2007 Andreas Singler: Zwischen Doping und Sucht
Kokain gehört zu den Dopingmitteln, bei denen der Sport seine kranke Seele zeigt
Kokain ist der Öffentlichkeit als Suchtmittel seit langem vertraut. Weniger bekannt ist, dass Kokain auch im Sport zur Leistungssteigerung oder zum Stressabbau genommen wird. Immer wieder werden prominente Sportler wegen Kokainmissbrauchs gesperrt. Der italienische Radprofi Marco Pantani starb nach Beendigung seiner Karriere sogar an einer Überdosis.
Kokain und Hochleistungssport – passt das wirklich zusammen? Ein berüchtigtes Suchtmittel, dem zahlreiche Menschen jedes Jahr zum Opfer fallen, und die schönste Nebensache der Welt? Es passt zusammen, eine Fülle von Einzelfällen belegt dies. Der argentinische Fussballstar Diego Maradona nahm Kokain, der österreichische Skispringer Andreas Goldberger oder eben der italienische Radsport-Profi Marco Pantani. Pantani, Gewinner der Tour de France 1998, starb 2004 an seiner Drogensucht, nachdem er während seiner Karriere bereits als Dopingsünder in Erscheinung getreten war.
Kokain putscht auf
Auch im Tennis, wo Martina Hingis nach positiver A- und B-Probe des Dopings mit Kokain überführt scheint, ist Kokain in regem Gebrauch. Den «weissen Sport» und das weisse Pulver verbindet seit langem eine dubiose Allianz, bei der beide Komponenten der Kokainproblematik – der Sucht- wie der Betrugsaspekt – gerne bagatellisiert werden. 1995 wurde das schwedische Doppel Mats Wilander und Karel Novacek bei den French Open in Paris überführt. Schon früher hatten der Franzose Yannick Noah und der Amerikaner Vitas Gerulaitis ganz offen über ihren Marihuana- und Kokainkonsum gesprochen. Gerulaitis soll Anfang der 80er-Jahre sogar den Kauf von Kokain im Wert von 250 000 Dollar in Auftrag gegeben haben.
Bisweilen wird noch immer eingewendet, Kokain sei eine Droge, deren Konsum mit Doping nichts zu tun habe. Dies wird von massgeblichen Fachleuten zurückgewiesen. Kokain wirkt aufputschend, euphorisierend geradezu. Als «eine Art Edel-Koffein» bezeichnete es die Berliner Professorin Monika Schäfer-Körting. Die leistungssteigernde Wirkung ist offenkundig. Dem steht nicht entgegen, dass zahlreiche Prominente, die wegen Kokainmissbrauchs von den Strafbehörden verfolgt wurden, ausgerechnet in schwierigen Lebensphasen zur Droge gegriffen haben, um übergrossen Stress zu bewältigen. «Kokain», sagte der französische Suchtexperte William Lowenstein der Zeitung «Le Monde», «hilft, extreme Situationen zu ertragen.»
Tennissport im Zwilicht
Krisensituationen gibt es auch im Leistungssport zuhauf, speziell im zirkusartigen Tennisbetrieb, in dem Höchstleistungen unter schwierigen Bedingungen in fast pausenloser Serie abgerufen werden. Dass dem Körper von Tennisprofis dabei unmittelbar nach den obligatorischen Fernreisen bei noch unbewältigter Zeitverschiebung maximales Leistungsvermögen abverlangt wird, gehört zu diesen betriebsbedingten Widersinnigkeiten des Sportgeschäfts. Drogen können ein Mittel sein, mit dem Sportler diesen unnatürlichen Lebensrhythmen begegnen, um überhaupt wieder spielfähig zu werden. Kokain hat im Tennis also aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet leistungssteigernde Effekte.
Dass speziell aus dem Tennis nicht noch viel mehr zum Thema Kokain zu hören ist, liegt am Umgang dieses Sports mit der Dopingproblematik insgesamt. Der Tennissport behauptet von sich selbst, aller offenkundiger Fakten unbeirrt, eine weisse Weste zu haben – also eine «saubere» Sportart zu sein. Kommt der Sport insgesamt ohnehin kaum einmal über Aufklärungsquoten von einem Prozent positiver Fälle bei seinen Dopingkontrollen hinaus, so ist die Zahl positiver Fälle im Tennis besonders gering. Hier ist ein Interesse an einer ehrlichen Dopingbekämpfung noch nie offensiv vermittelt worden.
Eher dürfte das Gegenteil zutreffen. Ernsthafte Dopingbekämpfung könnte dem Geschäft schaden, daher wird sie allenfalls symbolisch betrieben. So jedenfalls drückte es die frühere deutsche Nummer eins der Weltrangliste, Boris Becker, aus. «Die Frage ist, ob die Spielergewerkschaft ATP eine Probe überhaupt positiv ausfallen lassen kann, weil dann die ganze Szene in Verruf gerät und die Sponsoren erst recht weggehen», sagte Becker Anfang der 90er-Jahre in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». Nach seiner Beobachtung war Doping im Tennis damals insbesondere mit Rauschmitteln in regem Gebrauch.
Sport ist therapiebedürftig
Wird über Doping gesprochen, so steht mit dem Versuch, die Leistung zu steigern, der Aspekt des Betrugs im Vordergrund. Manches spricht aber dafür, dass darüber hinaus Doping verstärkt auch unter dem Aspekt der Suchtproblematik diskutiert werden sollte. Viele Dopingmittel erfüllen sowohl die Kriterien für betrügerische Leistungssteigerung als auch für das Problem der Medikamenten- und Drogenabhängigkeit. Dabei zeigte eine Studie in Frankreich, dass die Mehrheit der drogenabhängigen Sportler nicht über Doping abhängig geworden ist, wie William Lowenstein «Le Monde» mitteilte. Manches spricht dafür, dass betrügerisches Doping und krankhaftes Suchtverhalten unterschiedliche Symptome desselben Urhebers sind: Der Leistungssport selbst steht damit als pathologisches Multi-Phänomen zur Debatte.
Forschungen in Frankreich haben gezeigt, dass mit der Erhöhung des körperlichen Trainings auch das Verlangen nach Produkten wie Aufputschmitteln oder Kokain ansteigt. Besonders problematisch ist das Ende der Laufbahn. «Körper und Geist sind genauso durcheinander wie bei einem Raumfahrer, der zur Erde zurückkehrt», beschreibt Lowenstein diesen schwierigsten Punkt im Karriereverlauf von Sportlern. Unter seinen Patienten befindet sich eine bedenklich hohe Zahl an ehemaligen Leistungssportlern. Ist es tatsächlich der Sport, der die Menschen krank macht, dann wird man dem Problem des Kokainmissbrauchs mit ein paar Wettkampfsperren nicht beikommen können. Dann ist der Sport selbst therapiebedürftig.
Andreas Singler ist Sportwissenschafter und arbeitet als freier Autor und Journalist in Mainz. Im neu gegründeten Heidelberger Zentrum für Dopingprävention ist er für den Bereich wissenschaftliche Begleitung zuständig.
Andreas Singler, November 2007