Florence Griffith-Joyner – Sprinterin

Florence Griffith-Joyner, Sprinterin USA
verstorben 1998

Flo-Jo wie Florence Griffith-Jyner genannt wurde, lief im Vorfeld der Olampischen Spiele in Seoul 1988 auf 100 ;eter einen Weltrekord, der heute noch besteht. 1998 starb sie 38 Jahre alt an einem elpileptischen Anfall.
Um ihre läuferischen Leistungen rankten sich viele Dopingspekulationen, die nie bestätigt wurden. Aber nicht nur durch ihre sportlichen Leistungen war sie eine auffallende Persönlichkeit.

Die Journalisten Christof Gertsch und Mikael Krogerus gingen auf Spurensuche. Ihnen gelang ein interessantes Portrait von Florence Griffith-Joyner über ihre Rolle als Sportlerin hinaus.

Der Artikel erschien in der Süddeutschen Zeitung vom 2.8.2024:

10,49 Sekunden
Was Florence Griffith -Joyner 1988 auf 100 Metern gelang, hat bis heute keine Frau erreicht. Danach war sie die berühmteste Sportlerin der Welt. Über eine Athletin, die einen scheinbar unsterblichen Rekord hinterlassen hat, und die Zweifel, die ihn bis heute umwehen.
Von Christof Gertsch und Mikael Krogerus

>>> Ein Podcast zu diesem Artikel und den zugrunde liegenden Recherchen.


Zitate aus dem Artikel:

… 10,49 Sekunden. Das ist der Weltrekord der Frauen über 100 Meter]. Er ist sechsunddreißig Jahre alt. Aufgestellt von einer Frau, die seit sechsundzwanzig Jahren tot ist, gestorben im Bett neben ihrer schlafenden Tochter.

Dies ist die Geschichte dieser 10,49 Sekunden. Es ist gleichzeitig die Geschichte einer Frau, die in Vergessenheit geraten ist. Dabei war sie mal die bekannteste Sportlerin der Welt, vielleicht sogar eine der bekanntesten Frauen der Welt. … Die Frau, von der hier die Rede ist, kannten 1988 fast alle, in den USA, in Deutschland, überall auf der Welt. …

Sie hieß Florence Griffith-Joyner.

Um sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren, muss man sich in einer nationalen Ausscheidung bewähren. In den USA gibt es dafür einen eigenen Wettkampf — die „Trials“. Für Olympia 1988 fanden diese Trials in Indianapolis statt. Es waren aber nicht irgendwelche Trials, denn es waren nicht irgendwelche Olympischen Spiele. Sie fanden in Seoul statt, in Südkorea, und es war das erste Mal seit den Spielen 1972 in München, dass wieder die Besten der Welt gegeneinander antraten.

1976 in Montreal hatten 28 Staaten, vor allem aus Afrika, die Olympischen Spiele aus Protest gegen die Apartheid-Regimes in Südafrika und Rhodesien boykottiert. 1980 in Moskau verzichteten die USA, China, Westdeutschland und viele mehr — insgesamt mehr als sechzig Länder — auf die Teilnahme aus Protest gegen den Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. England, Frankreich, Spanien und kurioserweise auch Afghanistan nahmen hingegen teil. 1984 in Los Angeles wiederum boykottierten die UdSSR und viele Ostblockstaaten die Spiele. Und nun, 1988, waren erstmals wieder alle dabei. Ein Jahr später würde der Eiserne Vorhang fallen. Es war also ein letztes großes Kräftemessen der beiden Blöcke, ein sportlicher Wettkampf, aber mit einem politischen Unterton, und beiden Seiten war klar: Wir werden alles tun, um zu gewinnen.

