung selbst werde nicht beeinflusst (Kern, 2002). Eine gewisse Dopingrelevanz wurde damit bestätigt, der Missbrauch dieser Medikamente ging nach dieser Studie jedenfalls nicht zurück.
Mit Unterzeichnung des WADA-Codes durch die UCI gelten dessen Bestimmungen auch im Radsport verbindlich. Die Diskussion um die Zulassungen riss allerdings nie ab. Bestrebungen, die Corticoide frei zu geben bzw. deren Anwendungsbestimmungen großzügiger auszulegen, schlagen sich in den Überarbeitungen des WADA-Codes, speziell in dessen Verbotsliste nieder. Die einzelnen Medikamente und Wirkstoffgruppen können auf der NADA-Datenbank nachgefragt werden: >>> NADAMed
s. a. >>> dopinginfo.de
Nachdem in den Jahren 2015 und 2016 weitere Sportarten, insbesondere die Leichtathletik , Schwimmen, Gewichtheben und der Wintersport öffentliches Interesse erregten (Doping in Russland, OS Sochi usw.) wurde auch die Praxis der Ausnahmegenehmigungen und deren Missbrauch zu Dopingzwecken breit diskutiert. Laut WADA waren bei ihr 2013 636 TUEs und 2015 bereits 1330 registriert (Zeit Online, Perikles Simon im Interview 16.9.2016). Die Glucocorticosteroide gehören hier Sport übergreifend zu den häufigsten Medikamenten, für die diese TUE ausgestellt werden. Wie dies gehandhabt wird, berichtete Langstreckenläuferin Lauren Fleshman 2015. Ihr wurde von Startrainer Alberto Salazar, Leiter des Nike Oregon Project, nahegelegt, mit Hilfe der Ausnahmegenehmigungen Asthmamittel und andere Medikamente zur Leistungsunterstützung anzuwenden (propublica.org, 17.6.2015).
Den Radsport erreichte die Diskussion um die TUE erneut 2016/2017 mit der Affaire um Braddley Wiggins und Team Sky. (tagesanzeiger.ch, 21.10.2016, cyclingnews.com, Timeline of UKAD investigation into Team Sky and British Cycling)
Die Nebenwirkungen sind ernst. Bei Dauermedikation können Vollmondgesicht, Stammfettsucht, Stiernacken, Gewichtszunahme auftreten, alles Symptome, die aus der Anfangszeit des Cortisonmissbrauchs bekannt sind. Auch Osteopenie (Knochenschwund) ist dokumentiert.
„Als junger unerfahrener Arzt hatte ich mich bemüht, die Rückenschmerzen eines Eliteradrennfahrers abzuklären. (..) Nach meiner Ankündigung, dass dazu eine sogenannte Beckenstanze notwendig sei, um eine Probe des Knochenmarks zu gewinnen, ereilten mich einige Anrufe von Kollegen, die mich davon überzeugen wollten, dass die Indikation für diesen Eingriff nicht gegeben sei. Sie haben mich „zu Recht“ überzeugt, da die Ursache für die Osteopenie bei den erfahrenen Kollegen bekannt war.“ (Dr. Stockhausen in R. Meutgens, 2007, S. 161)
2006 erbrachte eine französische Studie, dass der Dauerkonsum von Corticoiden eine Nebenniereninsuffizienz auslösen kann, da die endogene Produktion von Cortisol gestoppt wird. Der Tod unter Stressbedingungen z. B. bei Infektionen, kann danach nicht ausgeschlossen werden. Nach Professor Yves Le Bouc von der französischen Nationalen Antidoping-Agentur kann dies auch den plötzlichen Herztod hervorrufen. Die Studie basiert auf der Untersuchung von 659 Radsportlern zwischen 2001 und 2002, von denen 85 Corticosteroide verschrieben bekommen hatten, 34 von ihnen zeigten Anzeichen einer Nebenniereninsuffizienz. (le Monde, 10.2.2007) siehe dazu auch den anfangs zitierten Le Monde-Artikel vom 5.6.2008.
Die Bewegung für einen glaubwürdigen Radsport > M.P.C.C., die sich vor der Tour de France 2007 gründete, berücksichtigt die mit Corticosteroiden verbundenen Probleme. Teams, die sich angeschlossen haben, erlauben Corticoidgaben erst nach einem enstprechenden Attest des Teamarztes, der damit gleichzeitig dem Fahrer eine 15tägige Rennpause verordnen muss.