Die Favoritinnen, das war klar, mussten sich in diesem Viertelfinale [der Trials] nicht verausgaben, sie mussten  bloß ins Ziel kommen. Es war still im Stadion, aber nicht vor Anspannung, eher aus Langeweile. Dann ertönte der Schuss. … Die zweite Läuferin von rechts, Diane Williams, war beim Start am schnellsten, sie führte, aber schauen wir auf die Läuferin auf Bahn vier. Als Einzige trug sie ihre Haare offen, und als Einzige hatte sie auch keine kurze Laufhose an, sondern ein violettes Kostüm, mit einem langen und einem kurzen Hosenbein. Schnell hatte sie ihre Konkurrentin eingeholt. Sie lief anders als die anderen. Kraftvoller und zugleich eleganter. … Nach der Hälfte des Rennens passierte es dann: Als würde eine unsichtbare Kraft sie ziehen, wurde sie  immer schneller, der Vorsprung vergrößerte sich immer mehr, sie rannte über die Ziellinie, ohne abzubremsen, als würde sie immer weiterlaufen wollen, als könnte niemand sie aufhalten.

Die Uhr blieb stehen bei 10,49 Sekunden. Weltrekord. 27 Hundertstelsekunden schneller als die bisherige Bestzeit, aufgestellt von Evelyn Ashford. Über die 100 Meter, auf denen oft wenige Hundertstel über Gold, Silber oder Bronze entscheiden, waren das Welten.
… Florence Griffith-Joyner — kurz Flo-Jo, so als wäre der ganze Name zu lang — war die schnellste Frau, die es je gab.

[es gibt] fast nichts über Flo -Jo, keine Biografie, keine Netflix-Serie. Das ist schon erstaunlich, wenn man bedenkt, wie viele Bücher und Fernsehdokumentationen über Sportlerinnen — und vor allem: Sportler — existieren, die deutlich weniger erreicht haben. Zumal Flo-Jos Leben alles hergibt, was man sich als Geschichtenerzähler wünschen kann: Aufstieg, Fall, Rätsel.

Angefangen hatte dieses Leben mit einer schwierigen Kindheit. … Dee Dee, geboren als Delorez Florence Griffith am 21. Dezember 1959, war das fünftjüngste von elf Geschwistern. Ihre Mutter war Schneiderin, ihr Vater Elektriker. Die Familie war arm. Sie lebte in einer kleinen Stadt in der Mojave-Wüste, bis die Mutter ihren Mann verließ und mit den Kindern in die Jordan Down Projects zog, ein Sozialbau-Gebäudekomplex in Watts, einem berüchtigten Stadtteil im Süden von Los Angeles. Dee Dee war damals vier Jahre alt.

Am 11. August 1965, kurz nach dem Umzug  der Griffiths, brachen dort die Watts Riots aus, eine Art früher „Black Lives Matter“-Moment. Nach einer eskalierten Polizeikontrolle entlud sich die Frustration über die Aussichtslosigkeit als Afroamerikanerin und Afroamerikaner in einer rassistischen Gesellschaft. 14 000 Soldaten kamen zum Einsatz, eine knappe Woche später waren 34 Menschen tot und mehr als tausend schwer verletzt.  In diesem Umfeld wuchs das Mädchen, das zur schnellsten Frau der Welt werden sollte, also auf. In einem Milieu, in einer Gegend und in einer Zeit, in der die Erwartung an Afroamerikanerinnen ist, dass sie unsichtbar bleiben. Sie werden nicht gesehen, egal, was sie leisten.

Sie rannte auf der Straße gegen ihre älteren Geschwister an. Und sie war immer Erste. So erzählen es ihre Geschwister in einem privaten Film, den Flo-Jos Tochter Mary 2023 aufgenommen hat. Erst an der Highschool traf sie auf eine Gegnerin, die schneller war: Valerie Brisco. Die war es auch, gegen die Dee Dee ein paar Jahre später auf der größtmöglichen Bühne des Sports verlor: im 200-Meter-Finale der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles. Brisco gewann Gold, Griffith Silber.

Griffith [trat] danach zurück, sie jobbte in einer Bank und machte in der Freizeit ihren Freundinnen die Haare und Nägel. Ihre Bestzeiten zu dem Zeitpunkt: 10,99 über 100 und 22,04 Sekunden über 200 Meter. Ziemlich gut. Aber nicht außergewöhnlich. Drei Jahre später, im Frühling 1987, kam sie zurück. Angestachelt von ihrem Partner Al Joyner, Olympiasieger im Dreisprung 1984, den sie 1980 bei den Trials in Eugene kennengelernt hatte. Und der tat etwas Ungewöhnliches: Er gab seine Karriere auf, um die ihre zu ermöglichen.

Monatelang trainierte er sie, von früh bis spät, er schrieb „Goldmedaille“ an die Wände ihres Hauses. Und eines Tages geschah es: Sie besiegte ihn in einem 100 -Meter-Lauf.

In den fünfzehn Monaten zwischen dem Rücktritt vom Rücktritt und dem unglaublichen 10,49-Sekunden-Weltrekord bei den Trials in Indianapolis durchlebte Dee Dee, die seit der Heirat mit Al im Herbst 1987 Florence Griffith-Joyner hieß, noch eine zweite Metamorphose.

Sie veränderte sich nicht nur läuferisch und körperlich — mit Methoden, über die bis heute gestritten wird, sie wurde also nicht nur stärker und schneller. Sie änderte auch ihren Look und ihr Auftreten. Sie trug lange Fingernägel und selbstgenähte einbeinige Ganzkörperanzüge, für die sie berühmt wurde.

Plötzlich war sie mehr als eine Sprinterin, sie war eine Modeikone.

Als der TV-Kommentator am 16. Juli 1988 nur Augenblicke nach Flo-Jos Zieleinlauf schrie, dass niemand so schnell rennen könne, da erging es vielen ähnlich wie ihm. Aber niemand — oder: fast niemand — dachte damals an Doping. Doping wurde erst ein paar Wochen später zum Thema, in Seoul.

Damals in Indianapolis hatte der Zweifel eine ganz andere Ursache: eine meteorologische. Man weiß, dass der Wind einen großen Einfluss auf die Leistung im 100 –Meter Sprint hat. Manche Studien sagen, dass bereits ein Meter pro Sekunde Rückenwind die 100 -Meter-Zeitum eine halbe Zehntelsekunde verbessert. … Im Universitätsstadion in Indianapolis wurden an jenem Tag Windgeschwindigkeiten von fünf bis sieben Metern pro Sekunde gemessen. In Flo-Jos Viertelfinale aber zeigte die Windmessung 0,0 Meter pro Sekunde an. Wie konnte das sein?

Und noch Jahre später beschäftigten sich Wissenschaftler damit, der Weltverband überlegte sogar, den Rekord nachträglich zu annullieren. Aber die Messung war korrekt. Darauf besteht Peter Hürzeler ´[Chef von Swiss Timing] …  Bloß hatte der Wind, vermutet Hürzeler, dem Reglement ein Schnippchen geschlagen. Denn dieses sieht — bis heute! — vor, dass der Wind nur an einer Stelle gemessen werden muss, genau nach 50 Metern irgendwo neben der Bahn. Und eben nicht auf der Bahn und auch nicht über die ganzen 100 Meter verteilt. Wahrscheinlich, sagt Hürzeler hatte Florence Griffith-Joyner Glück. „Und Glück kann man nicht beeinflussen.“ Mit Glück meint Hürzeler eine Laune der Natur, Wind aus allen Richtungen, der sich genau im richtigen Moment so drehte, dass Flo-Jo zu Beginn des Rennens Rückenwind hatte, den das Windmessgerät aber nicht registrierte. Und zum Schluss des Rennens vielleicht nochmals. Das würde erklären, warum nicht nur Flo-Jo so erstaunlich schnell war, sondern auch mehrere andere Teilnehmerinnen dieses Laufs Bestzeiten liefen, an die sie später nie mehr herankamen.

Zwei Monate nach Indianapolis begannen in Seoul die Olympischen Spiele. … Flo-Jos Hauptkonkurrentinnen an diesem Tag: die Bulgarin Anelija Wetschernikowa, die Amerikanerin Evelyn Ashford und die Ostdeutsche Heike Drechsler.

In Seoul traf sie dann auf Flo-Jo, das Duell spielte sich vor dem Hintergrund der großen Weltpolitik, der  historischen Umbrüche ab: hier Drechsler, Vertreterin des real existierenden Sozialismus, dort Flo-Jo, Galionsfigur des Pursuit of Happiness. … Auch äußerlich, zwei komplett unterschiedliche Wesen. „Wir waren damals ja eher konservativ in unseren Outfits“, erzählt Drechsler, „sie war komplett anders.“  Flo-Jo war die auffällige, schillernde Erscheinung, die immer eine Entourage um sich hatte, die sich nie aufwärmte, als bräuchte sie das gar nicht, und die so unglaublich schnell war. Und gegen die, sagt Drechsler, „keine eine Chance hatte, keine“.

Flo -Jo rannte in der glühenden Mittagshitze die 100 Meter in 10,54 Sekunden, gewann mit fast drei Zehntelsekunden Vorsprung. Das ist über 100 Meter eine Ewigkeit. [Weil sie diesmal zu viel Rückenwind hatte, wurde die Zeit allerdings nicht in die Bestenlisten aufgenommen.] Das Publikum war begeistert, die Medienleute waren skeptisch.

In Seoul kamen zum ersten Mal die Gerüchte auf, die sie bis über ihren Tod hinaus begleiten sollten. Das lag zunächst gar nicht mal so sehr an ihr, sondern an einem Kanadier: Zwei Tage nach Flo-Jos Sieg wurde bekannt, dass Ben Johnson, der Sieger im 100-Meter-Finale der Männer, positiv auf Stanozolol getestet worden war, ein anaboles Steroid.

Ben Johnson war der erste wirklich große [Doping-]Skandal. … Und mit Ben Johnson veränderte sich auch der Blick auf Flo-Jo. Dabei war ihre Probe negativ, wie auch alle anderen Proben, die sie im Verlauf ihrer Karriere abgab. In Seoul und auf der ganzen Welt redeten alle nur noch über Doping, sie aber ließ sich nicht beeinflussen, lief wenige Tage später über 200 Meter Weltrekord in irren 21,34 Sekunden — 37 Hundertstelsekunden schneller als Heike Drechsler und deren DDR-Nationalkaderkollegin Marita Koch, die bis zu den Spielen den Weltrekord gehalten hatten. Auch Flo-Jos Zeit über 200 Meter ist bis heute ungeschlagen.

Als sie die Ziellinie überquerte, lächelte sie, wie man es bei Sportlerinnen und Sportlern selten sieht.

Einige Tage später lief sie wieder. Mit der 4×100-Meter-Staffel holte sie Gold. Dann lief sie auch noch die 4×400-Meter Staffel. Viele 100-Meter-Sprinterinnen reden davon, auch die 400 Meter zu laufen, die längste Sprintstrecke, aber gefühlt ist das eine komplett andere Disziplin, die man ganz anders trainieren muss. Flo–Jo machte es. Und auch in diesem Rennen lief sie vorne mit, die US-Staffel kam als zweite ins Ziel.

Drei Monate später verkündete sie ihren Rücktritt. Da war sie gerade einmal 29. „Ich bin seit fünf Monaten müde“, sagte sie gegenüber Journalisten. „Früher kam ich ins Hotel und habe trainiert, egal, wie spät es war. Das war eine Regel. Jetzt will ich nur noch schlafen.“

Aber war das wirklich die ganze Erklärung?

In den zwei Jahren darauf geschahen jedenfalls zwei Dinge: Sie brachte eine Tochter zur Welt, Mary. Und sie wurde des Dopings verdächtigt — von einem US-amerikanischen Sprinter, der behauptete, ihr Wachstumshormone besorgt zu haben, und von der US-Sprintlegende Carl Lewis. Im Glauben, das Gespräch bleibe ein Hintergrundgespräch, sagte Lewis vor Studierenden, er wisse, dass Flo-Jo gedopt habe. Ein paar Tage später bat er um Entschuldigung für die Äußerungen, er wisse doch nichts.

Doch nun waren die Vorwürfe überall, im Fernsehen, in den Zeitungen, „Griffith Joyner Accused Of Buying Growth Drug“ schrieb die New York Times.

Als im November 1989 in Berlin die Mauer fiel, sickerten noch mehr Neuigkeiten in die Welt. Ein staatlich gefördertes Dopingsystem im Osten wurde aufgedeckt. Die Leichtathletikwelt konnte bald nicht mehr so tun, als gäbe es kein Doping, nicht nach den Dopingskandalen im Ostblock, nicht nach Ben Johnson.

Auch im Westen flogen immer mehr Sportlerinnen und Sportler auf. Sechs der acht Männer, die in Seoul das Finale über 100 Meter gerannt waren, wurden früher oder später überführt — auch Carl Lewis, der Flo-Jo des Dopings verdächtigt hatte. Eine ganze Generation von Sprinterinnen, Baseballspielern und Footballprofis: gedopt. Bald hieß es, wer in den Achtzigerjahren Weltklasse war, war vermutlich gedopt. Bloß Flo-Jo konnte man es nicht nachweisen.

War sie gedopt? Oder war sie die große Ausnahme? Sicher ist: Sie war rechtzeitig zurückgetreten.

1998, fast genau ein Jahrzehnt nach den Goldmedaillen in Seoul, starb Florence Griffith-Joyner im Schlaf. Bei einem epileptischen Anfall erstickte sie; neben ihr lag ihre siebenjährige Tochter.

Ihr Tod befeuerte sofort wieder die alten Gerüchte: War sie an den Folgen ihres Dopings gestorben? Ihre Obduktion ergab zwar keine Hinweise auf Medikamentenmissbrauch, trotzdem blieb das Misstrauen auch über ihren Tod hinaus.

Auch für diese Recherche wollten nur wenige Zeitzeugen über sie sprechen; von ungefähr 300 angefragten Wegbegleitern antworteten nur dreißig. … Die Sportwelt behandelte sie so, wie man überführte Sportlerinnen und Sportler behandelt. Mit dem kleinen Unterschied, dass man ihre Weltrekorde nicht löschen konnte. Und so lebt sie — zumindest als Zahl — weiter.

Einmal angenommen, es stimmt, was die — damals noch vergleichsweise rudimentären — Dopingkontrollen sagen, und Flo-Jo war tatsächlich sauber: Gibt es für diese 10,49 Sekunden eine andere Erklärung?

Ein Telefonat mit Steffen Willwacher, Professor für Biomechanik an der Hochschule Offenburg. Er beschäftigt sich in seiner Forschung damit, wie sich Menschen fortbewegen, also wie sie laufen, sprinten und springen. Bittet man ihn, Flo-Jos Laufstil zu analysieren, kommt er zu einem erstaunlichen Schluss: Florence Griffith-Joyner hatte schon 1988, vor sechsunddreißig Jahren, einen Laufstil, der … erst heute wirklich als modern gilt, weil die meisten Sprinterinnen ihn erst heute beherrschen. Es ist das sogenannte Vor-dem-Körper Laufen, was zunächst kontraintuitiv klingt, weil man sich lieber weit abstoßen, also „hinter dem Körper laufen“ will. … So ein Laufstil erfordert unendlich viel Kraft. Heike Drechsler beschreibt es heute so: „Ihre letzten dreißig Meter waren einfach der Wahnsinn, dieser hohe kraftraubende Kniehub und trotzdem so eine große Lockerheit im Sprint.“ Flo -Jo wirkte nie verkrampft, lächelte sogar. Wie war das möglich? Das fragte sich auch Drechsler damals: „Da kamen natürlich auch Fragen auf: Was ist ihr Geheimrezept?“ …

Aus rein wissenschaftlicher, aus biomechanischer Sicht: Ist es überhaupt möglich, dass eine Sprinterin innerhalb von fünfzehn Monaten eine halbe Sekunde besser wird, wie Flo -Jo es schaffte?

„Es ist nicht undenkbar”, sagt Steffen Willwacher. „Denn Sprinttraining ist auf gewisse Weise eine Kunst. … Das bedeutet, dass es rückblickend eigentlich unmöglich zu sagen ist, ob Flo-Jo gedopt war oder nicht.“

Wenn man fragt, was von Flo-Jo geblieben ist, dann muss man sagen: ihre Zeiten. Was aber eigentlich von ihr geblieben ist, sind zwei gänzlich andere Dinge: ihr Stil und ihre Vorbildfunktion.

Beginnen wir mit dem Stil.

Es wäre natürlich falsch, die Läuferinnen in Paris als Töchter von Florence Griffith-Joyner zu beschreiben, aber sie sehen ihr verdammt ähnlich. Lange Fingernägel, bunte Outfits. Aber da ist noch mehr. Die stellvertretende College-Dekanin Leah Hollis forscht an der Penn State University in Pennsylvania zu den Themen Rasse, Geschlecht und Leichtathletik und hat in einem wissenschaftlichen Paper mit dem Titel „Track Cleats and High Heels: BlackWomenCoaches ResistingSocial Dominance in College Sports“ („Nagelschuhe und High Heels: Wie schwarze Trainerinnen sich gegen soziale Dominanz im College-Sport wehren“) auch über die Bedeutung von Flo-Jo für die Black Community geschrieben.

Ein Gespräch über Zoom. … „Wenn ich an Flo-Jo denke, denke ich an ihre Leistung, an ihre Disziplin, aber auch an ihre Haltung, wie sie in der Öffentlichkeit [selbstbewusst] auftrat“, sagt Hollis. …  „Für mich als schwarze Frau ist es wichtig, andere schwarze Frauen zu sehen, die es geschafft haben‘. „Nehmen wir Serena Williams‘ sagt Hollis, „ich sehe nicht nur ihre Leistung, ich sehe ihre Disziplin. Und wenn ich sehe, wie sie in den Medien verleumdet wurde und sie trotzdem ihre Haltung nicht verliert, dann hilft mir das als afroamerikanische Frau. Ich nehme mir ein Beispiel an ihr, wie man dem Feuer widersteht, wie man diesen unfairen Kategorisierungen widersteht, wie man sich wehrt, und zwar auf eine Art und Weise, die respektvoll ist.“ Und in diesem Zusammenhang seien Frauen wie Flo-Jo wichtige Vorbilder.

Das vorherrschende Narrativ über Flo-Jo drehte sich um ihr Äußeres.Wie so oft, sagt Hollis, bei schwarzen Frauen, die etwas erreichen,  bei der ehemaligen Außenministerin Condoleezza Rice etwa ging es um ihre Konfektionsgröße, obwohl das nichts mit ihrem Amt zu tun hatte. Bei Michelle Obama wiederum, einer brillanten Juristin, galt ihr Intellekt oder ihre Präsenz als zu stark für die amerikanische Öffentlichkeit, und man „verpackte sie als Muttermaterial“, sagt Hollis. Aber Flo-Jo habe sich diese Reaktion der Mehrheitsgesellschaft zu eigen gemacht, sie selbst geformt, indem sie diese Kostüme und diese langen Nägel hatte.

Es war, sagt Hollis, ein sorgfältig kreiertes Image aus dem Verständnis heraus, „dass schwarze Frauenkörper leider noch immer als Ware betrachtet werden“.

Was heißt das alles jetzt? Höchstwahrscheinlich war Flo -Jo gedopt. Höchstwahrscheinlich hatte sie unzulässigen Rückenwind.

Aber höchstwahrscheinlich wird sie eben nicht für ihren Fabelweltrekord in Erinnerung bleiben, sondern für die Tatsache, dass sie sich als Afroamerikanerin traute, sie selbst zu sein.

Bloß sieht die Öffentlichkeit, die Sportwelt oft immer nur das eine oder das andere: Entweder ist man Heldin oder man ist Lügnerin. Dabei kann es sehr gut sein, dass Flo -Jo beides war.